De dicto

Montag, 31. März 2008

"Das Beharren des Dalai Lama auf Gewaltlosigkeit ist keine naive Träumerei, sondern die einzig sinnvolle Strategie, um Tibet zu retten. Das Volk hat an seiner Spitze den entschiedensten Realpolitiker, den man sich denken kann."
- Frankfurter Allgemeine Zeitung, Pico Iyer am 31. März 2008 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Auch wenn man die Rolle des Dalai Lama, vorallem seine friedfertige Forderung nach einem selbstständigen Tibet, welches nebenher seine eigene Machtposition stärken und eine Form klerikal-esoterischen Totalitarismus beherbergen würde, nicht als sinnvolles Ziel erkennen kann, bleibt festzuhalten, dass seine Friedfertigkeit - die also nicht uneigennützig, aber vernünftig im Rahmen der Bestrebungen - lobenswert ist. Zumindest dann, wenn wir für einen kurzen Moment so tun, als sei uns ein selbstständiges und sich dann frei nennendes - frei wird der Dalai Lama und seine Junta sein - Tibet erstrebenswert. Die befohlenen Gewalttätigkeiten der chinesischen Administration seien hier ausgeschlossen, wenngleich sie durchaus zu verurteilen sind. Dies erkennt die FAZ durchaus richtig, durchaus im Sinne aufgeklärter Humanität. Man kann also festhalten, dass die FAZ eine radikale Friedensliebe, absolute Gewaltlosigkeit als einzig gangbaren realpolitischen Weg attestiert.

Hier drängt sich die Frage auf: Wenn diese Form radikaler Linientreue, gemessen an den eigenen Werten, die nicht egoistische Tendenzen befriedigen, sondern zum Wohl aller gereichen sollen, als realpolitische Vernunft bezeichnet wird, warum ringt sich die FAZ dann nicht dazu durch, die aus ihrer Sicht radikalen Sichtweisen der LINKEN als Charakterstärke herauszustellen und nicht, wie es immer wieder der Fall ist, als ewiggestrige und damit verwerfliche und zu verdammende Sozialromantik? Freilich ist die LINKE keine Friedensbewegung, freilich ist sie - und das entgeht der bürgerlichen Presse andauernd - eine kapitalistische Partei, aber mancher LINKER hält sich sogar stur an die Werte, für die er einst bereit war, in einer Partei einzutreten. Doch diese Zeitgenossen, obwohl sie Frieden, Gerechtigkeit und Ausgleich fordern und anstreben, werden von der FAZ als unverbesserliche Tagträumer verunglimpft, die scheinbar noch nicht begriffen haben, dass das Einstehen für eigene Werte nur dann sinnvoll und gewollt ist, wenn es nichts kostet. Denn Frieden und Freiheit kosten nichts, aber ein ausgleichender Sozialstaat, Teilhabe aller am Gemeinwohl schon.

Man ist dazu geneigt, auch der FAZ eine gehörige Portion esoterischer Veranlagung zu unterstellen. Der Dalai Lama tritt dort - wie so oft in den westlichen Medien - als lächelnder Großvater auf, der unterschwellig egomanischen Esoterikergeschwafel Pate stehen soll. Irgendwann einmal in einer Nation, die als Hochburg gewaltlosen Zusammenlebens aufgewertet sein wird, auch wenn innerhalb der Staatsgrenzen die eigene Bevölkerung unter der Knute der buddhistischen Mönche zu leiden hat. Auf dem Dach der Welt thront dann der Herr über all jene in der Welt, die von der "Sei-gut-zu-Dir-selbst-Dialektik" und der "Tue-ohne-Rücksicht-was-Du-willst-Esoterik" begeistert sind. Die FAZ-Lobpreisung auf den Realpolitiker Tenzin Gyatso mag oberflächlich gerechtfertigt sein, ist aber letztendlich die typisch ressentimentgeladene Pro-Tibet-Berichterstattung, wie sie uns seit Jahren bekannt ist.

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Sit venia verbo

Freitag, 28. März 2008

"Welch ein fürchterliches Buch ist das Corpus Juris, die Bibel des Egoismus. Wie die Römer selbst blieb mir immer verhaßt ihr Rechtskodex. Diese Räuber wollten ihren Raub sicherstellen und was sie mit dem Schwerte erbeutet, suchten sie durch Gesetze zu schützen; deshalb war der Römer zur gleicher Zeit Soldat und Advokat."
- Heinrich Heine -

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In nuce

"Hartz IV wirkt wie eine Stilllegungsprämie menschlicher Schaffenskraft. Manche, die arbeiten könnten, werden träge und antriebsarm. Sie sehen ihren Lebenssinn nur noch darin, Kohlehydrate in sich hineinzustopfen, sich ihr tristes Dasein mit Alkohol schön zu trinken oder vor dem Fernseher zu hocken." - Hier offenbart sich, mit welch positiven Menschenbild der Neuzugang der CDU gesegnet ist. Wahrlich: Oswald Metzger paßt hervorragend in das christliche Lager. Die Armen- und Arbeitslosenverwaltung, die den Namen desjenigen Widerlings trägt, der sie erdacht hat, bereitet also den Betroffenen ein ausreichendes Einkommen. So paßt es dem grün-bourgeoisen Aufwiegler in den Kram, so redet er sich sein windiges Weltbild gerecht. Und gleichzeitig wird dem mit Reichtümern gesegneten Bezieher von ALG2 die Empfängnisverhütung nicht erstattet. Aber für Abtreibungen kommt man natürlich auf. Doch so weit dürfte es doch gar nicht erst kommen, denn unproduktive Menschen sollen gefälligst nicht beischlafen! Winkt hier der bourgeoise Neid, selbst weniger Zeit für sexuelle Handlungen zu haben? Beischlafneid? Wenn es aber dann der Erwerbslose doch wagen sollte, sich sexuell zu ertüchtigen, wenn dabei gar Nachwuchs ins Haus steht, dann finanziert man selbstredend die Abtreibung. Welche Gesellschaft empfängt schon Kinder von Alkoholleichen und wandelnden Kohlehydratbeuteln mit offenen Armen?

Entbürokratisierung. Eines der Schlagwörter der Reformer. Dies impliziert beim unbedarften Bürger, dass er künftig keine Zettelschlachten beim Ausfüllen von Formularen zu bestreiten hat, sich weniger mit humorbefreiten Sachbearbeitern herumschlagen muß, weniger sinnlose Auflagen zu erfüllen hat. Doch weit gefehlt! Ein entbürokratisiertes Gemeinwesen, so wie es den Reformern vorschwebt, soll ein Gemeinwesen sein, in dem der Unternehmer keine Rücksicht mehr auf lästige Umweltauflagen oder kostenintensive Arbeitsschutzmaßnahmen nehmen muß. Dann könnte es so schmerzhaft ausgehen, wie unlägst in Italien: "In Italien sterben täglich Menschen an ihrem Arbeitsplatz. Die drei großen Gewerkschaften wollen eine Gesetzesreform und Arbeitsschutzbestimmungen durchzusetzen. In der Nacht vom 5. Dezember 2007 bricht im Kaltwalzwerk der Thyssen-Krupp-Niederlassung in der Fiat-Stadt Turin ein kleines Feuer aus. Das geschieht öfters in dem Werk, das bald stillgelegt werden soll. Die Arbeiter, die wie so oft Überstunden machen, nehmen routiniert die Feuerlöscher von der Wand. Doch die sind diesmal leer. Vor ihnen explodiert ein mit Öl gefülltes Rohr. Vier Arbeiter verbrennen bei lebendigem Leib, drei weitere erliegen später ihren Verbrennungen. Die italienische Staatsanwaltschaft ermittelt derzeit über die Ursachen des tödlichen Unfalls und ob die Unternehmensspitze, die schon wegen des scharfen Konflikts um das Werk in Terni in die Schlagzeilen gekommen war, gegen die Sicherheitsauflagen verstoßen hat." - Aber natürlich würde kein Reformer zugeben, dass man solcherlei Zustände haben möchte. Wo denkt man denn hin! Reformer sind doch keine Unmenschen! Nur ein wenig Kosten sparen, ein bißchen zurückstecken, wenn es um Sicherheit und dergleichen Schnickschnack geht. Ein bißchen entbürokratisieren eben...

Natürlich ist das Verhalten Chinas zu verurteilen; natürlich will man für China nicht Partei ergreifen. Ein Regime, welches Oppositionelle mundtot macht, gelegentlich auch physisch tötet, welches für kleinste Vergehen Todesstrafen in Aussicht stellt, welches Demonstranten mit Panzern überrollt, hat keine Anteilnahme verdient. Fadenscheinig sind aber auch jene Zeitgenossen, die nun mit tibetanischen Flaggen solidarisch sein wollen; die plötzlich so tun, als wäre die Gewalt in Tibet a) einseitig und b) einzigartig auf dieser Welt. Hier fühlen sich nicht selten esoterisch angehauchte Zeitgenossen inspiriert, dem großen Land esoterischer Lehre beistehen zu wollen. Welch gefährliches Gedankengut in der Esoterik steckt, so wie es uns aktuell beispielsweise in Form "telemedialer Kanäle" ins Haus flattert; welcher Keim jeglicher rassischen Irrlehre darin herrscht; welche Wurzel des Nationalsozialismus letztlich darin ruhte, formuliert Claudia Barth folgendermaßen: "Die Esoterik bietet die individuelle Möglichkeit, sich von der Masse der Menschen abzusetzen, sich selbst als Wissenden zu erhöhen, sich aber gleichzeitig der persönlichen Verantwortung zu entledigen. Ihre Anhänger werden dazu angehalten, alle Ereignisse der Welt, insbesondere soziale Ungerechtigkeiten und Rassismus, als richtig zu akzeptieren. In dieser Weise wirkt der esoterische Irrationalismus systemstützend." - Innerhalb der Grünen finden sich viele mehr oder weniger esoterisch Inspirierte. Kein Wunder also, dass man sich dermaßen ins bürgerliche Lager begeben hat, bürgerlicher wurde als die Bürgerlichen; kein Wunder, dass bei den Grünen herrenmenschliche Unpersonen wüteten, die dann zur Union wechselten. Die verkappte, gelegentlich offen zur Schau getragene Esoterik, ist mit Sicherheit auch einer der Gründe, weshalb man meint so ungeniert von alkoholisierten Kohlehydratfressern sprechen zu dürfen.

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Knipst den Schwarz!

Donnerstag, 27. März 2008

"Frau N. ist an beiden Unterarmen tätowiert." oder "Die Kräfte Frau E. und Frau F. unterhalten sich, auch vor Kunden, auf polnisch miteinander!" - Mustergültige Berichterstattung, wie sie von Detekteien an die Lidl-Verantwortlichen weitergegeben wurden. Nicht nur das Verhalten der Lidl-Angestellten am Arbeitsplatz wurde systematisch überwacht, sondern auch deren Privatleben fand Einzug in die Akten. Ja, selbst das Liebesleben der Angestellten soll dem Konzern am Herzen gelegen haben. Kurzum: Die Nachricht über dieses kriminell anmutende Vorgehen Lidls schlug gestern ein wie eine Bombe. Die Medien und deren Leser, Hörer und Zuseher gaben sich überrascht, taten so, als habe man es nicht einmal geahnt.

Doch bereits im Jahre 2004 erhielt der Lidl-Konzern den BigBrotherAward: Einen Negativpreis, der an jene Behörden, Firmen, Organisationen und Personen verliehen wird, die sich besonders engagiert in der Aufhebung der Privatsphäre oder dem Datenschutzabbau hervorgetan haben. Die BBA-Jury begründete 2004 folgendermaßen:
"Den BigBrotherAward 2004 in der Kategorie "Arbeitswelt" erhält die

Lidl Stiftung GmbH & Co. in Neckarsulm

für den nahezu sklavenhalterischen Umgang mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Lidl zeigt, dass gar nicht immer neueste Technik gebraucht wird, um Menschen unter Kontrolle zu halten und sie als Leibeigene ohne Rechte und ohne Privatsphäre zu behandeln. Der "Fall Lidl" zeigt andererseits, dass "Datenschutz" nicht bedeutet, "Daten" um ihrer selbst willen zu schützen, sondern dass es um den Schutz von Menschen und ihren Persönlichkeitsrechten geht."

Bereits damals wußte man also über die Machenschaften bei Lidl Bescheid. Der öffentliche Aufschrei war aber verhalten. Was damals bereits berichtet wurde, überbietet die gestrigen Meldungen um ein Vielfaches. Dort hiße es, dass man Mitarbeitern Abmahnungen ins Haus schickte, weil man bei neun Toilettengängen 72 Minuten vertrödelte, was gemeinhin 27 Minuten über dem Soll (sic!) läge. Eine derartige Zeiterfassung war möglich, weil ich Saum des Arbeitskittels ein RFID (Radio Frequency Indentication) eingenäht war. Von tschechischen Filialen wurde berichtet, dass jeglicher Toilettengang von vornherein verboten war. Menstruierenden Mitarbeiterinnen wurde aber das Privileg der Entledigung von einem menschlichen Bedürfnis erteilt, sofern sie gut sichtbar ein Stirnband trugen, um sich ihres Blutflusses bemerkbar zu machen. Der eingeweihte Kunde wußte also jederzeit, welche der freundlichen Damen gerade Periodenschmerzen durchzumachen hatte und, sofern er Protokoll darüber führt, wann eine Dame überfällig gewesen wäre. Der Vorgesetzte konnte in dieser Weise ebenso eine Schwangerschaft berechnen. Da darf es nicht wundern, dass sich die tschechische Presse empörte. Man muß sich ja geradewegs in die Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts zurückgeversetzt gefühlt haben, als in dort Deutsche - wenn auch im größeren Stile - ebenso herrschten.

Weiter hieß es dort: Private Treffen von Mitarbeiterinnen außerhalb der Arbeitszeit seien ein Anlaß zur Kündigung. Scheinbar sind Lidl-Mitarbeiter Leibeigene des Konzerns, über die man frei verfügen kann - auch in deren Freizeit. Die Konzerns-Leibeigenen werden auch Kreuzverhören ausgesetzt, isoliert in einem Hinterzimmer unter Druck gesetzt, bis sie diverse Anschuldigungen zugeben, um endlich dieser Hölle zu entkommen. In einem konkreten Fall sollte eine Mitarbeiterin zugeben, Pfandgeld gestohlen zu haben. Nach drei Stunden Psychofolter unterschrieb sie ihre Kündigung. Dass sie jahrelang unbezahlte Überstunden leistete, war in jenem Moment belanglos. Wohl auch, weil es ebendiese Frau war, die sich zuvor erfolgreich dafür einsetzte, dass ihre und ihrer Kolleginnen Überstunden auch bezahlt werden. Der gemeine Lidl-Leibeigene hat desweiteren in seiner Freizeit für das Unternehmen zu schuften. Dienstantritt ist um 6:00 Uhr, am Abend wird gut und gerne bis kurz vor 22:00 Uhr gearbeitet. Lohn erhält er aber nur zwischen 8:00 und 20:00 Uhr. Desweiteren: Taschen- und Jackenkontrollen, Kofferraum- und Handschuhfachkontrollen Hausbesuche bei kranken Mitarbeitern, Babyphone-Abhören von Telefonaten oder privaten Gesprächen in Aufenthalts- und Pausenräumen.

Nun hat sich Lidl gestern prompt brav entschuldigt. Eine Entschuldigung, die nur als zynischer Höhepunkt dieses Theaters begriffen werden kann; eine Entschuldigung, die sich vor allem von der Kameraüberwachung distanziert, aber die anderen menschenverachtenden Machenschaften ausklammert. Indem man den dummen Zeitgenossen mimt, der nicht wußte, dass dieses Handeln strafbar und unmoralisch sei, der nun geläutert aus seiner Unwissenheit erwacht, glaubt man das Unternehmen reinwaschen zu können. Detekteien wird man demnach nicht mehr engagieren, aber die alltäglichen Repressionen werden sicher nicht Geschichte sein.

Diese Entschuldigung, so unaufrichtig sie auch gemeint sei, ist nicht ausreichend. Man sollte das Talionsgesetz wieder ausgraben; sollte dem Herrn des Lidl-Konzerns das antun, was er in seinem Namen täglich den Menschen antun läßt. Dieter Schwarz - so heißt dieser Mann - legt viel Wert auf seine Privatsphäre; es existiert kein zugängliches Foto von ihm, weil er die Öffentlichkeit meidet. Man sollte ihm auflauern, Fotos von ihm schießen, sein Privatleben ausschnüffeln, es den Zeitungen zum Fraß vorwerfen, seine Nachbarn aushorchen, seine Biografie nach Skandalösem durchforsten. "Enteignet Springer" war einst, heute soll es heißen "Knipst den Schwarz"! Man verhelfe dem guten, alten Talionsgesetz zur Wiedergeburt - Auge um Auge und Zahn um Zahn eben...

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Moralischer Aktionismus

Dienstag, 25. März 2008

Die Demonstrationen in Tibet waren gewaltfrei. Das sieht zumindest der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Jacques Rogge so. Und obzwar Demonstrationen immer traurige Veranstaltungen seien, so fährt er fort, sehe er in den dortigen Vorfällen "keine Verbindung zum Olympischen Geist". Deutlicher ausgedrückt: Für einen Olympiaboykott gibt es "keinen glaubwürdigen Impuls". Kein Sterbenswörtchen davon, dass Gewalt eben doch angewandt wurde, dass westliche Berichterstatter aus Tibet ausgewiesen wurden, um von dieser Gewalt nicht berichten zu können. Rogge bastelt sich seine eigene Ausgangslage zusammen, um "seine" Veranstaltung zu verteidigen - koste es, was es wolle. Und damit diese Verteidigung auf einem breiten Fundament steht, spielt man die Geschehnisse in Tibet nicht nur als unwesentliche innenpolitische Belange Chinas herunter, sondern macht deutlich, dass ein Olympiaboykott nicht im Sinne der öffentlichen Meinung sei. Denn wenn man suggeriert, dass ganze Volksmassen hinter einer Entscheidung stehen, dann ist es nicht das IOC alleine, welches sich mit einem Verbrecherregime verbandelt, sondern dann sind alle Menschen daran beteiligt.

Überhaupt ist die gesamte Verlogenheit in dieser Frage keine aktuelle. Bereits im Juli 2001, als Peking zum Austragungsort der Olympischen Spiele des Jahres 2008 erkoren wurde, mahnten kritische Stimmen, dass eine solche Veranstaltung, ausgetragen in einer Diktatur, zur Farce schlechthin, zum Gradmesser politischer Verlogenheit verkommen würde. Man dürfe sich nicht zu kulant zeigen mit einem Unterdrückerstaat, der Menschen wegen kleinster Delikte per Genickschuß tötet. Freilich konnte man schon damals nicht erwarten, dass die Vereinigten Staaten sich am Kavaliersdelikt staatlicher Todesstrafen aufhängen würde, um Peking als Austragungsort zu diskreditieren und überhaupt hängen ja alle Industrienationen mit glühendem Herzen und prallen Taschen an China, welches als Markt und Standort nicht vergrault werden darf. Und einzig um dieses Interesse geht es, wenn man sich in diesen Tagen nicht gegen die Olympischen Spiele in einem Land mit Ein-Parteien-System entscheiden kann; und selbstverständlich haben die Erklärungen, warum man sich dazu nicht durchringen kann, ein edles Motiv zu bergen oder einen nihilistischen Standpunkt einzunehmen, wonach durch einen Boykott ja keinem Tibeter geholfen sei. Dass die Frage des Boykotts keine Frage ist, die man am Bestreben der Tibeter festmachen kann, sondern übergeordnet, d.h. fundamentalistischer betrachten muß, findet in der öffentlichen Diskussion beinahe gar nicht statt. Denn es geht nicht um Tibeter, sondern um alle Menschen die innerhalb Chinas drangsaliert, bevormundet, indoktriniert, gedemütigt, mundtot gemacht, gefoltert und getötet werden. Diese Frage hätte nicht erst im März 2008 erhoben werden dürfen, sondern spätestens im Juli 2001. Besser noch viel früher.

Bezeichnend ist zudem die Argumentation des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), wonach der Sport nicht imstande sei, etwas zu leisten, was Vereinte Nationen und Regierungen nicht zustande bekommen. Ein Boykott sei also vollkommen sinnlos. Oder anders: Der Sport habe keine Verantwortung zu tragen, ist sich letztendlich nur Selbstzweck und natürlich Grundvoraussetzung für ein derartig kommerzielles Großereignis. Wie sich diese Argumentation doch von der gängigen Praxis unterscheidet: Da ist man täglich damit befaßt, orientierungslose Jugendliche in sportliche Aktivitäten zu treiben, unterstützt zuweilen diese Absicht mit Medienkampagnen und erklärt dabei, wie wichtig der Sport doch sei, um jungen Menschen Charakter angedeihen zu lassen, damit sich ihnen auch gesellschaftliche Perspektiven eröffneten. An dieser Stelle will der Sport verantwortlich sein, will die Gesellschaft insofern bereichern, dass man junge Menschen ertüchtigt, formt und leistungsfähig trimmt. Doch wenn kapitale Sportinteressen berührt werden könnten, wenn dringend benötigte Gelder verworfen werden sollen, dann kollaboriert man auch mit dem Verbrechen. Und solange sich das Verbrechen hinter nationaler Gesetzgebung versteckt, muß man nicht einmal ehrlich zugeben, dass man sich mit Räubern und Mördern abgibt.

Noch eine Komponente westlicher Verlogenheit tut sich auf: Als im Jahre 1996 die Olympischen Spiele in den Vereinigten Staaten, in Atlanta stattfanden, hat man die Obdachlosen der Stadt in Busse gesteckt, um sie aus der Sichtweite internationaler Kameras zu verfrachten. Diese sublimierte Form wohlstandsstaatlicher Menschenverachtung fand damals kaum Kritiker. Wobei natürlich das Abwiegeln sämtlicher menschenverachtender Maßnahmen, ob nun einst in Atlanta oder nun in Tibet, als Konstante dieser nach Massenveranstaltungen gieren Gesellschaft bewertet werden darf. Überhaupt fragt man sich, warum die Herrschaften in den ausschlaggebenden Positionen nicht einfach ehrlich sind und zugeben, dass ihnen das Leben von ein Paar Delinquenten in chinesischen Gefängnissen und die Gewalt an den Tibetern gleichgültig sind.

Kurzum: Die Diskussionen bezüglich eines Boykott sind sinnlos, weil es aus ethischer Sicht - und dies ist die Grundlage aller Boykottsdiskussionen -, die Austragung einer internationalen Sportveranstaltung in China nie hätte geben dürfen. Deshalb ist alles Boykott-Geschwafel blinder Aktionismus, welches so schnell verschwinden wird, wie es im politischen Alltagsgeschehen auftauchte. Auch hier zeigt sich erneut: Fundamentale Kritik hätte die Ereignisse in Tibet vorweggenommen, hätte schon vorher vom Boykott gesprochen. Pragmatischer Aktionismus, der kein Fundament kennt, der nur das Jetzt und den Nutzen einer Tat sehen will, ist unglaubwürdig, nutzlos und im höchsten Maße nihilierend.

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Sit venia verbo

Montag, 24. März 2008

"Wir alle sind das, was die Umstände unseres Lebens aus uns gemacht haben, und wenn unsere Mitmenschen damit nicht zufrieden sind, ist es an ihnen, Mittel und Wege zu finden, uns besser zu machen. Dass moralische Mißbilligung am besten zu diesem Ziele führt, ist eine große Seltenheit."
- Bertrand Russell, "Moral und Politik" -

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In nuce

Freitag, 21. März 2008

Immer wenn die BILD nicht mehr weiter weiß, zieht sie das Aushängeschild aktionistisch-reformatorischer Lobbyarbeit in Deutschland heran - Professor Sinn -, der den Menschen begreiflich zu machen hat, wie schlecht es um die staatliche Rente bestellt ist. So erfährt der Leser dann, dass eine kräftige Renten-Erhöhung unerschwinglich, der romantische Gedanke vom Generationenvertrag ohnehin moribund und Korrektur notwendig ist. Außerdem werden sowieso nicht mehr viele Menschen von dieser Rente leben können. Da diese vier "Weisheiten" des Lobbyisten Sinn partout nicht angenommen werden wollen, reiht er einfach noch einen fünften Punkt seiner exklusiven Erkenntnis an: "Die Politik verharmlost das Problem!" - So einfach kann man es sich machen, wenn man mit seinen Thesen alleine dasteht...
Wie groß die Verachtung des Springer-Konzerns gegenüber hohen Renten bzw. die gesamte umlagefinanzierte Rente, gegen Gewerkschaften und Arbeitskampf, gegen Arbeitnehmer und deren Belange ist - kurz: gegenüber allem, was den Bürgern als qualitative Aufwertung ihres ärmlichen Daseins gelten kann -, läßt sich an der haarsträubenden Schlagzeile zu einem tragischen Todesfall ablesen. Da ein Mädchen, welches üblicherweise mit der U-Bahn oder dem Bus zur Schule und wieder heim fuhr, aber diesmal aufgrund des BVG-Streiks zum Fahrrad greifen mußte, von einem LKW überfahren wurde, war der Schuldige schnell gefunden: "Tod durch BVG-Streik!" - So teuflisch können also demokratisch verbürgte Rechte sein. An den "Händen Ver.di's" klebt nun Blut.

"5 Cent pro Zeile - Lohndumping bei vielen Tageszeitungen. Inzwischen werden flächendeckend in Deutschland Journalisten als Leiharbeiter beschäftigt. Reporter auf Zeit - deutlich unter Tarif bezahlt, ohne Chance, Kontakte in der Region zu verfestigen, mit der Angst, durch unliebsame Berichte anzuecken und den Job zu verlieren. Die Folge: Qualitätsverlust. Die Verleger, die gern die Bedeutung ihrer Tageszeitungen für die Demokratie beschwören, lagern gleichzeitig auch ganze Redaktionen aus." - Das ist die unabhängige Berichterstattung und die Meinungs- und Pressefreiheit, wie man sie den Lesern immer wieder versichert. Zensur findet freilich nicht statt, d.h. es sitzt kein staatlich beauftragter Zensor in den Redaktionen. Der hungernde Bauch, die wackeligen Wohn- und Mietverhältnisse, immense Kosten in allen Bereichen des Alltags nötigen den Journalisten dazu, sich selbst zu zensieren, um seines erbärmlichen Postens nicht ledig zu werden. Insofern hat der Kapitalismus einen neuen Menschentypus erschaffen. Einen Typus, der keines Zensors mehr bedarf, der nicht, wie einst Karl Marx, als er noch Redakteur der Rheinischen Zeitung war, mit solch einem durchstreichenden Charakter um jede Zeile zu ringen hat. Die Aussichtslosigkeit, die Gewissheit am schreibenden Markt nicht mehr Fuß fassen zu können, wenn man erst das Brandzeichen des Freigeists auf der Stirn prangen hat, mäßigen den Schreibenden schon im Vorfeld, lassen ihn zum gefügigen Handlanger herrschender Interessen werden. Wen kümmern schon Ungerechtigkeiten, Menschenverachtung, Morde in der Dritten Welt, wenn man die eigene Miete vielleicht bald nicht mehr bezahlen kann?

Die religiösen Hardliner finden sich nurmehr im Islam. So jedenfalls könnte man vermuten, wenn man die allgemeine Berichterstattung verfolgt. Das christliche Abendland habe diese Pfade der Intoleranz längst verlassen, gerade auch im aktuellen Pontifikat, in dem ein deutscher Papst für Annäherung, Dialog und Toleranz stehe. Doch in der neu formulierten Karfreitagsfürbitte für die alte lateinische Messe klingt es dann schon nicht mehr so tolerant: Dort soll für die Juden gebetet werden,
„damit sie Jesus Christus erkennen, den Heiland aller Menschen“. Natürlich begehren hier Rabbiner auf, fühlen sich an längst vergangene Tage antijudaistischer Prägung zurückerinnert. Und derart schwadronieren die Gläubigen dieser Welt um ihre Märchenwesen und säen Unfriede und Aggression. Diese Art Dummheit ist sicherlich keine islamspezifische.

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Vorwärts zur MAPOLA

Donnerstag, 20. März 2008

Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sich der allgemeine Privatisierungswahn auch im Bereich der Kinderbetreuung niederschlägt. Erschreckend ist dennoch, dass unser kostbarstes Gut - so nennt die Politik in schmeichlerischer Wortwahl gerne unsere Kinder - in die Hände eines Unternehmens geraten soll, welches Kinder als Objekt seiner eigenen Profitmaximierung betrachten muß, will es denn am freien Markt nicht untergehen. Einmal mehr fordert die Union einen Vorstoß zur Förderung privater Betreuungseinrichtungen; einmal mehr wird ersichtlich, wie sich Konservatismus mit sprödem Zeitgeist anreichern läßt, wenn es nur dem totalen Markt dienlich ist. Was einst der Weihrauch im Kopfe des christlich motivierten Zeitgenossen verdrehte und erweichen ließ, schafft heute der freie Markt und seine schwammigen Dogmen von Privatisierung und Deregulierung.

Es ist wohl hierzulande keine Dystopie mehr, sich ein Bildungswesen zu ersinnen, welches von Konzernen wie McDonalds oder Coca-Cola unterstützt wird. Anstatt Schuluniform wird das Firmenlogo sichtbar am Leib getragen; statt der üblichen Pausenmilch gibt es koffeinhaltige Limonade, statt Pausenbrot einen Hamburger zum bezahlbaren Schülerpreis; wer die "guten und edlen Absichten" des Sponsors mit Füßen tritt, wer kein Firmenlogo dulden mag oder lieber doch Milch trinkt, macht sich zum Schulfeind. Was sich hier als Szenario ausnimmt, ist an manchen Schulen der Vereinigten Staaten Alltag. Dort wird Sponsorenabtrünnigkeit zuweilen auch mit Schulverweis und Suspendierung geahndet. Fälle, in denen Schüler T-Shirts mit dem Logo des Sponsors zu tragen haben, gibt es bereits in Deutschland. Hierbei wird gewiss keine Rücksicht auf das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 (1) GG) genommen.

Und in dieser Weise hievt sich auch die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) ins Bildungswesen. Diese arbeitgeberfinanzierte Organisation schickt sich an, Unterrichtsmaterial für die Themengebiete "Arbeitsmarkt, Bildung, Selbstständigkeit, Soziale Sicherung, Schlanker Staat und Neue Arbeitswelt" in die Hauptschulen zu schleusen. Man wird nie müde, die eigene Ideologielosigkeit in Szene zu rücken. Die neoliberalen Thesen zeichnen sich ja nur durch Pragmatismus, nicht aber durch ideologische Ansatzpunkte aus, heißt es da unisono aus dem Munde arbeitgeberorientierter Initiativen. Doch in gleicher Weise wie einst die großen, unheilschwangeren Ideologien des 20. Jahrhunderts, wissen auch die Reformer, dass man über dem Weg engagierter Jugendarbeit zum Erfolg gelangt. Indem man junge Menschen bedrängt, ihnen erzählt, dass nur der schwache Staat Stärke und nur der anpassungsfähige Bürger Rechte habe, züchtet man sich einen neuen Menschentypus heran. Die Kaderschmieden kommunistischer Färbung und die aktiven Jugendprogramme im nationalsozialistischen Deutschland haben sicher andere Imperative in die Köpfe junger Menschen geprügelt, wie es die neoliberale Schule heutzutage tut. Aber das Prinzip, die Jugend mit immer gleichen Thesen geistig zu ermatten, sie damit form- und prägbar zu machen, ist kein neues, sondern ewiges Gebot jeglicher Massenideologie.

In ähnlicher Weise fungiert SAP-Gründer Hector, der der Karlsruher Universität eine "Rekordspende" von 200 Millionen Euro zukommen ließ. Um dem verliehenen Eliteprädikat gerecht zu werden, bedarf die Karlsruher Universität elitärer Professoren, die nicht ganz billig zu haben sind. Hier soll Hectors Spende greifen: Als eine Art Kombilohnmodell sollen die Karlsruher Professoren staatliche Bezüge nebst hectorianischer Generosität auf ihr Konto überwiesen bekommen. Es versteht sich von selbst, dass man nicht nur bezahlen, sondern auch Einfluß geltend machen will: "Über die Vergabe entscheidet ein Kuratorium mit Vertretern aus Wirtschaft und Universität." - Auch hier soll sich also ein Wandel von einer Bildungseinrichtung zu einer wirtschaftlichen Zuchtanstalt vollziehen. Relevant sind vorallem betriebswirtschaftliche Studiengänge, in denen die Wirtschaftseliten (und solche die es gerne mal wären) an die Interessen ihrer baldigen Brotgeber herangeführt werden. Was einst die NAPOLAs (Nationalpolitische Erziehungsanstalten) waren, sollen heute die MAPOLAs (Marktwirtschaftspolitische Erziehungsanstalten) übernehmen.

Das Bildungswesen wird mehr und mehr einem wirtschaftlichen Totalitarismus unterworfen, welcher sich dasjenige zur Maxime erhebt, was dem Markt dienlich ist. Selbst die "herrschende Philosophie" (sofern man sie so bezeichnen kann) wirft sich devot zu Boden, um den Zeitgeist zu seinem (Un-)Recht kommen zu lassen. Nur deswegen lassen sich quasi-philosophische Ansatzpunkte erdenken, die da lauten: Wettbewerb ist solidarisch. Hier vollzieht sich ein philosophischer Rückfall ins Mittelalter. Seinerzeit diente die Philosophie dazu, die kirchlichen Glaubensdogmen hinreichend zu begründen und sie auf eine profanere Stufe zu stellen, um damit die letzten Zweifler gefügig zu machen.

Nicht mehr Jura, BWL, VWL, Journalistik etc. wird an den Universitäten gelehrt, nicht mehr Mathematik, Deutsch, Geschichte an den Hauptschulen. Es wird der homo oeconomicus gelehrt, in all seiner Facettenlosigkeit, in all seiner beamtengleichen Trockenheit, in all seiner Treue zum System; es wird der Apparatschik gelehrt, der Agenda-Mensch mit all seinem elitär-vulgären Leistungsprinzip; es wird unser über Jahrhunderte entstandenes Bildungsideal geleert.

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Sit venia verbo

Mittwoch, 19. März 2008

"Dieses Aufgehen der Ideologie in der Wirklichkeit bedeutet jedoch nicht das "Ende der Ideologie". Im Gegenteil, in einem bestimmten Sinne ist die fortgeschrittene industrielle Kultur ideiologischer als ihre Vorgängerin, insofern nämlich, als heute die Ideologie im Produktionsprozeß selbst steckt. In provokativer Form offenbart dieser Satz die politischen Aspekte der herrschenden technologischen Rationalität. Der Produktionsapparat und die Güter und Dienstleistungen, die er hervorbringt, "verkaufen" das soziale System als Ganzes oder setzen es durch. Die Mittel des Massentransports und der Massenkommunikation, die Gebrauchsgüter Wohnung, Nahrung, Kleidung, die unwiderstehliche Leistung der Unterhaltungs- und Nachrichtenindustrie gehen mit verordneten Einstellungen und Gewohnheiten, mit geistigen und gefühlsmäßigen Reaktionen einher, die die Konsumenten mehr oder weniger angenehm an die Produzenten binden und vermittels dieser ans Ganze. Die Erzeugnisse durchdringen und manipulieren die Menschen; sie befördern ein falsches Bewußtsein, das gegen seine Falschheit immun ist. Und indem diese vorteilhaften Erzeugnisse mehr Individuen in mehr gesellschaftlichen Klassen zugänglich werden, hört die mit ihnen einhergehende Indoktrination auf, Reklame zu sein; sie wird ein Lebensstil, und zwar ein guter - viel besser als früher -, und als ein neuer Lebensstil widersetzt er sich qualitativer Änderung. So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden Sie werden neubestimmt von der Rationalität des gegebenen Systems und seiner quantitativen Ausweitung."
- Herbert Marcuse, "Der eindimensionale Mensch" -

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Bloß kein Neid...

Dienstag, 18. März 2008

Um die staatliche Rente weiter zu diskreditieren, muß den Bürgern deutlich gemacht werden, dass uns der gesamte umlagefinanzierte Koloss teuer zu stehen kommt. Die Reformer schlagen ständig in die gleiche Wunde, schwadronieren um eine angebliche Unbezahlbarkeit und erregen sich an diversen kapitalgedeckten Modellvorschlägen. Diese seien dann für den Bürger eher finanzierbar, nicht weil dies tiefgreifende Analysen bestätigen, oder empirische Erfahrungen in Chile und England verifiziert haben, sondern einzig und alleine, weil die Reformer diese These axiomsgleich in den Raum werfen.

In dieser Weise ist auch ein "Bericht" der heutigen BILD-Zeitung zu interpretieren. Man will den Menschen Glauben machen, dass selbst eine kleine Rentenerhöhung zum Einsturz des Rentengebäudes führen würde. Dort heißt es: "Politiker-Aufstand gegen höhere Rente!" - Natürlich läßt es sich die BILD nicht nehmen, in dieser Diskussion in die Rolle des großen Sittenwächters zu schlüpfen. Voller Entrüstung, in große Lettern gepackt, deutet die BILD an, dass mancherlei Politiker den Rentnern nicht mal 1,1 Prozent mehr gönnt. Danach reiht man aber brav auf, was diese Herrschaften meinen unter die Leute bringen zu müssen. Um wen es sich bei den vier wackeren Abgeordneten handelt, wird nur oberflächlich behandelt, ist aber wert in aller Kürze angerissen zu werden.

Freilich dürfen wir von leuchtenden Gestalten sprechen, die mit gutem Beispiel vorangehen. Noch im November letzten Jahres haben sich drei Abgeordnete dieser illustren BILD-Runde gegen 1,1 Prozent entschieden, stattdessen entschied man sich für 9,4 Prozent. Die gewissenhaften BILD-Herren Stefan Müller, Michael Fuchs und Rainer Wend stimmten selbstverständlich für die Erhöhung der Diäten. Da sprach man natürlich nicht von der fehlenden Finanzierbarkeit oder entwarf das Angstbild eines Kolosses auf tönernen Füßen. Der vierte im Bunde, bzw. im BILDE heißt Kurt Lauk, ist Europaabgeordneter der CDU und hatte damit nicht die Ehre, sich per Bundestagsmandat die eigenen Bezüge selbst zu erhöhen. Dennoch gehört er in die Riege der auserlesenen Herren, die weinsaufend vom Wasser predigen. Christlich motiviert ist in seinem Weltbild wenig, wie man annehmen muß. Vor einigen Jahren verlieh ihm die European Business School eine Professur "honoris causa". Kein Wunder, denn Sätze wie folgende prädestinieren natürlich für Auszeichnungen im Namen der herrschenden wirtschaftlichen Schule: „Die Gesamtdauer der Hartz IV-Leistungen muß vom 25. bis zum 65. Lebensjahr insgesamt auf eine noch festzulegende Anzahl von Jahren begrenzt werden, damit sich jeder darauf einstellen kann. Bei Arbeitsverweigerung muß man kürzen auf das Niveau von Mindestlohn in vielen Ländern um uns herum, also auf rund 400 Euro unter dem ALGII." Oder: "Der Zahnersatz muss komplett aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung heraus. Jeder Bürger weiß, dass irgendwann eine Zahnarztersatzbehandlung auf ihn zukommt. Er kann sich also rechtzeitig darauf einrichten.“

Natürlich unterschlägt die BILD, welch feines Bonzentum sich da für ein Niederhalten der Rentenbezüge ausspricht. Das liegt vorallem daran, dass die Menschen doch zu Neiddebatten neigten und genau diese Form von Debatte fürchtet man anzustoßen. Schwappt erstmal so eine Debatte über das Land, dann wird man aber nicht müde, dies als eine archaische Form der Diskussion abzutun, als Bösartigkeit des "kleinen Mannes", als unwürdiges Treiben, welches in einer Debatte einfach keinen Platz habe. Neid sei keine Grundlage, so verkünden die herrschenden Kreise und ihre Reformer, um formal miteinander zu neuen Einsichten zu gelangen. Und außerdem sei es das Privileg der Eliten, sich selbst besser zu stellen, weil sie ja die Leistungsträger dieser Gesellschaft sind.
Dass der Neid aber im Weltbild der Reformer, einer der Antriebsgründe ihres Systems ist, wird dabei ausgeklammert, peinlich verschwiegen. Der Neid ist ein Grundpfeiler der kapitalistischen Massengesellschaft, treibt Menschen zu mehr an, als sie eigentlich zu geben bereit sind. Er richtet das Augenmerk einer zufriedenen Person auf neue Ebenen persönlichen Strebens. Aber dieser Neid, der oft - allzuoft - dieses System schmiert, es am Laufen hält, ist ja ein erwünschter. Die andere Form des Neides aber, die man Neid nennt, die aber in Wirklichkeit das feine Gespür der Masse ist, sich gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit zu artikulieren, wird diabolisiert, um somit die gegebenen Zustände zu bewahren.

Da Unzufriedenheit und das Gefühl von Zurücksetzung nicht per Glücksdroge in den Griff zu bringen sind, bleibt nur der Weg der Diskreditierung. Wer also nun jene kritisiert, die die 1,1 Prozent den Rentnern nicht vergönnen und diese Kritik auch noch mit deren Selbsterhöhung der Diäten in Verbindung bringt, der driftet ab in eine Diskussionskultur, die dem Geist der herrschenden political correctness nicht entspricht. Man disqualifiziert sich selbst, weil man sich außerhalb der engen Grenzen einer aufoktroyierten Form politischen Streites begibt. In diesem Sinne ließe man den Kritiker bestenfalls über vermeintliche Sachzwänge und Argumente innerhalb der Reformesdialektik zu Wort kommen. Die Bezüge der feinen Herrschaften haben aber nichts in einer Diskussion zu suchen, in der über das Wohl und Wehe von Menschen gerungen wird. Je mehr Menschen sich dieser Beschneidung einer provokativen und deutlichen Streitkultur unterwerfen, desto weniger Gegenwehr haben solche Herren - wie in diesem Falle die BILD-Rentenwächter - zu erwarten, desto niedriger fällt die Hemmschwelle.

Und so scheinentrüstet sich die BILD-Zeitung, um den Lesern das Gefühl zu geben, es stünde der moralisch einwandfreie Springer-Verlag auf ihrer Seite. Man wird den vier Moralisten aus den Kadern bürgerlicher Parteien sicher nicht die eigene Selbstbereicherung unter die Nase reiben. Immerhin sind sie Teil einer bereits jahrelangen BILD-Kampagne zur endgültigen Destabilisierung der staatlichen Umlagefinazierung. Auch in der Form des Sittenwächters lassen sich solcherart Kampagnen führen...

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Ein Hoch auf den Fundamentalismus

Sonntag, 16. März 2008

Schon mehrmals sprach ich es in diesem Rahmen an: Kritik ist nur sinnvoll, wenn es sich um eine Kritik handelt, die an die Wurzel geht, d.h. als radikale Kritik (radikal vom lat. radix; Wurzel, Ursprung) auftritt. Dem "unverbindlichen Gemosere und Genörgel" ist also Fundamentalkritik entgegenzusetzen, um den herrschenden Zu- und Mißständen auf den Grund zu gehen, deren Ursprung zu erblicken. An anderer Stelle fand ich dazu einige denkwürdige Worte, die es wert sind, zitiert zu werden:
"Man muß schon einen radikal-emanzipatorischen Ansatz bis zur Fundamentalkritik durchdenken, sonst bleibt alles Kritisieren am Bestehenden nur unverbindliches Gemosere und Genörgel so nach dem Motto “Das System an sich ist ja ganz prima - aber diese Ampelschaltung da drüben, die werde ich mit jeder Faser meines Herzens… und wenn es das letzte ist, was ich tue!” Solcherart teutonisch-radikalismusverneidenden Fatal-Fanatismus kenne ich zuhauf. Der hat auch den garnicht netten kleinen Nebeneffekt, daß man dann immer Sündenböcke sucht, die anstelle des Systems, das ja ne geile Einrichtung ist, schuld an allen Unbilden sind, z.B. Fremde, das Ausland, diverse Verschwörungen, die “Gottlosen” (bei Hohmann) oder - bei AFL - der als Nettostaatsprofiteur denunzierte arme HartzIV-Empfänger. Das äußert sich gerne auch rabiat, radikal ist es nicht. Dann lieber den Dingen auf den Grund gehen und bei der Analyse keine Heiligen Kühe schonen."
Man darf anzweifeln, ob es sich um eine typisch "teutonische" Eigenart handelt. Halbherzigkeit findet sich gewissermaßen in allen modernen Industriegesellschaften. Nur in dieser Halbherzigkeit ist man dort radikal, d.h. man eignet sich diese Form unausgereifter Kritik als Wurzel des Handelns oder Unterlassens an. Die Herren dieses angeblich alternativlosen Systems gebärden sich gleich dem Weltaufsichtsrat Mustafa Mannesmann, der in sophistischer Weise versucht ist, dem Wilden Michel die "schöne neue Welt" (Aldous Huxley) schmackhaft zu machen. In Herbert Marcuses Gesellschaftsanalyse ("Der eindimensionale Mensch") wird außerdem offenbar, dass beide Systeme - er machte seinerzeit keinen Unterschied zwischen dem westlichen Kapitalismus und dem östlichen Kommunismus - darauf abzielen, den Menschen klarzumachen, dass man zwar einen teueren Preis für diese Form zivilisatorischen Lebens bezahlt, dass es dieser Preis aber wert ist, wenn man die fröhlich-bunte Warenwelt (oder das, was man für bunt hielt und hält) mit ihrer Auswahl und ihrem Angebot betrachtet.

Es ist nicht alleine der "deutschen Seele" anzulasten, sich zwar rabiat, aber nie radikal zu äußern. Dies sind gesellschaftliche Erscheinungsformen, die dort zuhause sind, wo Sattheit und Sorglosigkeit produziert werden. Selbst wenn nicht alle an dieser Sattheit und Sorglosigkeit teilhaben, wird eine mögliche Abdeckung dieser Sehnsüchte impliziert - die ja durch Fleiß, Engagement und devotem Mundhalten befriedigt werden können -, und ein Denken geformt, welches sich nicht fundamentalkritisch auszudrücken weiß. Das System sucht sich ein Surrogat, welches die Schuld auf sich zu nehmen hat. Andersdenkende und -aussehende kommen hier zu ihrem Unrecht.
Aber vielleicht nährt sich diese Erkenntnis, wonach die halbherzige Kritik, die sich "bestenfalls" in rabiate Rundumschläge äußert, auch aus der deutschen Geschichte. Vielleicht sind es gerade auch zwei berühmte Beispiele deutschen Widerstandes im Zweiten Weltkrieg, die scheinbar erkennbar machen, dass man zwar Kritik üben kann, aber doch falsche Motive zur Grundlage gemacht hat. Zwar zündete man im populärsten Auswuchs deutschen Widerstandes gegen Hitler eine Bombe, aber Fundament der damaligen Kritik an Hitler war nicht dessen Kriegswahn oder Menschenverachtung, sondern die Aussicht, den damals bereits langjährigen Krieg doch noch zu verlieren. In Zeiten militärischen Erfolges regte sich der Widerstand nicht, sondern riet sich selbst ein abwartendes Verhalten an. Niederschlag fand diese Halbherzigkeit in den Nachkriegsplänen des deutschen Widerstandes. Hierzu sei Anne Frank zitiert:
"Der beste Beweis ist doch wohl, daß es viele Offiziere und Generäle gibt, die den Krieg satt haben und Hitler gerne in die tiefsten Tiefen versenken würden, um dann eine Militärdiktatur zu errichten, mit deren Hilfe Frieden mit den Allierten zu schließen, erneut zu rüsten und nach zwanzig Jahren wieder einen Krieg zu beginnen. Vielleicht hat die Vorsehung mit Absicht noch ein bißchen gezögert, ihn aus dem Weg zu räumen."
Ähnlich verhält es sich im Falle des zivilen Widerstandes. Gerade anhand der Weißen Rose wird dies offensichtlich. Freilich trat man als deutsches Gewissen auf, verurteilte die Verbrechen des Regimes, lehnte sich gegen die Ermordung von Juden und Slawen auf, doch das Motiv dieses Handelns liegt nicht so tief, nicht so radikal, wie man das gemeinhin darstellt. Hierzu sei der Historiker Sönke Zankel zitiert:
"Im fünften Flugblatt heißt es: Wenn sich die Deutschen jetzt nicht gegen Hitler wehren, dann kommt die "gerechte Strafe", die nach Scholls Meinung auch die Juden erfahren hätten. Die Juden hätten also bereits die "gerechte Strafe" erhalten, die nun den Deutschen drohte: das von aller Welt ausgestoßene Volk zu sein. [...] (Man) konnte sehr wohl gegen die Ermordung von Juden protestieren, und dennoch antijüdisch denken. Scholls Philosophieprofessor Kurt Huber etwa, der auch hingerichtet wurde, war eindeutig Rassist, auch wenn er gegen die Ermordung der Juden war. Interessant sind zwei weitere Punkte: Selbst der Gutachter der Gestapo spricht von einem "modifizierten Antisemitismus" der Flugblattschreiber. Zudem fällt auf, dass die sogenannte Judenfrage in den privaten Dokumenten und auch in denen der Gestapo kein Thema war. Sie schien die Studenten nicht besonders zu interessieren. [...] Es ging ihnen vor allem um ihre persönliche Freiheit und den Protest gegen die antichristlichen Nationalsozialisten. Auch die Sorge um Deutschland spielte eine Rolle. Und es ging ihnen um die Ablehnung der Masse, die sich für sie im Nationalsozialismus widerspiegelte. Sie dachten elitär, besonders im Sommer 1942, als ihre Flugblätter noch mit die "Weiße Rose" überschrieben waren. Sie benannten sich nach den verbannten Adeligen während der französischen Revolution. Der Name "Weiße Rose" stand insofern gerade nicht für Demokratie."
Insofern kann man beide Formen des Widerstandes gegen Hitler als einen Kampf von Einäugigen gegen Blinde deuten. Von fundamental-radikaler Kritik am Wesen des Nationalsozialismus, an Hitler als Person, an seinen Schergen und am Krieg als Verbrechen findet sich kaum eine Spur. Hier läßt sich spekulieren, dass es gerade die Berühmtheit dieser beiden historischen Fälle ist, die die Vermutung entstehen ließ, wonach die Halbherzigkeit ein deutsches Kind sei, zumal beide nicht gegen ein radikales, sondern gegen ein rabiates Regime auftraten. Und wenn wir auch gerne in die deutsche Vergangenheit blicken, um des Deutschen Obrigkeitssinn und dessen Gehorsam erklärbar machen zu wollen, so bleibt doch die Historie von der banalen Kritik ausgeklammert. Indem die Kritik eben nicht mehr in historische Sphären geordnet wird, so analysierte Marcuse, beraubt sie sich selbst eines wichtigen, vielleicht überlebenswichtigen Pfeilers. Marcuse: "Die Vermittlung der Vergangenheit mit der Gegenwart entdeckt die Faktoren, welche die Fakten hervorbrachten, die die Lebensweise determinierten und Herren und Knechte einführten." - In einer Gesellschaft also, die sich mehr und mehr vom Historischen abwendet, die das Hier und Jetzt als einzigen messbaren Wert für Entscheidungen oder Kritiken deutet, entbehrt jeglichen Fundaments, kann also nicht fundamentalistisch sein; kennt keine Wurzeln, kann also nicht radikal sein. Um somit vom "unverbindlichen Gemosere und Genörgel" abzukommen, bedarf es einer Besinnung auf geschichtliche Wurzeln.

In der Vergangenheit liegt folglich das Gerüst, welches benötigt wird, um ein radikalkritisches Verhalten an den Tag zu legen. Nur über den Weg vergangenheitsbewußter Gegenwart ist die Zukunft modifizierbar. Radikale Kritik ist damit historisch vermittelte Kritik; ungeschichtliche Kritik bleibt
"unverbindliches Gemosere und Genörgel". Dass sich dabei aber nicht die allselig machende Wahrheit einstellt, läßt sich schon alleine daran bemessen, dass sich Dominik Hennings und mein Radikalismus in vielen Punkten unterscheiden. Aber dies soll an dieser Stelle nicht geklärt werden...

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In nuce

Freitag, 14. März 2008

"Wenige Monate vor den Olympischen Spielen in Peking haben die Vereinigten Staaten China von der Liste der schlimmsten Menschenrechtsverletzer gestrichen. China habe im vergangenen Jahr einige wichtige Polizei- und Justizreformen begonnen, erklärte das Außenministerium in seinem am Dienstag vorgelegten jährlichen Menschenrechtsbericht." - Freilich kann es für die Vereinigten Staaten kein Maßstab sein, einen Menschenrechtsverletzer am Vollzug der Todesstrafe zu messen. Alleine dass Todesurteile nun von höheren Instanzen überprüft werden können, reicht aus, um China eine weiße Weste zu verpassen. Immerhin muß man der Welt ein modernes China präsentieren. Ein China, welches ein fairer und seriöser Geschäftspartner ist; zwar mordend, aber dennoch im Kapitalismus angekommen. Solange man einen Absatzmarkt gewinnt und sichert, solange man Arbeitskraft billig ausbeuten kann, läßt sich auch der staatlich legitimierte Mord ertragen.

Arbeitslosen wird in diesem Lande zu wenig Flexibilität nachgesagt. Sie würden nicht für Hungerlöhne arbeiten und sind zudem nicht bereit, für einen Arbeitsplatz umzuziehen. Dass Menschen bei einem solchen Umzug sämtliche sozialen Bindungen aufgeben, ihr Recht auf Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet verwerfen, interessiert die Apologeten des Sklavenmarktes nicht. Kunta Kinte wurde ja auch nicht gefragt, ob es ihm genehm wäre "überzusiedeln". Der DIW-Präsident ergießt sich in Peinlichkeiten, wenn er davon fabuliert, dass Arbeitslose sich nun sputen müßten, damit sie den Aufschwung (sic!) nicht verpassen. Die übliche Propaganda fehlt selbstverständlich auch nicht, wenn er Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als das Teufelswerk schlechthin darstellt. Den Gipfel der Dummheit stellt aber seine Implikation dar, wonach die Menschen in diesem Lande nicht flexibel genug seien. Denn wahr ist: Jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland arbeitet für einen Armutslohn. Und dies ist sicher kein Anzeichen von Antriebslosigkeit.

Der Linksruck ist ein Märchen. Daran gibt es - wie ich hier schon oft zur Sprache brachte - wohl kaum Zweifel. Ein Schwein bleibt auch dann ein Paarhufer, wenn es sich Mensch nennt. In diesem Sinne bleibt die LINKE eine Partei der Mitte, auch wenn sie sich mit einer Richtungsangabe im Namenszug in die Parlamente hievt. Und dass in der LINKEN ein konservativer Kern steckt, läßt sich alleine daran feststellen, dass man sich nicht auf die Seite der streikenden BVG-Mitglieder stellt. Da heißt es: "Die Altbeschäftigten der BVG »führten ihren Arbeitskampf noch immer mit der Westberliner Mentalität der Überversorgten und hätten offenbar nicht verstanden, wie privilegiert sie seien«, zitierte der Tagesspiegel vom Montag aus Kreisen der Linkspartei-Führung."

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Zu viel DDR?

Immer dann, wenn von staatlicher Bevormundung die Rede ist, ist man neuerdings schnell mit dem Schreckgespenst der DDR zur Hand. Allerdings, und diese Einschränkung ist bedeutsam, beschränkt sich die Kritik an der Bevormundung seitens des Staates auf den sozialen und wirtschaftlichen Bereich, auf jenen Sektor, der die Teilhabe aller am Gemeinwohl gewährleisten soll. Die Verkündigung einer vermeintlichen DDRisierung findet nur dort statt, wo von höherem Arbeitslosengeld, längeren Bezugsdauern, kürzeren Arbeitszeiten, höheren Löhnen und dergleichen mehr geschwärmt wird. Hier soll nicht abgehandelt werden, ob die DDR als leuchtendes Beispiel eines Bevormundungsstaates sinnvoll erscheint, wenn auch erwähnt werden muß, dass die Bevormundung im westlichen Teil Deutschlands sicher nicht geringer war, wenngleich sie eine andere Form, zuweilen ein liberaleres Deckmäntelchen präsentierte und weiterhin präsentiert. Eine andere Einsicht drängt sich in diesen Tagen auf: In jenen Bereichen des alltäglichen Lebens, in denen die Ökonomie vordergründig keine Rolle spielt - hintergründig spielt die Ökonomie in jedem Bereich die maßgebende Rolle -, ist es mit den Vorwürfen, wonach das Wesen der DDR über diesem Lande schwebe, vorbei. Schlimmer noch: Wo sich festgefahrene, traditionell zementierte, religiös motivierte, evolutionistisch eingespielte Sichtweisen auftun, da wird auch von Seiten der Liberalen nicht mehr die Freiheit von der staatlichen Bevormundung formuliert. Oder anders gesagt: Kann man denn ernsthaft glauben, dass die FDP-Liberalen das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Inzestverbot) kritisieren würde? Glaubt man denn, dass in diesem speziellem Falle Westerwelle auftritt und mit bedrückter Miene verkündet, dass "wir zu viel DDR" in diese Berliner Republik hinübergerettet haben?

So entschied sich also das Bundesverfassungsgericht für althergebrachte Moral, verneinte die sexuelle Selbstbestimmung und argumentierte sich um Kopf und Kragen. In der Begründung heißt es nämlich, dass solche Bindungen Familie und Gesellschaft schaden können, außerdem seien Kinder aus inzestuösen Verhältnissen besonders krankheitsgefährdet und da es zu "Rollenüberschneidungen" käme, würde dies das im Grundgesetz geschützte Bild der Familie zerstören. Grundsätzlich ist die Entscheidung also auf moralische Wertvorstellungen geschultert, auch wenn ein Hinweis auf mögliche Erbschäden mit in die Urteilsfindung hineinfloß. Aber sagt uns das Bundesverfassungsgesetz damit nicht auch, wenngleich indirekt, dass ein behindertes Dasein zu vermeiden wäre? Hat behindertes Leben unterbunden zu werden, ist damit weniger wertvoll? Wenn dem so ist, weshalb verbietet man dann Spätgebärenden nicht die Niederkunft bzw. warum sanktioniert man den Beischlag älterer Frauen nicht grundsätzlich? Weshalb dürfen dann behinderte oder mit Erbkrankheiten belastete Menschen Kinder zeugen und dieses angeprangerte Risiko tragen? Bei all der Diskussion muß auch erwähnt werden, dass diese klassische Theorie - wonach der Inzest die "Volksgesundheit" gefährde, weil er Erbschäden verursache - wissenschaftlich nicht verifiziert ist. Da mag mancher Wissenschaftler mit Ressentiments an die Sache herangegangen sein, um seine persönliche Aversion in ein wissenschaftliches Fundament zu gießen...

Es sei darauf hingewiesen, dass sich dieses Gerichtsurteil auf "freiwilligen Inzest" bezieht. Also auf jene Form, die ohne Zwang und Bedrängen vollzogen wird; die beide Partner bejahen. Hier wurde nicht der Inzest abgehandelt, wie man ihn in einigen Familien findet, in denen der Vater ein erpreßtes, erzwungenes, mit Gewalt erwirktes sexuelles Verhältnis zu seiner eigenen Tochter unterhält. Auf eine traditionelle Moral, deren wohl ein evolutionistisches Motiv innewohnt, verbaut man mündigen Erwachsenen das sexuelle Begehren. Denn sanktioniert wird nicht, weil man die Frucht dieser Liebe als Beweis aufführen kann, sondern alleine der Beischlaf ist schon strafbar. Aber nur dieser. Schmusen, Oral- und Analverkehr und jede sexuelle Praktik, die nicht erfordert, dass das männliche Glied in die weibliche Scheide eingeführt wird, dürfen straffrei vollzogen werden. Ja, geschwisterliche Liebe dürfte sogar durch künstliche Befruchtung zu Kindern kommen, nur nicht durch den natürlichen Beischlaf. Dieser ist aber erlaubt, wenn es sich um Stiefgeschwister oder um gleichgeschlechtliche Geschwister handelt.
In einem konkreten Fall einer solchen Liebe ist der männliche Partner zwar sterilisiert, kann also keine Kinder mehr zeugen, wird aber dennoch bestraft, wenn er mit seiner Schwester schläft. Einige Gefängnisaufenthalte hat er bereits hinter sich, nur weil er liebt, weil er sexuell begehrt. Juristisch gesprochen: Am Tage seiner Haftentlassung macht er sich wahrscheinlich schon wieder strafbar - ein unbelehrbarer Wiederholungstäter.
Freilich mag das in den meisten Fällen nicht beweisbar sein. Aber aus der Ferne bleibt das Schlafzimmer ein suspekter Tatort, ein Ort der Sünde. Die Liebe der beiden Partner bleibt aus jeglichem gerichtlichen Sanktionieren ausgeschlossen. Es ist eine verbotene Liebe, die vor Gericht nicht mal angemahnt, sondern gleich arrogant ignoriert wird. Und die Kinder, die bei anderen Paaren als Maßstab der Liebe gelten, werden bei inzestuösen Liebesbeziehungen als Schande empfunden und zum corpus delicti ernannt.
Im europäischen Ausland ist Inzest mittlerweile straffrei. Selbst in der Türkei wird niemand mehr eingesperrt, weil er seine Schwester oder seinen Bruder sexuell begehrt. Während man in dieser Frage moralisch rückständig bleibt, fanden hierzulande andere Formen ihre sexuelle Emanzipation. Homosexualität, Ehebruch und "Unzucht mit Tieren" fallen nicht mehr in den Handlungsbereich von Gerichten, sondern sind zur privaten Angelegenheit geworden. In diesen Fällen ist das Schlafzimmer nicht mehr Ort öffentlichen Interesses.

Hier käme kaum ein Liberaler auf die Idee, diese unerträgliche Bevormundung anzumahnen. Die Liebe zwischen Geschwistern ist sicher keine nennenswerte Gesellschaftsgröße - ein Lebensentwurf für Massen wird eine inzestuöse Bindung wohl nie werden -, doch betrifft sie Menschen, die so ihr Glück verwirklichen wollten. Wer ist der Staat, dass er glaubt, solche Lebensformen sanktionieren zu müssen? Kein Argument ist geltend. Nicht die althergebrachte Moral, kein religiöses Dogma und ebensowenig die Erbschäden-Theorie. Denn selbst wenn letztere wahr ist, bleibt den mündigen Sexualpartnern die Freiheit, sich für ein behindertes Kind zu entscheiden. Wenn man es überspitzt formulieren will, dann beinhaltet die menschliche Würde eben auch, dass man sich für einen steinigen Weg, für das "Unglück" entscheiden darf. Da wir in diesem Staate gerne so tun, als wäre jedes Leben gleichwertig, dürfte eine gerichtliche Begründung, die solche "Auswüchse" verhindern will, als hinfällig betrachtet werden.

Kurzum: In diesem Falle spricht niemand von einer DDR, die auf dem Vormarsch ist. Nicht weil in der DDR Inzest erlaubt gewesen wäre, sondern weil sich die "DDR" in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeschlichen hat, um als Metapher für einen Bevormundungsstaat zu stehen. Liberal zu sein bedeutet in diesem Lande, seinen Freiheitsdrang ausschließlich auf dem wirtschaftlichen Sektor auszuleben. Dort wo der Staat bequem ist, wo er traditionelle Werte vertritt, die den ganzen Apparat am Leben halten, wo Emanzipation unterdrückt wird, da wird der Liberale zum staatstreuen Büttel.

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Sit venia verbo

Donnerstag, 13. März 2008

"Die Regierung des Menschen über den Menschen ist Sklaverei. Wer immer die Hand auf mich legt, um über mich zu herrschen, ist ein Usurpator und ein Tyrann. Ich erkläre ihn zu meinem Feinde.
Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, abgeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden durch Leute, die weder das Recht, noch das Wissen, noch die Kraft dazu haben. Regiert sein heißt, bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung notiert, registriert, erfaßt, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizensiert, autorisiert, befürwortet, ermahnt, behindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden. Es heißt, unter dem Vorwand der öffentlichen Nützlichkeit und im Namen des Allgemeininteresses ausgenutzt, verwaltet, geprellt, ausgebeutet, monopolisiert, hintergangen, ausgepreßt, getäuscht, bestohlen zu werden; schließlich bei dem geringsten Widerstand, beim ersten Wort der Klage unterdrückt, bestraft, heruntergemacht, beleidigt, verfolgt, mißhandelt, zu Boden geschlagen, entwaffnet, geknebelt, eingesperrt, füsiliert, beschossen, verurteilt, verdammt, deportiert, geopfert, verkauft, verraten und obendrein verhöhnt, gehänselt, beschimpft und entehrt zu werden. Das ist die Regierung, das ist ihre Gerechtigkeit, das ist ihre Moral."
- Pierre-Joseph Proudhon -

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In nuce

Mittwoch, 12. März 2008

Zurück zur Dauerkampagne. Nachdem die BILD-Zeitung kräftig mitgeholfen hat, den linken Annäherungskurs der Suizidaldemokraten zu verunmöglichen, betätigt man sich erneut auf bekannten, oft betretenen Terrain: Die Deinstallierung der umlagefinanzierten Rente. Diesmal baut BILD auf die Worte des kühlen Apokalyptikers Kotlikoff, der in wissenschaftlicher Bodenständigkeit kundtat, dass die ältere Generation versucht, die Jungen auszubeuten. Dies sei eine historische Tatsache, denn jede ältere Generation betreibe dieses Spiel. Freilich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die älteren Jahrgänge immer von den aktuell jungen Jahrgängen miternährt werden mußten. Dies liegt nun einmal in der Natur der Dinge. Ein älterer Mensch kann sich eben nicht mehr sein eigenes Brot selbst verdienen, so wie ältere Menschen einst nicht mehr jagen oder fischen konnten, weil es ihnen körperlich unmöglich wurde. Kurzum: Rentner beuten also Arbeitnehmer aus, weil sie angeblich zu hohe Renten bezögen. Sie kassieren viel mehr, als sie jemals eingezahlt haben. Wissentlich geht man hier am Wesen der Umlagefinanzierung vorbei, das anders als die Kapitaldeckung, nicht derart konzipiert ist, Menschen nur das auszubezahlen, was sie auch tatsächlich einzahlten. BILD liefert natürlich Zahlen: Bis zu 250.000 Euro würde mancher Rentner mehr herausbekommen. Man fragt sich, von welchem Rentner hier gesprochen wird. Doch nicht etwa von dem Großmütterchen, welches eine Monatrente von 550 Euro bezieht? Bei den Jungen - damit das Ausspielen der Generationen auch wirkt - ist es natürlich geradewegs umgekehrt: Sie bezahlen und bezahlen und bekommen immer weniger am Ende heraus. Und damit der BILD-Leser bei dieser Lektüre nicht depressiv wird, präsentiert man am Schluß des "Artikels" eine Weiterleitung, die da heißt: "Alles was Sie über Rente wissen sollten - Ratgeber gibt's hier!" Siehe da, man landet im BILD-Shop...
Natürlich kann es sich die BILD nicht leisten, weitere Leser zu verlieren. Deshalb muß man die Leser älteren Jahrgangs moralisch entlasten und schiebt die Schuld auf das Rentensystem. Schuld haben sie zwar nicht, aber maßhalten sollten sie dennoch. Denn - und so setzt der Kommentator Nikolaus Blome seine Sophisterei fort: Generationengerechtigkeit könne nur erzielt werden, "wenn Generationen füreinander denken – und nicht gegeneinander Krieg führen."

Während sich die hessische Wählerschaft getrost als Verlierer der Landtagswahlen begreifen darf, entsteht innerhalb der SPD - und auch außerhalb der Partei - ein neuer Heldenmythos. Die Abgeordnete Dagmar Metzger und ihr arg besorgtes Gewissen, welches ihr eine Kooperation mit den angeblichen Kommunisten und den damit verbundenen Wortbruch der Ypsilanti verbat, werden in peinlichster Devotion gelobhudelt. Darf man annehmen, Metzger hätte sich genauso gewissentlich verweigert, wenn der Wortbruch darin bestanden hätte, Mehrwertsteuersätze zu erhöhen, obwohl diese vor der Wahl kategorisch ausgeschlossen waren? Oder hätte sie einen Wortbruch ebensowenig ertragen können, wenn der vor dem Wahlgang abgelehnte weitere Sozialabbau später doch Wirklichkeit geworden wäre?
Heldensagen. Was dem einen ein Held, ist dem anderen eine pervertierte Unperson; was dem einem ein Aufrechter ist, ist dem anderen ein Lügner. Oder was unterscheidet eigentlich Dagmar Metzger von Oskar Lafontaine? Als einst Lafontaine sein Gewissen befragte, weil er aktiv am Bruch eines Wahlversprechens mitwirken sollte, da hat man ihn einen verantwortungslosen Egomanen geschimpft. Später erklärte man ihn zum Populisten, der in jedem trüben Wässerchen nach Wählern fischt. Auch so können "Helden des Gewissens" enden...
Innerhalb einer moribunden Sozialdemokratie scheint es derzeit einfach zu sein, sich zum Helden aufzuschwingen. Tief ist sie in ihrem Verfall schon gesunken: Stilisiert eine drittklassige Abgeordnete zum parteilichen Übergewissen, vergählt es sich mit möglichen Koalitionspartnern und sucht die Schuld für die eigene Misere auch noch im fremden Lager, namentlich bei der LINKEN. Darauf Gysi: "
Was in Hessen passiert ist, hat nichts mit uns zu tun. Es ist Ausdruck der inneren Zerrissenheit der SPD.", und trifft den Nagel auf dem Kopf.

Kritische Worte zur katholischen Kirche finden sich hierzulande selten. Seitdem ein Deutscher innerhalb des Vatikans die Fäden zieht, sich zum lächelnden Despoten hat erwählen lassen, verstummte die eigentlich angebrachte Kritik um ein weiteres Maß. Nun, da die Kirche aber das Profitstreben des herrschenden Systems angreift, da sie nicht das Individuum, sondern das System selbst als die Wurzel des Übels proklamierte, da ist es mit der Zurückhaltung zunächst einmal vorbei, da darf die Rückständigkeit dieser Institution angegriffen werden. Da bringt man zusammen, was nicht zusammengehört, rückt die LINKE neben die Kirche: Beide wollen ja die Welt verändern. Die katholische Kirche will eine "Moraldiktatur" umgesetzt wissen. - "Der Linkspartei wird gern unterstellt, sie wolle „eine andere Republik“. Dem Vatikan braucht man das nicht zu unterstellen. Es ist so. Eine Republik, in der die Jagd nach dem Profit verboten ist, wäre keine Marktwirtschaft. Eine Republik, in der „exzessiver Reichtum“ verboten ist, wäre nicht kapitalistisch." - Kritik am System wird konsequent verurteilt, mundtot gemacht, diskreditiert. Die fadenscheinigsten Thesen - wie sie die Kirche ansonsten vertritt - können im System überleben, nur nicht die These, dass das System krank sei und krank macht. Der Totalitarismus der Marktfreiheit ist eine Freiheit der Profite, keine Freiheit der Meinung.

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Krieg bedeutet Frieden, Freiheit ist Sklaverei und Unwissenheit ist Stärke

Dienstag, 11. März 2008

Seit Jahren wirft man denen, die die sogenannten Anti-Terror-Gesetze kritisieren, vor, sie würden schlimmste Panikmache betreiben, einen apokalyptischen Staat herbeiphantasieren und diesen politisch instrumentalisieren, regelrecht eine Dystopie beschwören, die eben durch solche Gesetzesmaßnahmen erst verhindert, nicht verwirklicht würde. Diesbezügliche Gesetzespakete als Teufelswerk zu stilisieren, wurde und wird als blinder Aktionismus dieser Apokalyptiker gesehen. Denn den einzig wahren Aktionismus bedarf es nur in der Frage der schnellen Umsetzung und in der effektiven Anwendung solcher Gesetze. Wir sollten einsehen, dass man diese Kritiker zurecht gemaßregelt hat. Denn wir brauchen diesen Schutz, wir müssen uns wahrlich vor dem weltumspannenden Terrorismus schützen. Er lauert überall, kann uns jederzeit ins Unglück stürzen.

Und um dieses Schutzbedürfnisses willen, verabschiedete kürzlich der Senat und das Repräsentantenhaus ein neues Geheimdienstgesetz. Prompt folgte die Antwort der Terroristen und machten damit ersichtlich, wie dringend nötig diese Kontrollgesetze doch eigentlich sind: "US-Präsident George W. Bush hat sein Veto gegen ein Verbot der umstrittenen Verhörmethode "Waterboarding" eingelegt, bei der die Gefangenen das Gefühl haben zu ertrinken. Solche gesetzlichen Vorgaben würden die Hände des Auslandsgeheimdienstes CIA im Kampf gegen "abgehärtete Terroristen" binden, sagte Bush am Samstag in seiner wöchentlichen Radioansprache." - Die Methoden der Terroristen sind wirklich ausgefeilt und von höchstem technologischem Anspruch. Sie stürmen nicht nur mit ordinären Teppichmessern Flugzeuge, sondern sie haben sich "alternative Methoden" entworfen, die gefangenen Personen vorgaukeln, dass man ihnen das Leben rauben würde, wenn sie nicht kooperierten.

Dies ist die vielzitierte freiheitliche Demokratie, welche die westliche Welt - allen voran die Vereinigten Staaten - dem gesamten Erdenrund angedeihen lassen will. Man verurteilt und verfolgt muslimische Fundamentalisten, die sich terroristischen Mitteln bedienen, wendet aber gleichermaßen Terror an, wenn es sich der eigenen Sache als dienlich erweist. Aber Terror ist erlaubt, wenn er im Sinne unserer Ideologie, der Ideologie der freiheitlichen Gesellschaft, die sich lediglich als "Freiheit der Renditen" manifestiert, angewandt wird. Niemand denkt an die ETA, wenn man vom internationalen Terrorismus spricht. Nein, der internationale Terrorismus ist jener, der kulturell - und somit soziologisch - bedingt die "Freiheit der Renditen" nicht haben will. Die ETA bombt zwar, erschießt, bedroht, erpresst und foltert, aber all diese Tätigkeiten nehmen sich milde aus, solange sie das kapitalistische Wesen unserer Gesellschaft axiomatisch abnicken. Die qualitative Unterscheidung nimmt sich folgendermaßen aus: Die baskischen Separatisten lassen aus nationalistischen Gründen Bomben detonieren, stellen das System aber nicht in Frage und morden demgemäß nicht aus Gründen ideologischer Andersartigkeit. Daher ist das Tun westlicher Folterknechte nicht als unmenschlich, sondern als notwendig zu bewerten. Und daher verfolgen die geheimdienstlichen Inquisitoren, wie einst die Ochrana, nicht nur Andersdenkende, sondern - wie im Falle al-Masris - auch Andersaussehende.

Wer beschützt die Menschen also vor dem wirklichen Terror? Vor dem Terror, der legitimiert durch Volksvertreter, Parlamente und Gesetze wütet? Vor dem Terror, den man als notwendiges Übel, als unvermeidlichen Teil des Systems begreift? Vor dem Terror, der Krieg meint, wenn er Frieden sagt; der Sklaverei meint, wenn er Freiheit sagt; der Unwissenheit als Grundlage seiner Stärke ansieht? Vor dem Terror, den man kaum erkennt, weil er als staatliche Institution auftritt? Vor dem Terror, den man nicht kritisieren kann, weil man sonst selbst unter Verdacht gerät?
Terror ist eben Ansichtssache...

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Sit venia verbo

Sonntag, 9. März 2008

"Zunächst jedoch sehen wir hier den ersten Fortschritt, den der Geist der Revolte auf ein Denken ausübt, das anfänglich von der Absurdheit und der scheinbaren Sterilität der Welt durchdrungen war. In der Erfahrung des Absurden ist das Leid individuell. Von der Bewegung der Revolte ausgehend, wird ihm bewußt, kollektiver Natur zu sein; es ist das Abenteuer aller. Der erste Fortschritt eines von der Befremdung befallenen Geistes ist demnach, zu erkennen, daß er diese Befremdung mit allen Menschen teilt und daß die menschliche Realität in ihrer Ganzheit an dieser Distanz zu sich selbst und zur Welt leidet. Das Übel, welches ein Einzelner erlitt, wird zur kollektiven Pest. In unserer täglichen Erfahrung spielt die Revolte die gleiche Rolle wie das "Cogito" auf dem Gebiet des Denkens: sie ist die erste Selbstverständlichkeit. Aber diese Selbstverständlichkeit entreißt den einzelnen seiner Einsamkeit. Sie ist ein Gemeinplatz, die den ersten Wert auf allen Menschen gründet. Ich empöre mich, also sind wir."
- Albert Camus, "Der Mensch in der Revolte" -

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Im Gleichschritt gegen die LINKE

Samstag, 8. März 2008

Das mediale Bombardement wider der Tolerierung der LINKEN durch die hessische SPD, fand nun zunächst einen (für die Medien) erfolgreichen Abschluß: Ypsilanti und eine tolerierte LINKE bleiben dem Land Hessen zunächst einmal erspart. Stattdessen feiert man nun eine SPD-Abgeordnete namens Dagmar Metzger als "Heldin der Demokratie". Diese kündigte an, den Pakt mit den Kommunisten nicht abzusegnen, womit eine Mehrheit für Ypsilanti gescheitert wäre. Metzgers Gewissensentscheidung ist indes gar nicht zu kritisieren, natürlich darf sie sich so entscheiden. Sie sollte sich aber die Frage gefallen lassen, von wem sie so aufgestachelt wurde, dass sie in einer Partei, die den kapitalistischen Sozialstaat bewahren möchte, einen Rückschritt zur DDR erblickt.

Und was war das für ein Feuer! FOCUS scheute nicht davor zurück, diese "ganz linke Nummer" (BILD) auf ein Podest mit der Mauerlüge oder der "Watergate"-Affäre zu stellen: Ypsilanti neben Ulbricht und Nixon! "Mit ihrer fragwürdigen Trickserei", so "ehrt" der FOCUS die SPD-Politikerin, reihe sie sich "in die Annalen der politischen Lüge ein." Man war geneigt, bei all dem Moralisieren und Verurteilen der letzten Wochen zu glauben, dass es nie zuvor in diesem Lande ein hinfälliges Wahlversprechen oder gar eine Wahllüge gab. Beinahe kommt es einem vor, als habe die "Affäre Ypsilanti" die einwandfrei moralische Politlandschaft der Bundesrepublik diskreditiert; als sei etwas geschehen, was in dieser Form noch nie dagewesen ist; als habe man die noblen Damen und Herren aus der Politik derart brüskiert und beschmutzt, dass Reinigung nie wieder möglich sei. Nein, sicher ist dem nicht so und ungewollt ehrlich gab sich BILD-Inquisitor Franz Josef Wagner, als er Ypsilanti einen seiner schwülstig-absonderlichen Briefe widmete: "Frau Ypsilanti, Sie müssen sich an Ihre Wahlversprechen halten, weil sonst das Bescheißen überhandnimmt." - Mit anderen Worten: "Frau Ypsilanti, Wahlversprechen wurden und werden immer gebrochen; Mehrwertsteuern erhöht, auch wenn man dies vor der Wahl ausschloss; Sozialabbau forciert, auch wenn dies vor dem Urnengang kategorisch abgelehnt wurde; Große Koalitionen begründet, selbst wenn dies vor der Abstimmung vehement verneint wurde. Frau Ypsilanti, weil sowieso so viel gelogen wird, halten sie sich doch wenigstens einmal daran, gerade bei einer (für mich als Wirtschaftsknecht) so unpopulären Wahllüge." Im Laufe seiner Propaganda erkannte Wagner, dass auch er ein Sünder sei, jemand der schon gelogen habe. Vielleicht will er - so deutet er jedenfalls an - seine Liebeslügen und Seitensprünge mit Ypsilantis Wortbruch reinwaschen. Obwohl auf Erkenntnis abzielend, kam ihm nicht in den Sinn, dass die Wahllüge eben nicht so alt ist wie die Wahl, sondern älter: Denn als einst der erste Gang zur Urne bevorstand, war bereits die erste Wahllüge ausgesprochen.

Aber nicht alleine Ypsilantis "unverantwortliche Abenteuer auf dem politischen Hochseil" (BILD) wurde fortwährend torpediert. Einige Kritiker, die es besonders gut mit unserem Land meinen, stiegen erst gar nicht bei einer konkreten Aburteilung der hessischen Sozialdemokratie ein, sondern erfaßten die Gesamtheit der Malaise. Einen Fundamentalangriff auf die Verfassung startet Roman Herzog. Weil die Einbettung der LINKEN in die Parteienlandschaft neue Konstellationen in den Parlamenten mit sich bringe, soll das Wahlrecht französische Formen annehmen. Gemäß dem Motto: Wenn die Wähler nicht spuren wie wir wollen, dann modifizieren wir eben solange am Wahlsystem herum, bis das herauskommt, was uns gefällt! Es ist schwer zu glauben, dass so eine Person einst der oberste Herr dieses Landes war. Ein anderer - der Milliardär Würth - erkennt in Erbschafts-, Vermögens- und Reichensteuer gar eine Edel-DDR, die spätestens 2013 "das ganze Folterwerkzeug" wieder hervorholt. Man fragt sich zudem, wie jemand Milliardär wird, der nicht rechnen kann: "Die Gewinne, die ich in diesen jetzt 58 Jahren gemacht habe, sind schon mal im Durchschnitt zu 50 Prozent versteuert worden. Wenn die Erbschaftsteuer kommt, dann sind noch mal mindestens 15 Prozent weg. (...) Dann blieben also gerade mal 35 Prozent übrig."

Bei aller "Berichterstattung" zum Wortbruch der Ypsilanti, bei aller Hatz gegen die LINKE, findet kaum Erwähnung, dass gerade eine rot-grüne Regierung, mit Akzeptanz durch die LINKE, dem Wählerwillen entspräche. Thematisiert wird lediglich die Unverfrorenheit des Wortbruches; ein Wortbruch, der ebenso bei den Hamburger Grünen vorliegt. Diese schlossen eine schwarz-grüne Koalition aus, weil die inhaltlichen Differenzen weiter angewachsen seien. Zweiterer Wortbruch erfährt aber vollen Rückenwind der Presse. Selbst der linksliberalen Presse, die eine Hinwendung zur LINKEN seit Wochen bekriegt. Und freilich zeichnen sich die ersten Erfolge ab: Ypsilanti zieht ihr Vorhaben zurück, die LINKE ist erstmal ausgeschlossen und die SPD besinnt sich auf die Wurzeln ihrer Reformpolitik, indem sie darüber sinniert, Franz Müntefering zu reaktivieren.

Optimisten meinten, die SPD würde sich zaghaft an alte Werte zurücktasten, der Hamburger Parteitag habe die ersten Schritte zum alten sozialdemokratischen Wertekanon eingeleitet. Sie werden nun einsehen müssen, dass diese Partei in der Schröder-Ära dermaßen ausgehöhlt wurde, dass sie nun bereits bei stärkerem medialen Gegenwind zum Umkippen gebracht werden kann. Es gibt kein Fundament mehr in der SPD und solange man sich von der Union, den Medien und der Wirtschaft bevormunden läßt, wird sie aus ihrer inhaltslosen Inhaltsphantasterei nicht herauskommen.

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De omnibus dubitandum

Freitag, 7. März 2008

Bei der Kommunalwahl in Bayern, wählten...
  • ... 40,5 Prozent aller Wahlberechtigten gar nicht.
  • ... 23,8 Prozent aller Wahlberechtigten die CSU. Das sind 40,0 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
  • ... 13,4 Prozent aller Wahlberechtigten die SPD. Das sind 22,6 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
  • ... 11,3 Prozent aller Wahlberechtigten eine Freie Wählergruppe. Das sind 19,0 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
  • ... 4,9 Prozent aller Wahlberechtigten die Grünen. Das sind 8,2 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
  • ... 2,3 Prozent aller Wahlberechtigten die FDP. Das sind 3,8 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
  • ... 0,4 Prozent aller Wahlberechtigen die LINKE (nur in einigen Gebieten angetreten). Das sind 0,7 Prozent aller abgegenen Stimmen.
Die Wahlbeteiligung war so niedrig wie nie. Die beiden großen Volksparteien verloren beide Prozentpunkte zugunsten der kleinen Parteien.


Bei der Kommunalwahl (Stadtrat) in Ingolstadt, wählten...
  • ... 52,3 Prozent aller Wahlberechtigten gar nicht.
  • ... 21,0 Prozent aller Wahlberechtigten die CSU. Das sind 44,1 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
  • ... 9,0 Prozent aller Wahlberechtigten die SPD. Das sind 19,0 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
  • ... 7,2 Prozent aller Wahlberechtigten die Freie Wähler (FW). Das sind 15,2 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
  • ... 3,5 Prozent aller Wahlberechtigten die Grünen. Das sind 7,3 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
  • ... 2,1 Prozent aller Wahlberechtigten die ödp. Das sind 4,4 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
  • ... 2,0 Prozent aller Wahlberechtigten die LINKE. Das sind 4,2 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
  • ... 1,5 Prozent aller Wahlberechtigten die FDP. Das sind 3,2 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
  • ... 1,3 Prozent aller Wahlberechtigten die Republikaner. Das sind 2,6 Prozent aller abgegebenen Stimmen.
Zwei Stadtbezirke hatten eine Wahlbeteiligung von unter 40 Prozent, wobei das Nordwest-Viertel mit 30,8 Prozent am schlechtesten abschnitt. Auch hier - wie bayernweit - büßten die beiden großen Parteien Prozentpunkte ein. Obwohl die SPD erneut abbaute, verlor die CSU trotzdem die absolute Mehrheit im Stadtrat. Gerade für Ingolstadt gilt das Motto: Stell dir vor es ist Wahl und keiner geht hin! - Von 90.800 Wahlberechtigten gingen nur 43.300 zur Wahl. Die Misere wird vorallem deutlich, wenn man sich zu Gemüte führt, dass lediglich 19.100 Menschen für CSU-Kandidaten stimmten und dies dennoch ausreichte, um 44,1 Prozent einzufahren.

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In nuce

Donnerstag, 6. März 2008

Die Linksrucklegende: "Das, was heute als Linksruck denunziert wird, (ist) eher ein Schritt in Richtung einer Rückkehr zur Normalität der alten Bundesrepublik und zu deren klassischem Wertekanon, inklusive sozialer Gerechtigkeit." - Die LINKE somit ein Vertreter der Mitte, dort wo gerade die Union zu stehen vorgibt. Die grobe Programmatik der LINKEN ist keineswegs als linksgerichteter Entwurf zu begreifen, sondern als Rückgriff auf sozialdemokratische Werte, die beinahe als Liebeserklärung an die gute, alte Sozialdemokratie Westdeutschlands daherkommt. Die eingeläutete Kommunistenhatz nährt sich tragisch dem McCarthyism an. Seinerzeit gerieten selbst Mitglieder von Indianerstämmen in Verdacht, die traditionellerweise eine Gesellschaft ohne Privatbesitz auslebten. Man fragt sich, wann die ersten Mönche hierzulande zu Staatsfeinden erklärt werden...

Lobbyistengeschwätz in der BILD. Freilich nichts grundlegend Neues, doch immer wieder hervorzuheben, um die Maschen der Meinungsmacher zu enttarnen. Der Bund der Steuerzahler "berichtet", dass von jedem verdienten Euro nurmehr 48 Cent in der Tasche des Verdieners zurückbleiben. Daher fordert BILD-Wirtschaftsmann Santen, dass es höchste Zeit wird, dass die Politik Abgaben und Steuern senkt, denn der Staat fresse uns in seiner Gier auf. - "Dafür, dass die "Steuer-Gier" des Staates "immer größer" wird, gibt Santen keinen Beleg. Eine Möglichkeit, diese "Gier" zu messen, wäre die Staatsquote: das Verhältnis der Staatsausgaben zur gesamten Wirtschaftsleistung. Sie hat sich nach Angaben des Finanzministeriums in den vergangenen Jahren fast konsequent nach unten entwickelt."

"Jahrzehnte von multikultureller Gehirnwäsche haben viele Europäer zu der naiven Überzeugung gebracht, man könne mit dem Bösen verhandeln, gleich ob es in Gestalt der Taliban, der iranischen Mullahs oder Osama Bin Ladens erscheint." -
Hier spricht sich der BILD-Zeitung "Aushängeschild für Recht und Vernunft" für einen Bundeswehreinsatz im Mittleren Osten aus. "Multikulturelle Gehirnwäsche! Mit solchen Leuten verhandelt man nicht, man fängt oder tötet sie!" - Europäischer Chauvinismus in Reinkultur. Dies ist nicht die Lösung der Problematik, sondern die Wurzel, aber so weit ist MediaMarkt-Mann Steinhöfel das Analysieren vertraglich nicht erlaubt, könnte man annehmen. Stattdessen suhlt er sich in widerlichster Propaganda, die geradezu als Hommage an längst vergangene Tage zu begreifen ist.

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Erlebniswelt: Krankenhaus

Die neoliberalen Reformer haben die Zeichen der Zeit erkannt. Zumindest jene Zeichen, die sie sich in ihren eigenen dialektischen Mikrokosmos projiziert haben. Patienten - so lautet eines dieser Zeichen - brauchen keine teueren Herzoperationen, Hüftgelenke oder Krebstherapien. All das dient nur der körperlichen Hilfe; was aber der Patient wirklich braucht ist eine psychische, ja eine ideologische Unterstützung: Wettbewerb!
Freilich ist der Weg dieser bahnbrechenden Erkenntnis - eine Erkenntnis aus empirischer Beobachtung - mit Toten gepflastert; freilich handelt es sich vornehmlich um Tote aus den unteren Gesellschaftsschichten; freilich bedauern die Reformer jeden Todesfall. Aber der Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern darf als Imperativ neoliberaler Reformitis nicht angetastet werden. Patienten brauchen den Wettbewerb, weil sie zwischen verschiedenen Anbietern auswählen sollten, weil auch das Kranksein als Übereinkunft von Händler und Kunden anzusehen ist. Eine Übereinkunft, bei der der Patientenkunde natürlich frei auswählen darf.

Die Jünger des freien Marktes sprechen sich für regen Wettbewerb aus, weil es dem Kunden Auswahl und vielerlei Aktionen beschert. Der Anbieter einer Ware oder Dienstleistung wartet mit Kundenaktionen auf, bietet seinen Käufern Erlebnisse, die diesen längerfristig an ihn binden sollen. Das sind unter anderem Mobiltelefone, die zum Spottpreis quasi verschenkt werden oder ein Gratisprodukt, wenn man sich erbarmt, dem Verkäufer allerlei anderen Schrott abzukaufen. In Kaufhäusern stehen Probier- und Animierstände, schwadronieren Feierabend-Moderatoren um die Kunden, wird ein Live-Werbeprogramm veranstaltet und gelegentlich - das sind die Sternstunden des Erlebniseinkaufens - der alkoholgeschwängerte Körper eines ausgemusterten Schlagerstars auf die Bühne gehievt. Der Wettbewerb macht dies möglich, denn freiwillig würde sich niemand diesen Peinlichkeiten ausliefern wollen.
Ja ist es dann nicht recht und billig, wenn man auch Patienten in so eine Erlebniswelt schickt, damit sie vom Wettbewerb erfüllt, ihr Leid ein wenig vergessen? - Das haben die Reformer erkannt, das ist eine grundlegende Revolution im Gesundheitswesen! Der kranke Bürger will ja nicht nur behandelt werden, Ruhe haben und gesund wieder in seine viel zu kleine Sozialwohnung zurückkehren. Nein, er will etwas erleben, wenn er schon mal ernsthaft krank ist, vor allem wenn er todkrank ist. Denn sprechen wir es doch deutlich aus: Sofern er an der Schwelle des Todes steht, will er noch ein letztes, wildes Abenteuer erleben. Noch einmal die Urgewalten des Lebens spüren, ein letztesmal mit allen Sinnen wahrnehmen, wie es ist, zwischen Tod und Leben zu bangen, nicht wissend, ob man dieses archaische Abenteuer noch einmal heil überstehen wird.

All das ist nur gerecht, nur konsequent durchdachtes Wettbewerbsstreben. Wir müssen uns die Einlieferung in ein Krankenhaus als einen Einkauf vorstellen. Der Kunde darf erleben, darf diese Erlebnistour voll auskosten. Er darf spüren, dass er Mensch ist, weil ihn eine gleichgültige Leihkrankenschwester - die sich nebenbei sorgt, wie sie von ihrem Taschengeld, welches ihr ihr Arbeitgeber monatlich generös zukommen läßt, ihre Kinder durchbringen, ihre Wohnung bezahlen soll - kaum beachtet, weil er Schmerzen erdulden darf, die ihm fast den Verstand rauben. Aber da weiß er, dass er noch lebt, dass er noch spürt, dass er noch ein Mensch ist, der mit beiden Beinen im Leben liegt. Wenn man später entscheidet, ob es sich überhaupt noch lohnt, ihm eine Operation zu verkaufen, dann erlebt er eine "Tour zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Tod und Leben"; merkt er, wie ernst es da Experten mit ihm meinen, weil sie fünf Minuten ihres Ärztedaseins dafür aufwenden, um über seinen weiteren Weg zu entscheiden. Es ist doch grundlegend falsch und als Bösartigkeit der Reformgegner zu bewerten, wenn man den wettbewerbsorientierten Krankenkassen unterstellt, sie würden aus reiner Gier Operationen nicht bezahlen wollen. Man verbietet doch nicht aus Menschenverachtung heraus, sondern weil man den Erlebnisgedanken aufrechterhalten will. Der Kunde will dies doch so, er will erleben, nicht völlig banal operiert werden um zu genesen. Das war gestern, heute ist Wettbewerb, heute ist "Adventure-Hospitaling"! Asche auf unsere Häupter, denn wir verkennen den Wert dieser neuen therapeutischen Erkenntnis weiterhin, weil uns christliche Nächstenliebe, aufgeklärter Humanismus und allerlei Irrlehren der Vergangenheit blenden, uns einfach nicht in die Gegenwart kommen lassen; wir verkennen auch die Humanität, die uns in Serien wie "Emergency Room" zunächst noch schockiert haben. Man muß es doch einfach als unnachahmliches, unvergessliches Erlebnis anerkennen, wenn man auf einem Rollbett zwei oder drei Tage auf dem Flur steht, keine Ruhe findet, von anderen Patienten angehustet, angeblutet, angepöbelt wird. Das ist Menschsein in Reinkultur, entblättert allen Schnickschnackes der Zivilisation. Da wird der Mensch in die Unabwägbarkeiten des Lebens geworfen, wiederum zwischen Überleben und Zugrundegehen platziert. Hier erlebt man was, hier ist der Patient nicht nur Kranker, sondern ebenso Mensch, wirklicher, freier, von Zivilisationsprinzipien unabhängiger Mensch. Und wenn sich dann die ausgestossenen Körpersekrete der Patienten mischen, wenn ausgehustete Tröpfchen im Gesicht landen, Blut auf Körperteilen Fremder, Erbrochenes den Fußboden ziert, dann erkennt der Patient, daß er nicht nur Subjekt ist, sondern ein Teil eines objektiven Ganzen, in welchem sich menschliche Zellen, Sekrete und Ausdünstungen vermengen, um zu einer Einheit zu verschmelzen. Hier zeigt sich die Klasse dieses neoliberalen Wettbewerbsdenkens, denn all dieses Menschsein muß nicht in freier Wildbahn, im Wald oder in der Wüste, auf einer einsamen Insel oder auf den Höhen eines Berges veranstaltet werden - denn dort herrscht leider noch kein Wettbewerb -, sondern es reicht ein Krankenhausflur, auf dem man diese liebevoll inszenierte Version des "Adventure-Hospitalings" komprimiert an den Kunden weitergeben kann. Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, Menschen dieser Erlebnisgesellschaft nur zu behandeln. Die Leute wollen was für ihr Geld geboten haben. Und nur der Wettbewerb der Krankenhäuser erlaubt es, dass aus einem ordinären Krankenhausbesuch - der ja nichts anderes ist als der temporäre Kauf eines Krankenzimmers und -bettes, zusammen mit dem temporären Kauf ärztlicher Fachberatung (bei vielen Patienten reicht es finanziell nur zum ersten Kauf) - ein Abenteuer wird.

Wir brauchen also dringend die Bahnprivatisierung, weil sie uns Kunden mehr Erlebnismomente schenken würde. Zur Weihnachtszeit wird die dann privatisierte Bahn sogar Abenteuerfahrten auf vereisten Bahnschienen spendieren - natürlich gegen Aufpreis. Ach, wird das spannend sein: Eine aus dem Stoff des Sitzes durchgestossene Stahlfeder bohrt sich unangenehm in den Hintern, der Waggon wackelt lustig mit den Bäumen im Wettbewerb (man sieht: Der Wettbewerb ist geradezu Naturgesetz!), der Leihlokführer schläft an seinem Arbeitsplatz seinen Alkoholrausch aus, den er sich leistete, weil ihm der Weg zur Arbeit und zurück alle Einkünfte (bei 6,20 Euro Stundenlohn) auffrißt und zeitgleich seine geliebte Frau in einem Erlebniskrankenhaus liegt und er nicht das nötige Gottvertrauen aufbringen will, um felsenfest daran zu glauben, dass man sich aufopfernd um sie kümmern wird. Und wenn dann erstmal der Zug entgleist ist, weil die Schienen - dem Erlebnisdogma wegen - nicht gewartet wurden, dann werden die Bahnkunden wissen, wie wertvoll sie für das Unternehmen doch sind, wie ernst die feinen Herren aus dem Bahnvorstand den neuen Wettbewerb nehmen. Vielleicht trällert dann sogar ein Schlagerbarde, unterhält Kunden und Feuerwehrleute gleichermaßen, während man den Verunfallten - die ja Kunden sind - die wunderbare Erlebniswelt des Herausschneidens aus Wrackteilen zuteil werden läßt.

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