Selektiertes Fernsehen

Samstag, 29. November 2008

Chefarzt ist er, seine Spielpartnerin Chefsekretärin. Auch Rechtsanwälte saßen schon auf den berühmten Sesseln dieser Republik. Freie Unternehmer sowieso. Sachbearbeiter, Beamte, Professoren waren auch schon dabei. Immer dann, wenn Günther Jauch oder Jörg Pilawa ihre Kandidaten danach fragen, womit diese ihren Lebensunterhalt verdienen - genauer fragen sie nach "dem Beruf", aber warum es Berufung sein soll, als Sachbearbeiter Sachen zu bearbeiten, kann nur als zynische Scherzantwort betrachtet werden -, bekommen sie allerlei Antworten zu hören. Kleine Existenzen sind dabei, öfter aber solche, die man mindestens dem Mittelstand zurechnen kann. Was man aber nicht, jedenfalls äußerst selten vernimmt, sie Antworten, die erläutern, dass man derzeit arbeitslos sei.

Arbeitslose Kandidaten finden dort nicht statt. Obwohl mehr als 6 Millionen Menschen Arbeitslosengeld II beziehen, obwohl fast eine weitere Million an Menschen Arbeitslosengeld I erhält, findet sich in den Quizshows dieses Landes nur selten eines dieser scheinbar raren Exemplare. Stattdessen tummelt sich das arbeitende Volk, geben sich die Produktiven und Werktätigen die Ehre - freilich auch Studenten, freilich auch gelegentlich Rentner. Aber die sind ja auch nicht untätig, obwohl sie tätig sein könnten. Draußen bleibt nur, man denke an das berühmte Schild am Eingangsbereich des Supermarktes, der Hund, genauer: der "faule Hund", der Arbeitslose.

Ob bei Pilawa oder Jauch: Das Bürgertum wird überdurchschnittlich repräsentiert, während die Ärmsten der Gesellschaft unterdurchschnittlich vertreten sind. Man muß annehmen, dass die Redaktionen selektieren, sich unliebsamen Bewerbern schon in der Vorauswahl entledigen, um den vermeintlichen Leistungsträgern eine Chance zu ermöglichen. Eine natürliche Selektion sei das, wird man womöglich dort argumentieren, denn man sortiere ja nicht nach sozialen Status aus, sondern "der Arbeitslose" disqualifiziere sich von selbst, weil er in der Vorabbefragung bildungstechnisch jämmerlich versage. Ob dies dann zutrifft ist einerlei, jedenfalls würde man damit den öffentlichen Konsens bestätigen und klarmachen, dass der Arbeitslose nur deshalb in dieser Situation ist, weil er intellektuell nichts zu bieten hat, quasi "selbst" schuld sei an seiner Misere. Es gibt in Deutschland weniger Ärzte als Arbeitslose, dennoch sitzen auf den Showsesseln mehr Ärzte als Arbeitslose - dies ist das künstlich erzeugtes survival of the fittest, die Rolle dieser Vulgärevolution übernehmen die Redaktionen der Quizsendungen.

Die künstliche Selektion als Prinzip der Medien: Kritiker und Alternativdenker werden ferngehalten, Nachbeter herrschender Ansichten hofiert; Lobbyisten bekommen Stühle in politischen Plauderrunden angeboten, Vertreter einer Weltsicht, die dem Lobbyismus entgegenstehen, bleiben weitgehend unterrepräsentiert - Neutralität oder Objektivität ist nicht gegeben, stattdessen wird selektiert und "das Schwache" gnadenlos im Keim erstickt, erst gar nicht in die Studios gelassen. Dass diese Selektion ungeniert öffentlich vollzogen wird, wurde an einem prominenten Beispiel deutlich: Als Peter Sodann 2005 für die PDS kandidieren, in den Bundestag einziehen wollte, da hat die ARD sofort verkündet, dass eine solche Kandidatur dazu führen werde, alle Tatort-Folgen mit Sodann, bis auf weiteres auf Eis zu legen. Ute Singer aber, besser bekannt als die Schlagersängerin Claudia Jung, kandidierte dieses Jahr (erfolgreich) für den bayerischen Landtag, dies für die Partei, die keine Partei sein will (Freie Wähler) - während des Wahlkampfes flimmerte sie über den Bildschirm, trällerte ihre Liedchen. Und das tut sie auch weiterhin, wie erst letztens, als der Nürnberger Christkindlesmarkt eröffnet wurde; ob ein MdB Sodann wohl nach dem Wahlkampf nochmal zu Tatort-Ehren gekommen wäre? Wenn man so eine willkürliche Praxis in aller Öffentlichkeit inszeniert, warum soll dann das Fehlen arbeitsloser Menschen in Quizsendungen nicht ebenso mit dieser Selektionswut beseelt sein?

In den Redaktionen, die das Land bedeuten, sitzen keine Revolutionäre. Es sind Evolutionäre, die die Rolle der "unsichtbaren Hand", des "großen Weltenlenkers", des "Alltags-Gottes" übernehmen, um die Prinzipien der Evolutionslehre umzusetzen - wenn auch in pervertierter Form, die ja, so scheint es immer öfter, die einzig öffentlich akzeptierte Form ist. Die künstliche Auslese merzt das sozial Schwache - was ja eigentlich das ökonomisch Schwache ist - aus, damit das ökonomisch Starke zur seinem Quizshow-Recht kommt. Öffentlich-rechtliche Sender ebenso wie Privatsender betreiben ein zutiefst konservativ-bürgerliches Spiel, in dem der brave Bürgersmann, der strebsame und leistungswillige Lohnbezieher zum Zuge kommen soll. Die anderen, die die nicht brav, strebsam und leistungswillig sind, weil es ihr gesellschaftlicher Status zu unterstreichen scheint, haben keinen Platz bei Pilawa oder Jauch. Man will den Zuschauer auch nicht brüskieren, will ihn nicht mit dem Bodensatz der eigenen Gesellschaft konfrontieren - der Zuschauer will Arbeitslose in anderen Sendungen sehen, wo man mit ihnen derber umgeht, wo man sie gängelt und erpresst, wo man sie als nutzlose Saufbrüder und -schwestern kategorisiert, wo man sie vorführen und an den Pranger stellen kann. Das Gesindel besitzt ja seinen Sendeplatz - einer der wenigen Besitze, die man dem Gesindel nicht stiehlt - und soll bloß nicht die besten, die bürgerlichen, die von Medienlieblingen geleiteten Sendeplätze belagern!

Die Harmlosigkeiten der deutschen Fernsehlandschaft sind Ausgeburt knallharter Selektion. Quotenarbeitslose mag es auch da geben, aber generell findet sich das betuchte und gutbetuchte Bürgertum auf den Sesseln, die das Geld bedeuten - jene die es brauchen könnten, werden dort kaum platziert. Das Fernsehen, so wie wir es in heutiger Form kennen, ist in Demokratie gehüllter - der Zuschauer hat die Wahlfreiheit zwischen Einschalten und Abschalten - Sozialdarwinismus, auf dem öffentlichen Konsens aufbauendes, selektierendes und ausmerzendes Medium. Kein Wunder also, dass Pilawa und Jauch um die Wette lächeln - irgendwie muß man diese Fratze der Selektion ja überspielen.

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Stille Konditionierung

Donnerstag, 27. November 2008

Man muß es sich schon auf der Zunge zergehen lassen: Peter Hartz darf Langzeitarbeitslose motivieren. Er darf sie motivieren! So berichten diverse Tageszeitungen, alle im gleichen Ton, kaum kritisch, dafür aber angereichert mit der Mär von der notwendigen Motivation arbeitsloser Menschen. Natürlich schreibt man nicht von der Faulheit der Arbeitslosen, von ihrem Sofa-Dasein und der Alkohollastigkeit - in den Tageszeitungen sind die Arbeitslosen nicht faul, sie müssen nur motiviert werden, um wieder arbeiten zu wollen. Wo darin der Unterschied liegt, kann - wenn überhaupt - nur die betreffende Redaktion beantworten.

Aber dann, womöglich nach einer weihnachtlich-moralischen Redaktionssitzung, wird gegen die BILD-Zeitung gewettert, die wieder einmal gegen Arbeitslose mobilisiert hat, wird klargemacht, dass die eigene Tageszeitung nichts mit dem Springer-Verlag zu tun haben will; da legt man dar, dass das, was bei BILD praktiziert wird, nichts mit Journalismus zu tun habe. Dies ist das beruhigende Glück desjenigen, der mit Grauem Star behaftet ist, wenn er sich mit einem Blinden vergleicht - gut für den Blätterwald, dass es die BILD gibt! Während man nämlich gegen Diekmann und seine Meinungsjunta anschimpft, nährt man selbst das Klischee, wonach der "Arbeitslose an sich", ein fauler Lümmel sei. Mal tut man das ganz offen, dann ist es aber selbstverständlich - im Gegensatz zur BILD-Zeitung -, ein Akt von hochwertigem Journalismus; mal grassiert das Ressentiment latent, so wie in jenen Fällen, wie dem aktuellen, wenn man nicht vom faulen Arbeitslosen, aber sehr wohl vom "zu motivierenden Arbeitslosen" spricht.

Es sind ja nicht nur die Grobheiten und Hauruck-Methoden, die vorallem in der BILD-Zeitung zu finden sind (aber nicht nur dort), sondern gerade die kleinen Beiläufigkeiten, die ein Weltbild unterstreichen. Erst wenn den Menschen, die ihr Wissen vornehmlich aus den Massenmedien beziehen, nicht nur das ungeschlachte Kesseltreiben in den Zeilen der Zeitungen begegnet, sondern dazu auch in Nebensätzen unterstreicht wird, "was Sache ist"; wenn also Nebensächlichkeiten, wie die Reasozialisierung eines Peter Hartz, mit der Mär von der notwendigen Motivation untermauert wird - erst dann wird evident, dass das "was Sache ist" wohl auch das ist, "was Wahrheit ist". Das laute Bombardement, Hand in Hand mit der stillen Indoktrinierung, verfestigen Ressentiments, machen sie zu herrschenden Wahrheit, zur Wahrheit des Moments, zur austauschbaren Wahrheit. Ein Dauerbeschuß, der immer und immer wieder Geschosse in den Köpfen der Leser, Zuhörer und Zuschauer explodieren läßt, bewirkt nichts, solange der Beschuß nicht hin und wieder (und von da ab immer öfter) durch die leise Melodie dieses Gedankengiftes ersetzt wird.

Und so schreiben Printmedien allesamt, dass Peter Hartz antreten wird, Langzeitarbeitslose zu motivieren - und damit treten die Konnotationen dieses Satzes in den Vordergrund: "Faules Pack", "brauchen einen Tritt in den Hintern", "Druck erzeugen", "mit Sanktionen ködern", "arbeitscheues Gesindel"! Aber journalistisch fadenscheinig ist ja nur die BILD-Zeitung. Hier trifft zu, was Herbert Marcuse in seinem Essay von 1965 erkannte: Die Berichterstattung, die weder ethisch noch unethisch ist, die einfach nur berichtet - was heute mehr denn je zweifelhaft ist, denn "einfach nur berichtet" wird in den seltensten Fällen; Hintergedanken bestimmten immer das agenda setting -, die also nicht wagt, sich kritisch zu einem Ereignis zu äußern, wird zur Gefahr für die öffentliche Ordnung, wird zum Moment stiller Konditionierung der Leser, wird eben zur "repressiven Toleranz", weil sie tolerant ist gegen die Unmenschlichkeit.

Anstatt also zu fragen, was ausgerechnet ein Peter Hartz an Motivationen zu bieten hat, was er den Langzeitarbeitslosen im Saarland - dort soll das neue Hartz-Projekt zunächst ausprobiert werden - wohl Gutes tun will, steht nur das Nichtssagende und Belanglose im Text: Er will motivieren. Wie? Warum? Mit was? Will er etwa das VW-Modell in die JobCenter tragen, also Bestechungsgelder bezahlen oder sonstige Zuwendungen an die Arbeitslosen weiterreichen? (Natürlich anrechnungsfreie Zuwendungen, die nicht vom Regelsatz subtrahiert werden.) Will er sie erstmal auf eine Luxusreise schicken? Werden mehrere Bordellbesuche finanziert? Kurzum: Vom Inhalt von Hartz V war nichts zu lesen; und ein guter Journalist spekuliert nicht - spekulieren darf er nur bei den niederen Beweggründen von Langzeitarbeitslosen, da darf er vermuten und seine Vermutungen wie die Offenbarung des Herrn verkaufen. Und ob es sich bei Peter Hartz, dem verurteilten Veruntreuer von Firmengeldern, nicht etwa um einen agent provocateur der neumodernen KP handelt, der LINKEN also, wurde auch nicht gefragt. Möglicherweise wurde Peter Hartz von der Kommunistenmeute konspirativ dazu angehalten, im Namen der etablierten Parteien weiterzupfuschen, damit ebendiese Parteien - und damit die Demokratie an sich, würde nun manches Schmierblatt plärren - unmöglich gemacht werden und in der kommenden Landtagswahl im Saarland (im August 2009) nicht mehr wählbar erscheinen. Hartz als verfrühter Wahlkämpfer für Lafontaine? Als Parteienzersetzer von Innen heraus?

Denn auch so, auch polemisch, mit spitzer Feder, hätte man Hartzens neuerliche Show andeuten können. Hätte man, das heißt eher: wenn man je dieses Anliegen gehabt hätte, dass ein solcher Mensch (ein heuchlerischer Doppelmoralist, der den Verdammten unserer Gesellschaft angebliche Hilfe zukommen lassen will, während er sich selbst geholfen hat, als er noch bei VW Gelder verwaltete), zu keinem Ruhm und keiner Ehr' mehr komme. Doch Hartz ist gerade gut genug, die Dreckarbeit zu machen mit diesem faulen Gesindel. Daher will man ihn nicht verunglimpfen...

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Bei Klar sehen die Medien nicht besonders klar

Dienstag, 25. November 2008

Sachliche Berichterstattung - eine Begrifflichkeit aus der Vergangenheit. Dieser Tage ist zu beobachten, wie aus einem Ereignis, welches für die Öffentlichkeit relevant ist, eine Kampagne wird; wie man bemüht ist, jegliche Form der Berichterstattung im Keime zu ersticken, um den niederen Instinkten der schreibenden Gilde allen nötigen Raum zu verleihen. Indes kann man von Christian Klar halten was man mag - er hat gemordet und seine nihilistischen Anwandlungen sind schwer nachvollziehbar. Doch in einem Rechtsstaat, den die Politik ja immer wieder als gegeben ansieht, wenn es z.B. darum geht, das Unrecht des Zweiten Sozialgesetzbuches als rechtsstaatlich abgesegnet zu rechtfertigen, hat auch ein solcher Mensch, der verfehlt, gemordet und sich geirrt hat, vollen Anspruch darauf, wie ein Mensch behandelt zu werden. Und, was noch wichtiger erscheint, er hat Anspruch darauf, nochmals eine Chance zu erhalten, ein einigermaßen freiheitliches Leben zu führen.

Nach 26 Jahren, die beste Zeit seines Lebens hat er in Haft verbracht, sollte der Zeitpunkt dieser zweiten Chance gekommen sein. Reue spielt dabei keine Rolle, ist juristisch betrachtet nicht maßgeblich. Wir bewegen uns juristisch im Wechselspiel zwischen Schuld und Sühne - und beides war gegeben und wird bis zum Januar 2009 aufrechterhalten. Reue ist irrelevant, mit seinem Gewissen wird Klar aber weiterhin leben müssen. Die angebliche Gewissenlosigkeit eines Mörders scheint eine jener Märchen aus dem Lager derer zu sein, die eine Kategorisierung des Menschen in gut und böse benötigen - aber jeder von uns trifft Entscheidungen, keine Morde fürwahr, aber doch Entscheidungen, die wir als richtig und einzig gangbar erachten. Und obwohl wir von der Richtigkeit überzeugt waren, von dem Muß der Entscheidung wissen, plagen uns nachher Zweifel, meldet sich unser Gewissen. Diese Gewissensbisse werden auch Christian Klar quälen, auch wenn er (vielleicht immer noch) meint, er habe das Richtige getan. Vielleicht würden diejenigen, die Reue verlangen, zufrieden sein, wenn Klar von seinen Gewissensbissen erzählen würde - aber es steht ihm frei, sich nicht darüber äußern zu müssen. Auch ein Mörder hat Persönlichkeitsrechte, die man respektieren muß - dies entspricht dem Rechtsstaatsprinzip.

Nun kriechen freilich wieder all jene aus ihren Löchern, die schon vor über einem Jahr, als Klar ein Gnadengesuch einreichte, wie von der Tarantel gestochen Hetzschriften produzierten. Und was bei einer solchen medialen Kampagne gegen Klar geschieht ist nichts anderes, als sich gegen den Rechtsstaat auszusprechen. Nebenbei bleibt natürlich auch der gute Stil unabhängiger Berichterstattung auf der Strecke, macht damit einer kollektiven Tollwut Platz, die es erlaubt, dass man als Journalist wie wild um sich beißen, den Mörder zerfleischen darf, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen. So erkennt Franz-Josef Wagner in Klar immer noch einen gefährlichen Zeitgenossen und schürt damit Hysterie. Dass Klar schon vor Jahren bekannt hat, niemals mehr zurück in den bewaffneten Kampf zu gehen, dass er vor Jahren im Spiegel äußerte, dass er das Leid der Familien bedauere, davon will Wagner nicht schreiben. Einar Koch hingegen, seines Zeichens auch einer dieser glorreichen BILD-Kommentatoren, fühlt sich ins Gesicht geschlagen. Er schreibt wirre Sätze zur Gutachter-Bürokratie und von Sozialprognosen, die oft nicht stimmen würden. Als ob eine Prognose ein unumstößliche Gewissheit sei - es gehört zum Wesen der Prognose, dass sie fehlerhaft sein kann, sie ist ja nur ein Abwägen und ein Spiel mit Möglichkeiten, aufgebaut auf empirischen Eindrücken. Was sie nicht ist, ist Hellseherei! Das spielt aber für Einar Koch keine bedeutende Rolle, denn um Eindruck zu schinden, d.h. um seine Tirade emotional zu unterstreichen, muß man Begrifflichkeiten auch mal beugen und an ihnen herumziehen wie an einem Stück Gummiband.

Aber auch außerhalb der engen Räumlichkeiten des Springer-Verlages ist man sich einig darüber, dass 26 Jahre Haft nicht ausreichen, um das Morden Christian Klars gerecht zu bestrafen. Indirekt spricht man sich damit für eine lebenslange Freiheitsstrafe aus, die sich auch wirklich an der Lebensdauer des jeweiligen Häftlings bemisst. Oder anders: Hinfort mit der zweiten Chance! Weg mit der Resozialisierung! Vorbei die Zeiten, in denen man sich bedingungslos dafür aussprach, jedem Verurteilten die Möglichkeit zu geben, irgendwann wieder die Freiheit zu erlangen! Überhaupt mutet es heute selbstverständlich an, Mörder wie Christian Klar als Terroristen zu bezeichnen, als eine Art politischen Häftlings - gerade davor hatte man sich aber einst, als man über die RAF zu Gerichte saß, distanziert. Die RAF war eine Räuberbande, keine politische Gruppierung, dessen war man sich einig - heute aber, da es passender dünkt, nicht von Mord sondern von Terrorismus zu sprechen, spricht man Klar den Status des politischen Häftlings indirekt zu. Für solche Feinheiten ist in der Hitze des Gefechts, mit allerlei Schaum vorm Mund, selbstverständlich keine Zeit mehr. Und als sich Klar vor einem Jahr dahingehend äußerte, dass er dem Kapitalismus nichts abgewinnen könne, plärrten schon wieder welche, dass er damit bewiesen hätte, noch nicht reif für die Freiheit zu sein. Als ob der Kapitalismus, in den er hinausgegangen wäre, den Weg in die Freiheit bedeutet hätte! So besehen gilt Klar für jene Kreise, die nun klagen und sogar Bundesverdienstmedaillen zurückgeben, als politischer Häftling - damit führen sie die Hatz ad absurdum, denn aus politischen Gründen rechtfertigt sich in diesem Land keine Haft. Nur für solche Sichtweisen und Erkenntnisse, mit dem nötigen Gefühl für Worte und Begriffe, haben es die Hetzer und Rechtsstaatsatomisierer nicht.

In diesem Land haben andere Mörder, Helfer von Mördern, Anstalts- und Lagerleiter, mordende Ärzte, todbringende Richter und Mitläufer der Mordmaschinerie schon wesentlich kürzere Haftzeiten erteilt bekommen - und dabei genauso gemordet wie Christian Klar. Viele von ihnen gingen sogar ohne Strafe durch ihr Leben. Und andersherum betrachtet: Die Schleyers und Pontos treten immer wieder auf, wollen standhafte Richter, die einen Klar nie mehr in Freiheit lassen, zudem wollen sie erfahren, wer ihren Ehemann, Vater, Bruder getötet hat - das wollten die Hinterbliebenen auch, die wußten, dass ihre Familie im Konzentrationslager ums Leben gekommen sind. Und sie hätten es auch gerne gesehen, wenn die Mörder und Mordhelfer lange, sehr lange in Haft geblieben wären. Da lief keine der bürgerlichen Printmedien auf, um sich moralisch zu entrüsten - die damaligen Mörder brauchten ja auch keine zweite Chance, weil sie noch immer mit ihrer ersten Lebenschance ausgestattet waren.

Bei der Art und Weise wie heute über Christian Klar berichtet wird, kann nur schlußgefolgert werden, dass man ihn als politischen Häftling betrachtete und noch immer betrachtet. Das ist zuviel der Ehre, das hat dieser Mann gar nicht verdient! Aber mit diesem Brett... ach was, mit diesem gigantischen Sägewerk mitsamt Holzbrettlager vor dem Kopf, erkennt man nicht einmal, dass man diesem Mann mehr Beachtung schenkt, als ihm zusteht. Und vorallem erkennt man nicht, dass man mit dieser Form der Hysterie, mit der Verunglimpfung des rechtsstaatlichen Prinzips, ebenso terroristische Ansätze zeitigt, gleichermaßen systemfeindlich ist, wie derjenige, der gerade durch den Blätterwald gejagt wird.

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Ridendo dicere verum

"Weil wir gerade bei diesen Terroristen waren, fällt mir noch was ein. Und zwar zu diesem Gnadengesuch von Christian Klar, diesem Ex-RAF-Terroristen. Wobei, ich sags ganz offen, der interessiert mich als Mensch überhaupt nicht. Was mich interessiert ist unser Rechtsstaat. Wir müssen ihn ja beschützen, der wird ja angegriffen von allen Seiten. Und da hat mir ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung sehr geholfen: Das dumme Gewäsch unserer selbsternannten Einserjuristen, vom Schlage Stoiber, Söder, Westerwelle, ist von keiner Sachkenntnis getrübt. Es ist grober Unfug, juristisch betrachtet, dass Christian Klar sich die Gnade verdienen muß. Das muß er eben nicht! Und warum nicht? Weil es das Wesen der Gnade ist, dass sie unverdient ist. Verstehen Sie? Gnade ist unverdient! Unverdiente Gunst. Herablassendes Wohlwollen der Obrigkeit. So ist Gnade im Brockhaus definiert. Es ist ein Instrument der Macht. Bei Immanuel Kant zum Beispiel: Er fand Gnade ist die schlüpfrigste unter den Rechten des Souveräns, quasi die hübsche Schwester der hässlichen Willkür. Und so wie die Gnade ein Akt der Macht ist, ist die Bitte um Gnade der Akt der Unterwerfung. So betrachtet, ist das Gnadengesuch von Christian Klar, eine Unterwerfungsgeste. Eine tiefe Unterwerfung, unter den staatlichen Herrschaftsanspruch. Tiefer kann ein Christian Klar überhaupt nicht sinken, als von einem Bundespräsidenten Köhler, Gnade zu erlangen. Horst Köhler, als Sparkassendirektor in den Augen von Klar ein Büttel des Kapitals, ins Amt geraten durch niedere parteipolitische Ranküne in der Einbauküche von Guido Westerwelle – und von einem solchen Mann Gnade zu erfahren, von diesem Kniefall, würde sich der Klar nie wieder erholen. Mit ein wenig Hirn, mit weniger Schaum vorm Mund und ohne ideologischem Brett vorm Hirn, müßte man doch diesen Triumph des Staates erkennen können."
- Georg Schramm alias Rentner Lothar Dombrowski, „Neues aus der Anstalt“ am 20. März 2007 -

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Die Würde des Kindes scheint antastbar

Montag, 24. November 2008

Kinder kosten Geld - Nerven sowieso. Sie scheinen Auslaufmodelle zu sein, somit auch das Elterndasein - als Folge oder als Ursache? Eine niedrige Geburtenrate rechtfertigt diese Annahme. Kinder sind Störfaktoren, dürfen dort den Rasen nicht betreten und an anderer Stelle nicht mit dem Ball spielen, müssen nach der Schule in Tagesstätten aufgeräumt werden und sollen daheim gefälligst problemlos tun, was man von ihnen verlangt. Gute Schulnoten sind das Mindeste, was sie der Erwachsenenwelt zurückgeben können. Schweigsam sollen sie sein, intelligent, verrückt danach, etwas zu lernen, aber nicht, damit sie ihre Neugier befriedigen, sondern um eines Tages darauf eine berufliche Zukunft aufzubauen. Eines Tages? Warum nicht sofort? Und überhaupt, warum geht man nicht daran, den Kosten- und Störfaktor Kind nutzbringend zu verwursten? Wir leben doch in einer durchökonomisierten Welt, in der alles seinen Wert am Nutzen profilieren muß. Wenn Kinder also vorallem Nachteile mit sich bringen, wenn sie kosten und stören, wenn sie einen unkalkulierbaren Zeitaufwand bedeuten, welchen Nutzen haben sie dann?

Diese Frage ist in diesen Tagen nurmehr als Frage aus der Vergangenheit denkbar. Einer sozialromantischen Vergangenheit natürlich. Judith Wilske - Ökonomin und Theaterregisseurin - hat die Problematiken einer Zeit erkannt, die an ihren Kindern nicht mehr glücklich zu werden scheint, weil sie diese nur mittels Kosten und Nutzen abwägt und nach Soll und Haben unterteilt. Nein, Kinder sollen nicht nur Aufwand bedeuten, sondern... nein, falsch, nicht elterliche Freude am Aufwachsen und Gedeihen des Sprößlings oder gar Herausforderung, den kleinen Menschen nach den eigenen Werten und Vorstellungen zu erziehen. Das ist altmodischer Kram, der nicht mehr ins Heute paßt, nicht mehr modern ist. Kinder sollen also nicht nur Aufwand bedeuten, sondern Nutzen. Kein idealistischer Nutzen, keine seelische Variante des Nutzenbegriffes, sondern handfester, ökonomischer, monetärer Nutzen. Unternehmer sollen sie sein! Wertvolle Mitglieder der Gesellschaft oder genauer: des freien Marktes! Da hat Wilske den Zeitgeist an den Hörnern gepackt, um ihn in ihr dubioses Konzept zu packen.

Von der Würde unserer Kinder reden wir viel in dieser Gesellschaft. Wir wollen uns scharf abgegrenzt sehen zu früheren Tagen menschlicher Geschichte, in denen Kinder nichts weiter als kleine Ausgaben von Erwachsenen darstellten, in denen sie zu arbeiten und Verantwortung zu übernehmen hatten, also keine Kindheit, wie wir sie aus dem 20. Jahrhundert kennen, besaßen. Dabei wollen wir ihnen eine lebenswerte Kindheit garantieren, unbeschwerte Momente, die mit ihrem Altern immer seltener zu werden drohen. Schöne Reden, nichts weiter! Und was hält die Realität für uns, für unsere Kinder bereit? Wir sehen zu, wie Kinder in Armut gestürzt werden, wie man das Kindergeld armer, auf Arbeitslosengeld angewiesener Familien mit den Regelsätzen verrechnet, während Kinder aus reichem Hause selbiges in die Kaffeekasse einbezahlt bekommen; wir erlauben einen hemmungslosen Leistungsdruck an unseren Schulen, werfen die noch hilflosen Wesen in einen knallharten Wettbewerb, sehen zu, wie sie sich gegenseitig zerfleischen; und dann setzen wir auch noch eine aus dem Ruder gelaufene, theaterspielende Ökonomin auf sie an, die ihre kindlichen Köpfe mit allerlei unternehmerischer Rationalität vollstopfen soll. Ist das die Würde, von der man immer wieder spricht? Die Entfremdung des Kindes als Maßstab kindlicher Würde?

Aus kleinen Menschenwesen sollen schon unternehmerische Roboter werden. Kindliches Denken, Kindisch- und Kindlichsein ist verpönt. Stattdessen sollen sie kalkulieren und abwägen, sollen, anstatt das zu tun, was sie wollen - was ja Ausdruck kindlicher Selbstfindung ist -, berücksichtigen, was ihre Kunden wollen. Zucht und Ordnung von Kindesbeinen an! Einst lernten sie Disziplin unter Tage, heute sollen sie das als Unternehmer tun. Ihre Individualität, der kindliche Spieltrieb, das Erfahren der Welt durch kindliches Spiel folglich - alles dahin, alles nicht mehr zeitgemäß! Die Würde des Kindes bedeutet heute, dem Kind zu garantieren, ein Leben als Erwachsener führen zu können; ein Leben führen zu können, das vollgepackt mit dem Wahnsinn der erwachsenen Welt ist - mit ihrem Wettbewerbsfetisch, mit ihrem lasziven Hang zum freien Markt und mit der Freude an Ausbeutung, ungerechter Verteilung, Unterdrückung und der Beseitigung jeglichen Solidaritätsgedankens. Dies ist pure Reaktion, Rückwärtsgewandtheit, Ewiggestrigkeit. Das Kind ist wieder, wie schon einst, kleiner Erwachsener, geschrumpfte Variante des Ausgewachsenen. Erneut wird konkret, was sich am herrschenden Zeitgeist immer wieder, mehr und mehr, sichtbar macht: Er ist Ausdruck von Rückschritt, beseitigt was jahrzehnte- und jahrhundertelang als Errungenschaft galt. Hinfort mit Arbeitnehmerschutzgesetzen - die gab es früher doch auch nicht; weg mit Freiheitsrechten - quasi als Hommage an die Karlsbader Beschlüsse; und verdammt sei die kindgemäße und beschauliche Kindheit - arbeiten sollen die faulen Bengel, das tat ihnen in früheren Zeiten doch auch gut!

Natürlich werden die herrschenden Kreise, die mit den menschenverachtenden Denkstrukturen unserer Tage bestens befreundet sind, nicht müde, ein solches Projekt zu loben. Der Kindunternehmer fördere das Beste im Kinde, mache einen Wettbewerber mit Leib und Seele aus ihm, bringe die Vorzüge seines Charakters ans Licht. Diese mittlerweile verschlissenen Weisheiten der neoliberalen "Schule" und deren fehlender Wahrheitsgehalt außer Acht lassend, stellt man sich die Frage: Was ist denn der Preis, den die Kinder dafür bezahlen müssen? - Antwort: Sie werden sich selbst entfremdet, werden mit fadenscheinigen Werten und bornierten Sichtweisen aus der Erwachsenenwelt verseucht; sind des eigenen Denkens beraubt, bewegen sich in vorgefertigten Denkbahnen und sind zum Nachplappern erwachsener Kommerzwahnsinnigkeiten verdammt. Soll das Kindeswürde sein? Entspricht das dem neuen Bild, dem neuen Ideal einer Kindheit? Soll aus der Kindheit des 21. Jahrhunderts wieder eine solche werden, in denen das Kind als kleiner Erwachsener zu gelten hat? Eine Kindheit ohne Kindsein, dafür vollgestopft mit Verantwortungen, Wettbewerben, Unternehmertum, ökonomischen Kategorien und allerlei Erwachsenem mehr?

"Kinder zu Unternehmern" ermöglicht Kindern von 3 bis 14 Jahren die Gründung ihres eigenen Unternehmens - so behauptet es das Projekt von sich selbst. Dies darf durchaus als Drohung verstanden werden. Als Generalangriff auf die Kindeswürde, auf die Errungenschaft des letzten Jahrhunderts, nämlich jedem Kind eine Kindheit in Spiel und Freude, zumindest theoretisch, garantieren zu wollen. Weil wir die Unbeschwertheit des Kindes, über Jahrzehnte hinweg, als Idealzustand und soziale Errungenschaft gewürdigt haben, entrüsten wir uns über Kinderarbeit in der Dritten Welt - die nebenbei bemerkt, gerade auch von westlichen Unternehmen gefördert wird -, verurteilen wir Gesellschaftsstrukturen, in denen Kinder ökonomischer Faktor sind und sich nicht Selbstzweck sein dürfen. Diese historisch gereifte Einsicht, wonach wir in der Garantie, Kindern eine möglichst unbeschwerte Kindheit zu verwirklichen, eine kulturelle Höchstleistung errungen haben, wird mit solchen Projekten, mit dem Klima, dem man unsere Kinder immer häufiger aussetzt, einfach verworfen.

Ursula von der Leyen spricht viel vom Schutz, den sie Kindern gewährleisten will: Hier hätte sie einzugreifen, hier könnte sie unter Beweis stellen, dass sie sich nicht nur im vornehmen Gefasel versteht, sondern auch im Handeln. Stattdessen wird sie wohl Wilske als innovative Pädagogin loben, als Vorbild und Vordenkerin. Und wir, die wir daran Anstoss nehmen, gelten einmal mehr als rückwärtsgewandt, unmodern und ewiggestrig...

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In nuce

Samstag, 22. November 2008

Nachdem das Versammlungsgesetz, welches in Regierungskreisen "Versammlungsrecht" genannt wird, in Bayern bereits installiert ist, fühlen sich andere Landesregierungen ermutigt, ebenso rigiden Gesetzesentwürfen den Hauch des Lebens einzuatmen. So auch die Regierung Baden-Württembergs, die das bisher gültige Versammlungsgesetz verschärfen möchte. Wie damals in Bayern, so berichten auch die regionalen Medien in Baden-Württemberg kaum davon. Wenn man aber die Politik doch damit konfrontiert, dann winkt man unheilschwanger mit vermeintlichem Terrorismus, der einen solchen radikalen Schritt rechtfertige - der Gedanke drängt sich auf, dass die Landesregierungen, die politischen Eliten allgemein, der Ansicht sind, dass das Volk zum Terroristen werden könnte. Bevor also Massen auf die Straße gehen, um gegen die Umverteilung von Unten nach Oben zu protestieren, wenn die Menschen also irgendwann einmal zur der Einsicht gelangt sind, dass die 500 Milliarden nicht zu ihren Lasten gehen dürfen, auch nicht der mögliche Kredit an Merckle oder an Opel - bevor diese Erkenntnis also in der Masse reift, muß per Gesetz geregelt sein, wie man solche Erkenntnisse wieder effektiv aus den Köpfen herausprügelt. Die Versammlungsgesetze des deutschen Südens sind also ein Akt der Voraussicht und Musterbeispiel für weitere Landesregierungen - ob das auf unionsgeführte Länder beschränkt bleibt, darf ebenso bezweifelt werden. Vielleicht nennt die SPD das Ding anders und verschärft es unter fremden Namen nochmal um einige repressive Paragraphen - ist ja nicht so, als hätte es sowas noch nie gegeben.
Noch aber kann man sich versammeln...

Vielleicht kommt ja alles nicht so schlimm, wie man das pessimistisch annimmt. Immerhin fand vor einigen Wochen eine öffentliche Versammlung statt und die bayerische Polizei ist nicht mit Knüppeln zwischen die Demonstranten hindurchgeritten. Da liefen die Angestellten der Bayern LB auf, um ihrem Chef Kemmer den Rücken zu stärken - er sollte nicht von der neuen Seehofer-Regierung ausgewechselt werden. Man wollte dem Willen Ausdruck verleihen, dass die Politik sich solche Entscheidungen zu verkneifen hat, sich also nicht in firmeninterne Angelegenheiten einzumischen habe. Die Mehrzahl der Bundesbürger sieht das übrigens ähnlich: Die Politik hätte sich da nicht mit 500 Milliarden Euro einmischen dürfen! Jedenfalls wurde protestiert, sich versammelt, aber die Staatsmacht hielt still. Man muß eben nur für das Richtige zusammenfinden, nicht für Rechte oder gegen Sozialabbau, doch für einen Millionär darf sich versammelt werden - das fördert das Betriebsklima und erzeugt den Anschein, dass der kleine Angestellte ein Teil der Bayern LB-Familie ist - bis zu einem möglichen Rauswurf, bei dem Kemmer nicht mit dem Schild vor der Zentrale aufläuft, um einem Herrn Müller oder einer Frau Meier ihr Leid zu ersparen. Und wenn sich Kemmer und seine Kollegen aus der Vorstandsetage doch versammelten, wenn sie meinten, einen Akt der Solidarität starten zu müssen: Die Polizei würde wieder nicht einprügeln, würde wieder zusehen und dem Versäumnis, eine solche Versammlung nicht 72 Stunden vorher angemeldet zu haben, mit gütigem Lächeln entgegentreten; selbst die Uniformierung - Anzug und Krawatte - der Herrschaften würde geduldet, obwohl das sogenannte Militanzverbot das nicht dulden würde. Man sieht: Alles nicht so schlimm! Es darf sich ja noch versammelt werden - nur aus richtigem Grunde muß es sein!

Ein Japaner will ein Comic-Mädchen heiraten, wurde kürzlich berichtet. Eine kuriose Neuigkeit! Da lebt einer in seiner ganz eigenen Welt. So kurios ist das aber gar nicht! Unsere Politik läuft schon seit Jahren irgendwelchen Hirngespinsten hinterher. Wenn Merkel feststellt, dass die Reformen fruchten, dass es weniger Arbeitslose gibt - die ja allesamt gut untergebracht und verstaut sind -, dann ist das dem Heiratsabsichten dieses Japaners sehr ähnlich. Und als eine ganze Wirtschafts- und Politelite vom Aufschwung fabulierte, sogar meinte, dieser käme bei den Menschen an, dann kommt das beinahe einem Beischlaf mit Biene Maja gleich. Man kann dem verliebten Mann durchaus gewähren, seine skizzierte Angebetete zu ehelichen: Wir erlauben ja unseren Eliten auch ihr Leben in ihrer eigenen Welt. Gleiches Recht für alle!

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Jedermanns Liebling

Er kommt aus bürgerlichem Hause, entstammt einer Kaufmannsfamilie. Sein Großvater schlug 1920 als Freikorpsführer den Ruhraufstand nieder; sein Vater war Journalist und als katholischer Vertreter seiner Zunft bekannt. Sein Nachname findet sich in der Geschichte Hamburgs wieder, war der Name eines Notabeln- und Großbürgergeschlechts - in dieser Tradition seiner Familie tritt er heute auf: abgehoben, überheblich und konform mit den herrschenden Lehren und Herrschaftsverhältnissen.

Er sprach für die Kampagne "Du bist Deutschland", ließ in einem weiterführenden Interview betreffend dieser Kampagne anklingen, dass das ewige Jammern derer, die meinen benachteiligt zu sein, ein Ende finden müsse - "nicht jammern, sondern anpacken" sei das Gebot der Stunde. Der Einkommensmillionär tut sich leicht mit solchen Floskeln. Selbst bedient er sich wahllos am Markt möglicher Werbeangebote, ist nicht selten pro Werbeblock mit drei von ihm beworbenen Produkten vertreten.

Er leitet Fernsehsendungen, ist Quiz- und Boulevardmoderator. Mal gibt es sich bürgerlich kokett, wenn er beispielsweise seine Kandidaten nach deren Besitzstands- und Vermögensverhältnissen fragt, um dann mit der Nase zu rümpfen, wenn sie nicht seinen Vorstellungen entsprechen, mal ist er blitzgescheit und neunmalklug, wenn er glaubt, sich in irgendeiner Weise politisch bzw. zu sozialen Mißständen äußern zu müssen. Bei "Wetten dass..." war es ihm scheinbar eine Herzensangelegenheit, auf Andrea Ypsilanti einzudreschen, wenngleich nur mit einer verächtlichen Nennung alleine ihres Namens. Und als ein Kind eine Wette bestritt, erkannte er darin, dass "dies einmal ein Kind sei, das was leistet" - so tief ist das herrschende Weltbild der Eliten, mitsamt ihrem zweifelhaften Leistungsprinzip und dem pessimistischen Menschenbild, in ihm verankert.

Er wirkt antiaufklärerisch, lädt Aufklärer aus seiner Sendung aus, um Volksverdummern ein Forum zu bieten. Die Giordano-Bruno-Stiftung verkündete dazu, dass er damit "das irrationale Denk- und Erklärungsmuster in der Bevölkerung weiter verankert". Seine Zusammenarbeit mit Uri Geller 2004 bestätigt dies, seine Produktionstätigkeit bei Sendungen wie "Unglaublich!" ebenso. Für Hasso Plattner, einem Berater des neoliberalen Schröderianers Steinbrück, hält er Vorlesungen zum Thema "Erfolg" - er fühlt sich selbst als Prototyp des erfolgreichen Machers. Seine familiären Vorteile spielen keine Rolle, seine Herkunft scheint seinen Erfolg nicht nur zu garantieren, sondern auch zu legitimieren. Ihm steht der Erfolg von Geburt aus zu, deswegen darf er den Erfolgspastor mimen, darf davon predigen.

Er ist der Liebling der Massen, erhielt 2003 eine Auszeichnung, wonach er der "meistgewünschte Fernsehstar als Politiker" wäre; 2004 zeichnete man ihn mit dem Charity-Oscar der BILD-Zeitung aus; 2005 war er der beliebteste Deutsche. Fernsehpreise aller Art wurden ihm sowieso zuteil. Schwiegermütter träumen von ihm - er ist der nette Herr aus dem Fernsehen, immer vornehm auftretend, aber auch immer mit einem Stich arroganter Großbürgerlichkeit, mit abgehobenen, dennoch biederen Elitetum um sich werfend.

Er befragt die Kandidaten und Gäste seiner Sendungen nach deren Lebenslagen, nach Ehen und Kinder, nach Beruf und Freizeitgestaltung, nach Wohnverhältnissen und Kraftfahrzeugen. Bescheidene Wünsche seiner Kandidaten belächelt er spöttisch. Er selbst gibt nichts von sich preis, selbst hält er sich bedeckt, will seine Hochzeit aus den Medien haben, will die ansonsten so geschätzte Öffentlichkeit verbannen - dies, das versteht sich qua seines Status von selbst, auch mit gerichtlichen Schritten. Ein großbürgerliches Leben will schließlich geschützt sein!

Kaum einer wird von Fernsehen und Printmedien so verklärt, wie "der ach so freundliche und gemeinnützige Günther Jauch". Überall geht er als Musterbeispiel deutscher Prominenz durch, ist everybodys darling, Charmeur, Gentleman und neckischer Spitzbub. Während er mit elitärer Arroganz gegen jene schießt, die seinem Status nicht entsprechen, verdient er sich mit seiner TV-Produktionsgesellschaft eine goldene Nase und überschwemmt die TV-Landschaft mit Sendekonzepten, die höchst zweifelhaft und qualitativ minderwertig sind. Er gilt als Mann mit Stil und ist doch Hauptverantwortlicher für das unerträglich stillose RTL-Programm. Jauch ist einer jener moralisierenden, obrigkeitstreuen und nachplappernden Gecken, die viel von Leistung schwafeln und sich dabei selbst als lebendes Exemplar des Leistungsträgers ansehen - weil sie sich leistend fühlen - das oft unbeschreibliche Glück und die Segnungen, ein Kinderbettchen im "richtigen" Haus gehabt zu haben, werden ausgeblendet -, meinen sie, sie könnten jedem, der in Not geraten ist, der ob seiner Situation "jammert", mit klugen Phrasen und dahinphantasierten Konzeptideen auf den Pelz rücken.

Jauch ist Spiegelbild dieser Gesellschaft, gleichzeitig - man betrachte die Sendekonzepte, die unter seiner Ägide entstehen - ebenso Verdummer und kommerzialisierter Medienliebling, der knallhart solche "Qualitäten" aufweist, die die Apologeten des homo oeconomicus als erstrebenswert erachten. Der Liebling der Massen ist vorallem der Liebling der Eliten, ein Aushängeschild und wortgewandter Vertreter elitären Lebensentwurfes - seinem bekannt gewordenen Sparsamkeitssinn, der zum Geiz neigen soll, zum Trotz. Oder gerade deshalb: Denn da lugt der Spießbürger hervor...

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Im Angesicht des Regelsatzes

Freitag, 21. November 2008

Jahrelang gab es kaum kritische Berichterstattung, gab es, ganz im Gegenteil, lediglich Propagandajournalismus in Sachen Arbeitslosengeld II. Allerlei Zumutungen mußte man darüber lesen: angefangen bei der platten Agitation von Seiten jener bekannten Tageszeitung, bis hin zu Sticheleien - auch in bürgerlicheren Medien - über die angeblich fürstliche Höhe des Regelsatzes. Und gerade der Streit um den vermeintlich ausreichenden Regelsatz diktierte immer wieder den öffentlichen Diskurs - nicht-repräsentative Umfragen, initiert von Spiegel, Stern, Focus und wie sie alle heißen, haben immer wieder ergeben, dass die Mehrzahl der Menschen der Ansicht seien, dass er vollkommen ausreichend sei, von 351 Euro im Monat zu leben; eine kleine, besonders weltfremde Minderheit meinte gar, dieser Betrag wäre zu hoch. Nun aber, dank der Aussicht, vielleicht selbst bald einem gigantischen Heer von Arbeitslosen anzugehören, zeigen solche Umfragen ganz andere Resultate auf.

Immerhin, da darf man nicht abwinken und es lächelnd abtun, könnte man bald selbst dazu verdammt sein, ein Leben zu fristen, welches von einem solchen Regelsatz vorgegeben wird. Eingedenk dieser Drohung wird man zu einem barmherzigen Samariter und will der Erkenntnis Ausdruck verleihen, dass die Höhe des Regelsatzes eigentlich genau besehen, die Tiefe desselbigen ist. Dass man mehr Feingefühl an den Tag legen muß, weil der derzeitige Leser womöglich bald selbst zu denen gehört, über die man noch vor kurzem so arrogant und abgehoben berichtete, merken - so scheint es - auch die Printmedien. Freilich ist "der Arbeitslose" oder genauer: "der Hartz-IV-Empfänger" immer noch der Liebling der Hetzschrift, ein verdammungswürdiger Exot, den keiner kennen will, den aber scheinbar jeder kennt, aber über zu niedrige Regelsätze wird, trotz der finanziell angespannten Situation, kaum mehr berichtet. Milde wird man bei den Magazinen und Tageszeitungen, leise wird es um deren einstiges Lieblingsthema und kritisch hinterfragt man es, wenn doch mal ein Verirrter meint, weniger wäre mehr - von den Tönespuckern verkorkster Reformpolitik sei hier die nicht Rede, denn die plärren noch immer die gleichen Formeln wie vor Jahren, haben nichts gelernt. Im Angesicht des Regelsatzes will man eben keine Geister heraufbeschwören, die man später nicht mehr los wird.

Das waren noch Zeiten, als man die, die "ganz unten" waren, "nach oben" schrieb, sie mit üppigen Regelsätzen ausstattete und mit einem fürstlichen Lebensstil. Da hatte man noch ein klares Feindbild, etwas wogegen man anschreiben konnte, ein fein herausgearbeitetes und genau umrissenes Untermenschentum, auf welches keine Rücksichten zu nehmen war. Seinerzeit war Wichtigtuerei gefragt, wenn es darum ging, den Arbeitslosen ihr Leben mit dem begrenzten Finanzmitteln zu erklären - da haben diejenigen, die meinten, sie würden nie in die Freude eines pauschalisierten Regelsatzes kommen, am lautesten gebrüllt. Nun aber, da sich herausstellt, dass es vielleicht doch den einen oder anderen treffen könnte, ist von der vielpostulierten Freude des Arbeitslosendaseins nicht mehr viel übriggeblieben. Jetzt braucht es Feingefühl, zaghaftes Daraufzugehen, denn man will denen, die bisher die Hetzereien gelesen haben, vielleicht sogar eingestimmt haben in den Chor, den Gang ins gesellschaftliche Abseits nicht zu schwer machen - sie gehörten ja einmal zu den Unsrigen!

Über eine solche Form der Einsicht - wenn es denn eine solche sein soll -, kann man sich nur bedingt freuen. Es ist die übliche erzwungene Einsicht, die erst entsteht, nachdem Angst entstanden ist - Mitgefühl aus freien Stücken, fern von Angst und der eigenen drohenden Not, ist ein Fremdwort. Erst als begreiflich wurde, dass man selbst zum Opfer sozialpolitischer Sauereien werden könnte, und dies sogar ganz unverschuldet - nicht wie es immer hieß, weil die Arbeitslosen an irgendeinem Makel litten, der sie zu dem machte, was sie sind -, da wollte man nicht mehr so derb und unachtsam sein, nicht mehr gegen die Geschädigten wettern. Es ist die klein- und spießbürgerliche Einsicht, die in diesem Fall heraufbeschworen wurde; eine Einsicht, die nur zustandekommt, wenn die eigene Existenz fraglich wird; eine Einsicht, die keine Objektivität kennt, sondern nur das subjektive Empfinden von Angst. Was sich aufdrängt ist der Gedanke, dass so eine Einsicht, auch wenn sie nun letztendlich vielleicht sogar eine wirkliche und wahre Einsicht ist - das darf noch immer bezweifelt werden -, nur Anzeichen von mitmenschlicher Eiseskälte, von Egozentrik und Selbstliebe ist. Am Nächsten hat man das Unrecht nicht erkannt, erst an sich selbst wurde es faßbar, wurde es zum untragbaren Zustand, zum erdrückenden Elend, zum Mißstand, dem man keinen Menschen aussetzen sollte. Hunderttausend wegfallende Arbeitsplätze in der Autoindustrie, die vielleicht Wegbereiter für weitere wegfallenden Arbeitsplätze in vielen anderen Industrien sein können, machen aus den einstigen Draufschläger aus Zeiten des "Aufschwungs" einen Einsichtigen - nicht aus freien Stücken, nicht weil er den Mut hatte, sich seines Verstandes zu bedienen, sondern weil er Angst hat, den selbigen zu verlieren, wenn ihm erstmal der Regelsatz droht.

Wer aber Unrecht und untragbare, unmenschliche Zustände erst durch sich selbst, durch die Wahrnehmung am eigenen Körper, an der eigenen Existenz erkennt, der erkennt auch nur sich selbst, dient nur sich selbst; der erkennt aber nicht das Untragbare, welches am Nächsten geschieht. Es ist nur barmherzig daherkommende Egozentrik...

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Nomen non est omen

Mittwoch, 19. November 2008

Heute: "Modern"
"Menschlich und modern!"
- die CSU auf ihrem Onlineportal -
"Nordhessen-SPD macht geschlossen den Weg frei für eine soziale Moderne."
- die nordhessische SPD am 1. April 2008 -
„Modern“ ist in der Politik ein beliebtes Adjektiv und positiv besetzt. Es steht für Wachstum, Fortschritt, Entsprechung des Zeitgeistes, etwas Neuartiges - Aktuelles und für vermeintliche Innovationen. Dabei fungiert dieses Plastikwort als allgemeines Hilfsmittel zur positiven Aufladung eines Satzes oder Sachverhaltes ohne konkret werden zu müssen. "Wir fordern moderne Familienpolitik", „wir stehen für einen modernen Sozialstaat“ oder „moderne Gesundheitspolitik erfordert mehr Leistung“ sind beliebte Phrasen. Alles was nicht modern ist, ist demnach alt, überholt und schlecht. Dazu zählen dann Akteure und Ideen, die sich nicht dem herrschenden neoliberalen Zeitgeist ergeben. Sie sind als Anhänger von sozialer Gerechtigkeit „alte traditionsbesessene Sozialstaatsromantiker“ und insofern alt, überholt und un-modern. Auch die Ausgegrenzten und von Armut betroffenen werden im Zeitalter der ökonomischen Globalisierung euphemistisch als „Modernisierungsverlierer“ stigmatisiert. Bei genauerer Analyse ist der Begriff eine leere Hülse, ein dehnbares Gummiwort, welches letztendlich keine konkrete Aussage enthält. Modern ist vor allem die mentale, kulturelle und ökonomische Unterwerfung unter die herrschende Ideologie.
Als „modern“ wird außerdem oft die westliche Zivilisation, gegenüber z.B. dem Islam, bezeichnet. Hier soll der Begriff eine kulturelle und moralische Überlegenheit implizieren, was es westlichen Kriegstreibern ungemein erleichtert gegen diese Krieg zu führen, wie z.B. bei dem Irak- oder Afghanistankrieg zu sehen war. Schließlich habe man Krieg gegen primitive, d.h. nicht-moderne, Barbaren geführt.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Das unentdeckte Land

Dienstag, 18. November 2008

Was wartet da im unentdeckten Land auf uns? In jenen Tagen lastet eine dunkle Ungewissheit auf unseren Schultern, von der wir nur wissen, dass sie ist, nicht aber, was sie ist. Wir fühlen uns ausgeliefert, bereits in einen zukünftigen Entwurf hineingeschrieben, verankert in einen uns unbekannten Plan. Wie Figuren Kafkas fühlen wir uns, wie Protagonisten zwischen Gewissheiten des Alltags und nebulösen Vermutungen und unglaublichen Tathergängen des Weltgeschehens. Ständig fragt man sich, was da noch kommen mag, ob denn das Jetzt ein finaler Zustand oder nur der Wegbereiter dessen ist, was uns verschwommen und undurchschaubar nötigt.

Die Menschen vor 1914 fühlten jenen Alpdruck, der sich auch heute mit einer erdrückenden Beharrlichkeit auf uns herabläßt. Sie wußten 1903 oder 1911, die Jahreszahl sei einerlei, dass ein 1914 drohte, auch wenn sie nicht wußten, dass es ebendieses Jahr sein würde. Ihnen war bewußt, dass ein großer Krieg am Horizont harrte, um als vermeintlich reinigendes Gewitter über Europa herniederzugehen. Was den Menschen von 1911 von jenem von 1914 unterschied, war einzig die Gewissheit des zweiteren, wie dieses Unwetter aussehen werde - aber wissend waren beide Zeit-Genossen; der eine ahnend, der andere in der gegenwärtigen Realität gefangen. Den Menschen vor Sarajewo war überdeutlich, dass etwas folgen mußte, etwas Kriegerisches, weil es jener Zeit entsprach. Gleichfalls war den machtlosen Jüngern der Demokratie vor 1933 bewußt, dass die Demokratie ein Auslaufmodell war, vielleicht immer gewesen war in jener Dekade. Sie wußten nicht, ob es Nationalsozialisten oder Monarchisten seien, die das Weimarer Modell stürzen würden, aber sie fühlten, dass die Demokratie so oder so am Ende ist. Spätestens 1929 wußte man, dass aus der Vorahnung Wissen geworden war, kannte man die Grundpfeiler von Deutschlands Zukunft, empfand eine Gewissheit von Ungewissheit, wußte also und wußte nicht was.

Immer wieder zeichnen sich Epochen durch solch schwebende Ungewissheiten aus, die bedrohlich und schattenhaft in der Ferne liegen, aber den Menschen doch so nah sind. Immer wieder erkennen Menschen, dass der derzeitige Moment nur ein Augenblick der Ruhe ist, dem sich ein Sturm aufdrängt. Vielleicht auch in diesen Stunden, diesen Tagen und Wochen. Der Kapitalismus schien zu wankeln, das Finanzsystem glaubte man niedergerungen, nicht durch jene, die benachteiligt sind von diesem System, sondern durch es selbst - der Tyrann hat sich ermordet. Aber er war nicht tot, der Versuch mißlang - nicht einmal zu einem ordentlichen Selbstmord war er fähig. Riesensummen wurden gewährt und über dem unentdeckten Land liegt die bittere Gewissheit, die noch ganz ungewiss gehalten wird, dass wir alle dafür bluten müssen. Gleichzeitig scheint es dort, in diesem fernen Lande, wenig Menschenwürde zu geben, wenig freiheitliches Denken - dort gehen alle uniformiert, alle gleichgeschaltet und an Rechten beraubt zu ihrer nutzvollen Tätigkeit.

Es ist nicht lediglich dieses mögliche Wissen, dass kafkaeske Szenarien weckt, sondern die beängstigende Bedrohung, dass zukünftige Gemeinwesen nurmehr bemantelte Egokratien sind, in denen jeder sich selbst der Nächste ist. Es drückt solcherlei Last auf unseren Schultern, vielleicht bald die Gewissheit zu erhalten, dass - um es mit den Worten Carl Amerys zu sagen - Hitler nur als Vorläufer gedacht werden kann. Die bittere Erkenntnis, dass die Barbareien von einst, gar nicht so isoliert in der Geschichte Deutschlands und Europas stehen, gar keine Anachronismen sind, die in einer modernen und zivilisierten Welt nichts mehr verloren hätten. Wir sehen Guantanamo und denken an Auschwitz; wir wissen von gentechnischen Versuchen und fühlen uns an Begrifflichkeiten wie "Erbgesundheit" erinnert; wir betrachten Angriffskriege mit dem Motiv Frieden in die Welt zu bringen und hören jenen plärren, nur der Angriff im Osten bringe Europa Frieden und verschone uns vom Bolschewismus. Was hat sich geändert, welche wiedererwachten Kontinuitäten lassen uns staunen? Wachsende Unzufriedenheit, die Gier nach den letzten Erdölreserven, Heere von Arbeitslosen, zu alimentierende Senioren und Kranke, die zu Unwerten und Nichtswürdigen erklärt werden, Brandmarkung solcher Nichtsnutze, aufkeimender Militarismus und Uniformismus, Konzentrationslager, selbst in der westlichen Welt - wenn wir das betrachten, drängt sich der Gedanke auf, dass das was einst war, was vor 1945 geschah, kein abgeschlossener Ausrutscher deutscher Geschichte war, sondern Wegbereiter dessen, was da noch kommen mag. Wegbereiter keiner regionalen Variante des Dumpfmenschentums, sondern eine globale Umsetzung, womit das Entkommen nicht einmal theoretisch mehr möglich wird. Angereichert wird diese schöne neue Welt, die mehr einer häßlichen alten gleicht, mit dem modernen Fortschritt, mit den technischen Errungenschaften des verglasten Nutzbürgers. Der vage über uns schwebende Gedanke, dass Hitler und die Seinen Vorboten waren, Ahnherrn einer bitteren Zukunft, wiegt schwer auf unseren Schultern. Der europäische Wahnsinn der Zwanziger-, Dreißiger- und Vierzigerjahre ist kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte, sondern vielleicht eines Tages das Geleitwort zu einer Zukunft, in der es keine Menschen mehr gibt, nur noch humanoide Werkzeuge und Lastentiere.

Ist dem, was da auf uns wartet, dem wir geradewegs in die Klauen laufen, mit etwas Optimismus beizukommen? Ist diese uns molestierende Ungewissheit Ausdruck von Pessimismus oder rationaler Realismus? Dies bleibt hier unbeantwortet, doch irgendetwas, ein großer Knall, ein Paradigmenwechsel, ein historischer Wendepunkt, vielleicht eines Tages ein eigenes Kapitel in einem Geschichtsbuch, scheint auf uns zu warten - ob Optimist oder Pessimist, für uns alle liegt etwas in der Luft, undefinierbar und nur schwer erklärbar. Diese Welt am Rande des Nervenzusammenbruchs, kann kein Dauerzustand bleiben...

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Sit venia verbo

Montag, 17. November 2008

"Wir müssen schnell damit anfangen, von einer "sachorientierten" Gesellschaft zu einer "personenorientierten" Gesellschaft zu kommen. Wenn Maschinen und Computer, Profitbestrebungen und Eigentumsrechte für wichtiger gehalten werden als die Menschen, dann wird die schreckliche Allianz von Rassenwahn, Materialismus und Militarismus nicht mehr beseitigt werden können."
- Martin Luther King -

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Scheinsolidarisierung

Immer wieder sonntags fühlt sich Peter Hahne dazu ermutigt, vor den BILD-Lesern, die am Sonntag als BamS-Leser gelten, seine Gedanken auszubreiten. Was er von sich gibt, ist das übliche Moralisieren und Dozieren, welches während der Woche von weniger prominenten Kommentatoren getätigt wird. Mal heult er sich über Tempelhof aus, ein andermal entrüstet er sich über den Nacktscanner, prangert die diesbezügliche Unmoral an, während sein Arbeitgeber nackte Mädchen auf der Titelseite anbietet - dies freilich nicht an jenen Tagen, an denen Hahne für BILD schreibt; also nicht am Tage des Herrn. Aktuell gibt er den fortschrittlichen Denker aus dem Springer-Haus, lobt die "Schüler auf der Straße" und kommentiert die Ereignisse des Streiks im Gewand des liberalen Feuilletonisten: Zwar hätten die Schüler am Streiktag die Schule geschwänzt, aber sie hätten deutlich gezeigt, um was es ihnen ginge. Nicht der Leistungsdruck und der Prüfungsstress quäle sie, sondern die Einsicht, dass die Schule inzwischen zu wenig leiste. Sie fordern kein Recht auf Faulheit und ein bequemes Leben, ganz im Gegenteil, sie wollen kleinere Klassen, mehr Lehrer, intensiveren Unterricht. Deswegen könnten wir stolz auf unsere Schüler sein.

Die Erklärung, was genau das Einfordern von weniger Leistungsdruck mit Faulheit zu tun habe, bleibt Hahne uns aber schuldig. Und wieso beseitigter Prüfungsstress ein Merkmal von bequemen Leben sein soll, kann oder will er uns auch nicht aufzeigen. Und warum er sich einfach über Fakten hinwegsetzt und so tut, als sei der kompromißlose Leistungsdruck, mit dem Deutschlands Schüler zurechtzukommen haben - was übrigens Deutschlands Psychologen finanziell absichert -, überhaupt nicht Stein des Anstosses, bleibt sein süßes Geheimnis. Denn auf der Internetpräsenz zum bundesweiten Schulstreik läßt sich Folgendes lesen: "Nein zum Super-Stress..." und dazu die Forderung, das sogenannte G8 (Abitur nach 12 Jahren) sofort fallenzulassen. Zwar greifen die Initiatoren des Streiks den Prüfungsstress nicht direkt auf, aber immerhin fordern sie eine Beseitigung der "Kopfnoten" (Beurteilung von Verhalten und Mitarbeit), um sich wenigstens in Charakter und Person nicht geprüft fühlen zu müssen. Und was Hahne auch noch verschluckt hat: Bildungsprivatisierung ist ebenso auf der Liste der Kritikpunkte - dass die BILD, als ausgewiesene Befürworterin der Privatisierung, hier nicht mit offenen Karten spielen will, liegt in der Natur des Blattes.

Der fortschrittliche Peter Hahne, der ganz gegenteilig zur üblichen BILD-Manier, die Schüler nicht ausschimpft, sondern sie als Stolz des Landes hinstellt, versucht in ganz hinterlistiger Art und Weise die wahren Problematiken zu vertuschen und die Motive der Demonstrierenden zu verharmlosen. Er gibt sich fortschrittlich, dabei ist der ganze Fortschritt nur der seiner Vorgehensweise: Er geißelt die Schüler nicht, er lobt sie nun - aber dafür blendet man die Triebfedern aus, die den Streik haben entstehen lassen. Kurzum: Man kanalisiert das wahre Interesse der Schüler, leitet deren Kritik um, um die Problematiken bloß nicht zur Sprache zu bringen, zumindest nicht jene Problematiken, die nicht angetastet werden dürfen. Mehr Lehrer kann man ja gestatten, aber die Rückgabe von Lebensqualität, durch Abbau von Leistungsdruck und Stress, ist unmöglich, denn die Schüler haben sich schließlich an ein langes Arbeitsleben voller Beruhigungsmittel und Stillhaltemedikamente zu gewöhnen.

Hahne verklärt zugunsten des Status quo, gibt sich als gütiger, verständnisvoller Vater, der aber sehr wohl versteht, dass er seine Kinder gar nicht verstehen will...

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Es muß sowieso raus!

Samstag, 15. November 2008

Ebenezer Scrooge, jener geläuterte Charakter aus Charles Dickens "Weihnachtsgeschichte", öffnete am Christtag das Fenster seiner Schlafstätte. Eben hatte er seine Läuterung erfahren, eben erkannte er voller Demut, dass sein vorheriges, sein gieriges und geschäftiges Leben, ein Irrtum war. Nun also öffnete er das Fenster und rief zu einem Knaben hinab, er möge sich schnellstens ins Kontor begeben, um aus der dortigen Speisekammer den alten, nie aufgetischten Schinken hervorholen, den er noch von seinen früheren, seit Jahren verstorbenen Geschäftspartner Marley erhalten hatte. Der Schinken, so rechtfertigte sich Scrooge vor sich selbst, sei zwar bereits streng im Geschmack, zudem trocken und hart, aber mit einer Beilage, die im Geschmack dominiert, würde diese Strenge sicherlich kaschiert werden können. Überhaupt sei das nicht so wichtig, wichtiger sei, dass sich Bob Crachit, sein langjähriger Angestellter, und dessen Familie darüber freuen. Der Gedanke zählt mehr als die Umsetzung. Jedem sei damit geholfen: Crachit, weil er damit den Seinen einen schönen Weihnachtschmaus bereiten könne und ihm selbst auch, weil er diesen störenden Schweinehaxen nun endlich los wäre - selbst verspeisen wolle er ihn sowieso nicht mehr und wer kaufe ihm ein solches Stück vertrockneten Leders noch ab?

So war es natürlich nicht, aber die Geschichte hätte so ein Ende nehmen können, hätte Charles Dickens in heutiger Zeit gelebt und geschrieben. In Wahrheit ließ Dickens den Knaben, auf Scrooges Anweisung hin, zu einem Geflügelhändler laufen, um den großen Preistruthahn zu bringen, der in der Auslage ausgestellt war. Diesen wollte er Crachit und seiner Familie zum Geschenk machen. Er ließ es sich sein Geld kosten, ließ ein hochwertiges Lebensmittel einkaufen, welches ihm selbst schmackhaft gewesen wäre - und später auch war, denn Scrooge blieb zum Essen, erhöhte dort Crachits Gehalt und übernahm alle Kosten für die Behandlung von Crachits kranken Sohn Tiny Tim -, ließ also Qualität zum Geschenk werden. Es ging nicht nur um die gute Absicht des Schenkens, um das "der-Gedanke-allein-zählt", sondern darum, den Beschenkten etwas Gutes zu tun, das Richtige zu tun, nicht weil es als Befriedigung einer Eitelkeit anzusehen wäre, die einen dazu nötigt, die Absicht des Schenkens erfüllt zu haben, sondern weil es ihm eine Herzensangelegenheit war, dass die Beschenkten sich am Geschenk auch laben können.

Wie schon bemerkt: Wäre Dickens heute dazu verdammt, eine solche Geschichte zu schreiben, er würde womöglich eine andere Auffassung von Teilhabe und Mitmenschlichkeit haben, würde den finalen Akt der Geschichte in andere, zeitgemäßere, unserer Zeit gemäßeren Formen gießen, würde das Teilen zweckdienlicher begreifen, weniger selbstlos als in der Geschichte von 1843. Es wäre eine Form des Teilens und der Teilhabe, die sich in den heutigen Auffassungen wiederfinden würde, die sich beispielsweise im Wirken der Tafeln niederschlagen. Würdenträger aus Wirtschaft und Politik loben das Projekt der Tafeln und vorallem auch jene Discounter, die ihre an Haltbarkeitsdatum verfallenen Lebensmittel und Restposten, dort zweckdienlich unterbringen können. Man führe solche minderwertigen Produkte den Armen zu, bevor sie auf der Müllhalde landen - der Konsument mit Geld wäre sich zu schade, solche Lebensmittel zu kaufen, aber derjenige, der auf solche Geschenke angewiesen ist, der giert danach, der wird sich daran erfreuen. Ähnlich verhält es sich mit Läden, die benutzte Schultaschen und Schultüten gegen geringes Aufgeld verschenken. Oder wie war es einst, als uns der Rinderwahn überfiel und wir in dieser Gesellschaft meinten, wir könnten die befallenen Rinder zu den Hungerleidern nach Nordkorea schicken? Diese würden sich, trotz BSE-Verdacht, doch sicherlich über einen vollen Magen freuen...

Es ist ein funktionalisiertes, rationalisiertes Abgeben. Wir geben nicht ab, weil es uns ein Bedürfnis ist und weil wir wollen, dass der Beschenkte sich an der Qualität des Geschenkes erfreut, sondern weil es zweckdienlich sein soll. Bevor es im Müll landet, soll es doch den Notleidenden erfreuen - immerhin steht der Arme noch kurz vor der Müllverbrennungsanlage. Selbstlosigkeit findet sich im Teilen kaum noch, es ist immer ein Kosten-Nutzen-Denken, ein Abgeben mit Hintergedanken. Ginge es den Discountern, die sich an dem Tafel-Projekt beteiligen, wirklich um die Tat, um das Schenken und Teilhabenlassen, dann müßte man denen, die nichts haben, das schenken, was sich solche, die etwas haben, durch Bezahlung leisten können. So aber verschenken sie nur den Abfall, das Minderwertige, das Nutzlosgewordene, das Aussortierte. Es ist ein Teilen auf untersten Niveau, ein Teilen des "Es-muß-sowieso-raus". In diesem Sinne fördern wir ein suppenküchenstaatliches Teilen und glauben, damit sei jedem geholfen. Während die Armen den Dreck fressen sollen, denn die Reichen niemals speisen würden, feiert sich diese Gesellschaft im Glauben, etwas zweckdienliches gegen Armut getan zu haben. Ob man beim Teilen aber das Minderwertige weiterreicht, oder "auf einer Augenhöhe teilt", wird gar nicht mehr formuliert: Die Hungerleider sollen froh sein, wenn sie unsere Abfälle abbekommen!

Eine Gesellschaft des "Iß-oder-ich-muß-es-wegschmeißen" braucht keine Suppeküchen, damit die Notleidenden das aufbrauchen, was die Bessergestellten von ihren Tellern fallen lassen - eine solche Gesellschaft braucht staatliche Garantien, muß den Bedürftigen Gewissheit geben, dass sie an Qualität nicht zurückzustecken haben, nicht zweifelhaft gewordene Produkte verdrücken müssen, um nicht Hunger zu leiden. Die Tafeln können ein Umdenken der Teilhabe nicht bewirken, sie mehren nur den Irrglauben einer falschen, weil vollkommen durchrationalisierten Form des Teilens; eine Form, die besagt: Du kommst noch kurz vor dem Mülleimer; Du bist nützlich, weil Du die Müllhalden fressend verkleinerst; Du bekommst, was uns nicht mehr gut genug ist! Die Tafeln helfen zweifelsohne vielen Menschen, dennoch sind sie das Angesicht des "schlecht Gegebenen", sind sie Träger eines irrigen Denkens und Handelns - sie postulieren nicht Mildtätigkeit die vom Herzen kommt, sondern vernünfteln sich eine Mitmenschlichkeit zusammen, indem sie erzählen, dass es ethisch wäre, schlecht gewordene Lebensmittel an Arme weiterzuverteilen. Die Reste wurde auch schon im Mittelalter an die Bevölkerung weitergeleitet. Man möchte doch hoffen, dass diese Mittelalterlichkeit in einer Zeit, da jeder Mensch mit frischen Lebensmitteln satt zu bekommen wäre, kein Modell für die Zukunft ist.

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Nutzwert oder Wert an sich?

Freitag, 14. November 2008

Stellen wir uns einen Geschichtslehrer der Hauptschule vor. Jung. Voller Elan. Stellen wir uns vor, wie er vor einigen Jahren seine Schüler nach Martin Luther fragte, danach, was dieser Mann in seinem Leben getan habe. Was konkret die Schüler geantwortet haben, wissen wir nicht, was sich der Lehrer aber als Antwort erhoffte, läßt sich erahnen. Womöglich hätte er Antworten wie "Reformator", "gelebt im frühen 16. Jahrhundert", "Augustinermönch", "95 Thesen zu Wittenberg", "Hier stehe ich; ich kann nicht anders!" oder "Versteck in der Wartburg" erwartet. Nun stellen wir uns diesen Lehrer einige Jahre später vor. Junggeblieben. Von seinem Elan wissen wir nichts, jedenfalls ist dieser nicht mehr so leicht erkennbar. Wieder steht Luther auf dem Lehrplan und seine Frage lautete diesmal: "Welcher Reformator und Augustinermönch des frühen 16. Jahrhunderts, wurde aufgrund seines Thesenanschlags zu Wittenberg und seinem späteren Versteck in der Wartburg bekannt? Wie hieß dieser berühmte Martin mit Nachnamen?" - Wechsel des Bildungsideals: der Rückschluss vom Komplexen zum Einfachen, d.h. anstatt zu fragen, was Luther tat, muß nun Luther den Taten zugeordnet werden. Bildung vereinfacht! Aber wir lassen unseren Lehrer noch nicht entschwinden, wir imaginieren ihn uns nochmals, diesmal in der Zukunft. Nun ist er grauhaarig kurz vor der Pension, aber seinem Lehrfach ist er treu geblieben. Wir sehen ihn vor uns wie er fragt: "Wer war Martin Luther?" Und dann sehen wir einen Schüler vor uns, der nachplappernd antwortet: "Wer ist Martin Luther!" Dann schwenken wir wieder auf den Lehrer, wie er lobende Worte findet: "Gut gemacht, Kevin, ganz richtig. Du hast Dein Lehrziel erreicht!"

... Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: Einfach Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre...

So sprach einst einer, der den Osten Europas als Reservoir höriger Arbeitsvölker ansah. Und ähnlich gesinnt scheinen solche, die heute den Bildungsstandard senken wollen, um den Anschein aufrechtzuerhalten, dass das deutsche Bildungssystem, so wie es jetzt strukturiert ist, doch noch funktionstüchtig ist. Und was müssen Hauptschüler auch wissen außer ein wenig Rechnen, ein bißchen Schreiben, Lesen freilich auch - was braucht es denn mehr für eine Berufsausbildung als das? Allgemeinbildung? Sowas braucht doch keiner mehr, wenn er nur dem Arbeitsvolk angehört! Basiswissen ist der Schlüssel zum Erfolg! Nutzwert-Wissen, Wissen also, das nützlich ist, verwertet werden kann. Was muß man denn über Luther wissen, wenn man eine Lehre bei einem Automobilkonzern absolviert, um am Ende doch nur am Fließband zu stehen? Da heißt es den Schüler entlasten, ihm Lehrstoff abnehmen, fort mit dem, hinweg mit jenem, und was sucht denn das Kapital über dem Panama-Kanal noch in Erdkundebuch? Dabei ist doch statistisch erwiesen, dass es kaum einen deutschen Hauptschüler nach Panama verschlägt.

Man ist ja pragmatisch - dabei ist es gar kein Pragmatismus: Wir machen es uns nur schrecklich einfach! Wir schrauben die Ansprüche nach unten, nicht nur, weil die Kinder scheinbar nicht einmal mehr einen Bruchteil des Hauptschulwissens in ihren Köpfen haben, sondern auch, weil sie doch in ihrem weiteren Leben gar keinen Wissens-Schnickschnack gebrauchen können. Die Konferenz der Kultusminister (KMK), an sich nur ein verlängerter Arm und die politisch legitimierte Einrichtung des Bertelsmann-Konzerns, macht es sich sehr bequem: Die Kinder bringen die Schulleistung nicht mehr auf, die eigentlich notwendig wäre? Na dann zählen wir im Unterricht eben nur noch bis 500 und lesen bloß einfach Texte. Astrid Lindgren als intellektuelle Herausforderung für die Abschlußklassen! Ist ja sowieso nur Arbeitsvolk! Die müssen nicht Kant lesen können, es reicht, wenn sie ihre wenigen Handgriffe beherrschen, die sie bei ihrer Tätigkeit brauchen! Recht und Anspruch auf Bildung? Bildung der Bildung wegen, Wissen des Wissens wegen? Nein, das ist vorbei, eine romantische Vorstellung früherer Tage - die Jünger des Neoliberalismus wissen nicht, was Wissen nützt, welches keinen Nutzen hat! Sie können sich gar nicht erst vorstellen, dass man einfach nur lernt, weil das Lernen Freude bereitet, weil es eben doch interessant ist vom Panama-Kanal zu lesen; von dessen Geographie und sozio-ökonomischen Verwerfungen, die gerade am Kap Hoorn - also tausende Kilometer weiter südlich - durch den Bau des Kanals entstanden sind und dergleichen Fakten dazu mehr; sie können nicht begreifen, dass man dafür Interesse aufbringen kann, auch wenn man nie nach Panama oder Feuerland kommt.

Wir reden viel von fehlenden Finanzmitteln. Und Finanzmittel fehlen sicherlich und sind die Basis aller Bildungsreformen. Aber damit kann es nicht getan sein. Wir leben in einer Gesellschaft, in der nur der Nutzen einer Sache, einer Tätigkeit, einer Einsicht zählt. Ebenso wird die Bildung diesem Kosten-Nutzen-Denken unterworfen. Sie ist eigentlich gar keine Bildung mehr, sondern Ausbildung, Heranbildung - sie ist nicht Weg zum Wissen, um der Eitelkeit des Wissens willen, sondern Weg zur Verwurstung, Nutzbarmachung. Wir können noch so viele Finanzmittel zur Verfügung stellen - keine Angst, das wird nicht geschehen, hier handelt es sich ja nicht um Banken! -, solange hier kein Umdenken stattfindet, wird keine Bildungsreform fruchten. Es geht doch nicht nur um ausfallende Unterrichtsstunden, zu wenig Lehrpersonal, begrenzte Nachhilfeangebote - es geht auch darum, wie eine ganze Gesellschaft, angefangen bei den Eltern, das Lernen und das zu Wissende verachtet, jedenfalls dann, wenn es nicht verwertbar ist. Es liegt vornehmlich auch an einer Unterhaltungsindustrie, die keine Grenzen kennt, sich nur am sogenannten freien Markt orientiert und, weil dieser das angeblich fordert, cartoonierte Stumpfsinnigkeiten anbietet. Das Ablenkungspotenzial, welches sich der freie Markt für die Kinder und Jugendlichen ersonnen hat, welches diese schon zu kaufkräftigen Kunden gemacht hat, findet in der Bildungsmisere sicherlich seinen Niederschlag.

Man muß die Wurzel packen, muß den Nährboden bereiten, in dem wieder von einem "hohen Gut der Bildung" gesprochen werden kann. Und damit soll gemeint sein: Bildung, die nur ist, weil sie sich selbst nützlich ist und nicht irgendeinem Unternehmen später einmal. Die Frage ist doch nicht, ob wir Bildungsstandards senken wollen, ob wir das Zählen bis 500 verordnen sollen, damit es einfacher wird, sondern wie wir Schüler dazu bringen, sich wieder für den Unterricht zu interessieren. Nicht nur für den Unterricht, auch für das Wissen generell - wie bekommen wir Kinder wieder neugierig? Das geht nicht nur mit Finanzmitteln, nicht mit einem Heer an neuen Lehrern oder Nachhilfeangeboten - wir müssen klarmachen, dass Bildung keine Ausbildung sein darf, dass Bildung ein menschliches Gut ist, eine Kulturleistung, etwas, was jedem Mensch zustehen muß - auch wenn er "nur" am Fließband steht. Selbst einem späteren Maschinenschlosser, der in seinem Beruf wenig Bezug zu Luther haben wird, muß ein Mehr an Bildung kennenlernen dürfen.

Bildung und das "zu Wissende" ist nicht Nutzwert, sondern Wert an sich. Bildung ist Würde; Bildung bedeutet Selbstwert; wissend zu sein bedeutet seinen Status als "nützlicher Idiot" verlassen zu haben. Bildung ist befriedigte und immer wieder gekitzelte Neugier. Kinder sind neugierig, nicht weil sie damit einen Wert erzielen, weil sie sich nutzvoll ins Gesamtgefüge integrieren wollen, sondern weil es dem menschlichen Wesen entspricht. Ich bin neugierig, also bin ich! Die Apologeten der Ausbildung, die nur ein rudimentäres Wissen vermitteln wollen, wollen ihr Bildung benanntes Konzept der Neugier berauben; wollen es der conditio humana berauben. Dabei war es gerade die Neugier, die unsere Welt ausmachte - die Glühbirne ist wie die Atombombe Produkt der menschlichen Neugier. Die Bildung ist der Versuch, die Neugierden zu befriedigen, sie immer wieder zu entfesseln, hervorzulocken - Bildung ist keine Ware, die auf Nützlichkeit zu überprüfen ist. Sie ist menschliches Erbe, sie ist Kultur, ist Wert an sich.

Darüber müßten die Kultusminister sprechen. Bevor wir über Finanzmittel sprechen, müssen wir erstmal definieren, was Bildung eigentlich in Zukunft bedeuten soll. Ob sie Wert an sich oder Nutzwert sein soll. Da kann keine Bildungs- oder sogar Schulreform Veränderungen bewirken, solange wir mit der Bildung umspringen wie mit einer Ware, solange wir zudem den Irrglauben frönen, dass nur die Schule der Ort der Bildung ist. Bildungsrepublik zu sein, bedeutet ein Klima der Bildung zu erzeugen - und zwar überall, nicht nur in der Schule. Das bedeutet, dass der Gesetzgeber wieder ein Auge auf das Fernsehprogramm für Jugendliche zu werfen, der kollektiven Verdummung seitens der Unterhaltungs- und Telekommunikationsbranche entgegenzutreten hat - es bedeutet aber auch, die Eltern mehr zu involvieren, dafür zu sorgen, dass die zeitlichen Mittel vorhanden sind, dem Sohn oder der Tochter zur Seite zu stehen - freilich auch die finanziellen Mittel. Und es bedeutet vorallem: Es darf keine Bildungsbarrieren geben, auch dann nicht, wenn man aus einer Familie kommt, die unter der Armutsgrenze lebt - Bildung ist ein Weltkulturerbe, das jedem Menschen zusteht, egal woher er kommt, wohin er geht.

Sollte die Krake Bertelsmann in Form der KMK aber glauben, Bildung sei vorallem dazu da, um später im Arbeitsleben bestehen zu können, sollte sie also meinen, ein kleines Basiswissen würde ausreichen, dann nur zu, dann nur weiter so. Hauptsache in Sachen PISA steht man dann gut da, während man sich gleichzeitig ein stumpfsinniges Arbeitsvölkchen heranzüchtet...

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De dicto

Donnerstag, 13. November 2008

"Der Hitler unserer Tage heißt Ahmadinedschad. Irans Präsident ruft zur Vernichtung Israels auf. (...) Statt am 9. November folgenlos toter Juden zu gedenken, müssen wir neue Morde verhindern. Nicht nur an Juden. Auch an Christen im Sudan. Dort erschlugen Islamisten zwei Millionen Menschen."
- BILD-Zeitung, Rafael Seligmann am 11. November 2008 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Bereits 2005, als der "Hitler unserer Tage" gesagt haben soll, dass "Israel von der Landkarte zu tilgen" sei, wurden Stimmen laut, die davon sprachen, dass das Zitat falsch übersetzt und außerdem ausgeschmückt worden sei. Derlei Verfälschungen sind nichts Neues, werden unliebsamen Zeitgenossen der Weltpolitik immer wieder in den Mund gelegt. Aber mit dieser Lüge die zweifelhafte, nie verifizierte Behauptung - eher widerlegte Behauptung! -, dass der Iran Atomwaffen entwickele, zu untermauern, ist schlichte Verantwortungslosigkeit und grenzt an Kriegstreiberei. Es scheint fast so, als wolle man im Hause Springer Stimmung erzeugen für das, was unter einem Präsidenten Obama Wirklichkeit werden könnte.

Wie konstruiert dieser seltsame Kommentar ist, der einerseits damit titelt, dass neue Morde verhindert werden sollen, aber im gleichen Atemzug zwischen den Zeilen ein Morden zum Unterbinden des Mordens fordert, läßt sich in der Folge erkennen. Gekonnt wird unterschlagen, dass von den zwei Millionen Menschen, die im Sudan erschlagen wurden - nicht nur erschlagen, sondern auf allerlei bestialische Art und Weisen ermordet wurden -, die Mehrzahl moslemischen Glaubens waren. Dass es sich bei den Mördern also nicht um fundamentalistische Moslems, sondern einfach um radikale, total außer Kontrolle geratene Mörder handelt - unabhängig von ihrer Religion. Und es ist geradezu grotesk, dass man hier herauskehren möchte, dass es der Islam ist, der mordet und brandschatzt, dass es also "der Moslem" ist, der sich wie ein Tier benimmt, während gleichzeitig die BILD-Zeitung Michel Friedman Raum einräumt, sich in Jammereien zu ergießen, weil die FAZ ihn als Juden bezeichnet hat, und während Müller-Vogg zu dieser Sache auch seinen Senf dazugeben darf.

Was habe sein Jüdischsein mit seiner Arbeit als Journalist zu tun, fragt er. Gute Frage, folgen wir dieser Skepsis einfach, machen wir es ihm gleich: Was hat das Ermorden, Vertreiben, Vergewaltigen mit dem Moslemischsein der Mörder zu tun? Vorallem dann, wenn Moslems Moslems töten? Seligmann spricht aber offen von toten Christen und Juden, vergißt die toten Moslems dabei auch noch, damit seine Kriegstreibereien Hand und Fuß bekommen, vergißt aber dafür nicht, die Religionszugehörigkeit der erwähnten Opfer zu benennen - gleichzeitig mokiert sich dieselbe Zeitung aber darüber, dass die FAZ erwähnte, dass Michel Friedman ein Jude sei, dass man ihn mit dieser Benennung brandmarken wollte, was - so Orginalzitat Friedman - der "subkutane antisemitische Reflex" sei.

Warum es der FAZ wichtig war, Friedmans Jüdischsein herauszuheben, kann hier nicht geklärt werden. Wieso aber die BILD-Zeitung herumfrömmelt, um dann das gleiche Prinzip von der anderen Seite her anzuwenden, kann man mit wenig Phantasie jedoch schon erklären: Es geht um knallharte Interessenspolitik, die einen Einsatz des Westens im Iran für notwendig hält, die dafür jede Lüge und Dreistigkeit in Kauf nimmt, um die öffentlichen Konsens auf Linie zu bringen.

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Selbst zum Wolf werden

Mittwoch, 12. November 2008

Von allen Seiten hört man es, von überall her, aus jeder Ecke, jedem Winkel stöhnt es hervor: Das Klima, das Betriebsklima - es ist so schlecht, so dampfig, so unmenschlich. Zugrunde gehe man daran, Lebensfreude sei getilgt, als Produktionsfaktor ohne Lebensberechtigung fühle man sich. Nicht nur der Chef sei unausstehlich, auch die Kollegen, ambitionierte Zeitgenossen allesamt, wüßten einem das Leben zum Schweiß- und Tränenmeer zu machen. Beobachtet wähne man sich, begutachtet und selbst wittere man hinter jeder eigenen Tat einen Fehler, auf den sich die Meute dann wieder mit Denunziantenfreuden stürzen würde. Dass hinter dem Rücken getuschelt wird, wird sowieso schon als Selbstverständlichkeit begriffen, deren man wenigstens mildernd entgegentreten wolle, indem man seine Leistungen stets noch verbessere, immer noch ein wenig mehr an Einsatz investiere. Auch kenne man die Zuträger des Vorgesetzten, die dessen Türen einrennen, wenn sie - melde gehorsamst! - etwas Neues wissen über einen Kollegen. Kurzum: Das Betriebsklima sei widerlich, sei einfach nicht mehr zu ertragen und man hoffe, die Nacht vor dem neuen Arbeitstag dauere ewig an, damit der nächste Auftritt im Rudel dieser Wölfe in möglichst ferner Zukunft liegt.

Solche Aussagen sind seit Jahren zu hören, mehren sich auch weiterhin. Dieser Gesellschaft, den gestaltenden Kräften aus Politik und Wirtschaft, ist es gelungen, ein gesellschaftliches Klima der Angst zu erzeugen, welches freilich auch den Arbeitsplatz erfüllt - denn wenn nicht am Arbeitsplatz, wo sonst sollte diese Angst, als Produkt dieser Repressionsgesellschaft, überhaupt zur vollsten Blüte reifen? Dank der Pression, dank der daraus entstandenen Angst, erlauben sich sogar viele Arbeitgeber eklatante Verstöße gegen das Arbeitsrecht, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen. Denn der Angestellte schweigt darüber, wagt nicht Widerspruch zu üben, wenn er auch weiterhin seinen Arbeitsplatz behalten will. Aus einem mündigen Bürger im Privaten wird ein geschäftsmäßiger Ja-Sager, ein devoter Abnicker vorgesetzter Willkürherrschaft. Ein tiefer Riss geht durch sein Leben, ein Spagat zwischen dem Willen mündiger Bürger sein zu wollen und der Erkenntnis, diesen Willen am Arbeitsplatz bis zur Unkenntlichkeit verleugnen zu müssen.

Und was ihm die Gesellschaft, sein direktes Umfeld, außerhalb seiner Arbeitswelt bietet, ist zumeist wenig hilfreich, bestenfalls in Binsenweisheiten gepackte Resignation. Das Ertragen eines solchen Klimas, der stete Druck der auf einem laste, sei zwar unangenehm, aber so sei es heutzutage nun mal - vielleicht müsse man sich einfach nur - ganz fatalistisch - ein dickes Fell zulegen oder gar im Strom mitschwimmen. Gut gemeinte Ratschläge, die genau besehen von Boshaftigkeit nur so strotzen. Man mahnt nicht an, dass das Schlechte sich dem Guten anzunähern habe, das Häßliche dem Schönen, das Verlogene dem Wahren - um mit Platon zu sprechen -, sondern gerade gegenteilig: Wenn der Weg vom Guten zum Schlechten leichter ist, was er zumeist ja auch ist, dann sollte man eben den Weg des geringsten Widerstandes wählen und die eigenen Werte aufgeben, zugunsten eines vermeintlich besseren Lebensgefühls. Ob sich dieses dann wirklich besser anfühlt, ob man damit wirklich glücklicher wäre, ob mein eigenes Leid durch die Gewißheit einem anderen ebenso das Leben schwer gemacht, ihm also auch Leid zugefügt zu haben, gemildert wird, darf stark bezweifelt werden. Näher betrachtet verlagert man die eigene Wut nur auf einen Unschuldigen, auf jemanden, der genauso unter dem Druck leidet, den der Arbeitgeber erzeugt - und dieser als Schuldiger des Klimas bleibt unberührt, darf sich über das nochmals verschärfte Klima in seinem Unternehmen sogar freuen, darf sich davon den heißbegehrten Wettbewerb erhoffen, eine Selektion der Angestellten, initiert von ihnen selbst.

Es sind die Mechanismen des "divide et impera", die wir jeden Tag erleben müssen. Aber es sind Mechanismen, die nicht mehr nur von denen gelehrt und vorgebetet werden, die von einer solchen Selbstzerfleischung der Unterdrückten profitieren, sondern festverankerte Strukturen im Denken der gesamten Gesellschaft. Es sind oft selbst Arbeitnehmer die durch ihre Binsenweisheit, wonach man selbst zum Wolf zu werden habe, das "Teilen und herrschen" forcieren, ja geradezu legitimieren, zum allgemeinen Grundsatz einer Gesellschaft erheben. Sie postulieren die hobbesche Ansicht - homo homini lupus -, nähren damit den Anspruch auf einen Absolutismus innerhalb der Unternehmen und machen sich, obwohl selbst Opfer, zum Streiter für Rechtlosigkeit und Unordnung am Arbeitsplatz. Sie wähnen sich in dem zynischen Glauben, man könne die Unerträglichkeit des Zustandes damit verändern, selbst zum Bestandteil dieser Unerträglichkeit zu werden - anstatt Vereinigung und Einheit gegen die Ausbeutungsprozesse, lieber Mitschwimmen und Gleichtun. Am Ende dann wird resigniert und nicht begriffen, wie es so weit hat kommen können und nochmals der Druck gegenüber Dritten verschärft, um zu kompensieren oder vielleicht doch noch das System ad absurdum zu führen.

Gerade das banale Abtun der Mißstände, das Abwinken, der selbstzufriedene Fatalismus, wie man ihn heute immer mehr hört, trägt zur Verschärfung der Situation bei. Indem einem Betriebsklima-Geschädigten geraten wird, er solle selbst kraftvoll zubeißen, regt man zur Generalmobilmachung der Unmenschlichkeit an; indem man einem Arbeitslosen nahelegt, dass es heute eben so sei, dass man als Arbeitsloser als nutzlos betrachtet werde, und sich ein Kampf gegen so einen Nihilismus nicht lohne, tut man sein Bißchen dazu, diese Ansichten auch noch salonfähig zu machen, sie zu zementieren. Was unserer Gesellschaft mehr schadet als die Kettenhunde des neoliberalen Irrsinns mitsamt ihrem verqueren Menschenbild, das sind die Nihilisten, die "Waskümmertsmichs", die Fatalisten und Hinnehmer der Mißstände - sie untergraben die Moral derer, die noch gerne aufbegehren würden und spielen damit denen in die Hände, die diese Moral ausgeschaltet wissen wollen. Es ist der zynische Nihilismus, der die Menschlichkeit aus jeder Nische dieser Gesellschaft kratzt; es sind die Uninteressierten und Mitmacher, die vollenden, was die Apologeten der Unmoral, des homo oeconomicus und einer verwettbewerbten Gesellschaft, in die Wege geleitet haben. Sie höhlen aus, beseitigen, verwerfen das letzte bißchen Miteinander, das dieser Gesellschaft dann und wann noch gegeben ist. An den Kettenhunden kann man sich reiben, am schmierigen Fatalismus nicht...

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Abyssus abyssum invocat - Ein Fehler zieht den anderen nach sich

Dienstag, 11. November 2008

Ein begangener Fehler rechtfertigt den nächsten. Oder was passiert, wenn sich Bürgerinteressen der Kostenkalkulation unterordnen müssen.

Der Investor Fundus baut ein Fachmarktzentrum im Hamburger Stadtteil Bergedorf und plant Renovierungsarbeiten am bestehenden Einkaufszentrum CCB im Umfang von 45 Million Euro. Im Rahmen dieser Maßnahmen ist die Installation einer provisorischen Fußgängerampel zur sicheren Überquerung der viel befahrenen Bundesstraße B5 notwendig.

Die Kosten dieser Ampel werden 62.000 € betragen und beinhalten eine von der Polizei geforderte Absenkung des Bürgersteiges. Diese Absenkung ist zwingend notwendig, damit Bürger mit einem Rollstuhl, Rollator, einer Gehbehinderung oder auch Kinderwagen die Straße sicher überqueren können.

Um Kosten seitens des Investors zu sparen, wird jetzt auf diese Absenkung verzichtet.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Begründung vom zuständigen Ausschussvorsitzenden Werner Omniczynski (SPD).
„Man muss aber sehen, dass es sonst überhaupt keine Ampel geben wird, weil keiner sie bezahlen will. Zudem werde die Ampel wohl von wenigen Rollstuhlfahrern frequentiert, da auch der CCB-Zugang nicht behindertengerecht sei.“

Dass die Umsetzung des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes mit seiner Forderung nach einer barrierefreien Gestaltung von öffentlichen Wegen, Straßen und Verkehrsanlagen noch nicht überall durchgesetzt worden ist hat jeder, der auf eine barrierefreie Gestaltung seiner Umwelt angewiesen ist, immer wieder erfahren müssen.
Neu ist aber, dass in der Begründung für die mangelhafte und rechtswidrige Gestaltung einer baulichen Maßnahme auf andere noch vorhandene Barrieren verwiesen wird.

Es ist deutlich zu sehen, wie die allgegenwärtige alleinige Ausrichtung auf Profit und Gewinnmaximierung von Kommunalpolitikern sehenden Auges gefördert wird.
Werner Omniczynski hat den Zeitgeist getroffen, indem er die ihm anvertrauten Interessen der Bürger bereitwillig dem Kommerz untergeordnet hat.

Leider ist diese Geschichte nicht als bedauerlicher Einzelfall zu sehen. Vielmehr ordnet sie sich in die Vielzahl diskriminierender Entscheidungen zum Nachteil behinderter Menschen ein:

Rollstuhlfahrer werden in der Bahn im Mehrzweckabteil zwischen Fahrrädern und Sperrgepäck befördert.
Eltern, die ihr behindertes Kind in einer allgemeinen Schule lernen lassen möchten, müssen dies oft vor Gericht erkämpfen.
Behinderten Menschen wird der Zugang zu Gaststätten, der Antritt einer Reise oder der Abschluss eines Versicherungsvertrages verweigert.

Behinderte werden von der Politik in menschenverachtender Weise behandelt, wenn sich ihre Bedürfnisse einer Kostenkalkulation unterordnen müssen.

Solange das Allgemeine Gleichstellungsgesetzes nicht konsequent auf lokaler Ebene umgesetzt wird, entpuppt es sich als ein zahnloser Papiertiger.

Dies ist ein Gastbeitrag von Andreas Bemeleit.

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De auditu

Montag, 10. November 2008

Ich habe mich entschlossen, hier eine neue, unregelmäßig erscheinende Kategorie ins Leben zu rufen. "De auditu" bedeutet "vom Hören" und soll von den kleinen und größeren absichtlichen Wortverdrehern in Fernsehen und Radio berichten - von dem was man also so hört, nicht liest. Dabei sind es oft ganz unscheinbare Äußerungen, die aber bei genauem Besehen, beim genauen Zuhören, gar nicht mehr so unscheinbar sind, sondern tendenziell die herrschenden Machtverhältnisse und den Zeitgeist widerspiegeln.

Kürzlich berichtete das Fernsehen von einem Massen-DNA-Test, der einen mutmaßlichen Doppelmörder aus den Sechzigerjahren entlarven sollte. Dieser mögliche Täter hat vor einigen Jahren mehrere anonyme Briefe an die Polizei geschickt, in dem er, wie er selbst schrieb, eine Rückschau auf sein Leben halten wolle. Er gestand einen Mord, in einem späteren Brief einen weiteren - es soll sich dabei um Morde an einem Mädchen und einer Prostituierten handeln, die 1962 bzw. 1970 begangen wurden. Um den Briefeschreiber zu stellen, initierte nun die Polizei einen Massen-DNA-Test, um die dort erzielten Ergebnisse mit den DNA-Spuren auf den Briefen abzugleichen.

So weit, so gut - über die Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme, wollen wir uns nicht weiter äußern, zumal diese auf Freiwilligkeit basierte. So wurden 6.000 Senioren, die in etwa dem Jahrgang des vermeintlichen Täters entsprechen müßten, zum Speicheltest geladen. Alles freiwillig wohlgemerkt! Aber die berichtenden Sender modifizierten die Tatsachen etwas: 6.000 Senioren müßten zum Speicheltest, hieß es da. Von Freiwilligkeit wurde, wenn überhaupt, nur in einem kurzen Nebensatz gesprochen. Aber das Müssen stand also im Raum - aus der Freiwilligkeit wurde ein Pflichthandlung, womöglich sogar ein unsichtbarer Zwang. Gleichzeitig wurde die Polizei nicht müde festzuhalten, dass all jene, die dieser Aufforderung nicht nachkämen, mit Nachforschungen zu rechnen hätten. Dass diese Äußerung juristisch zweifelhaft ist, wurde auch da von den Fernsehsendern nicht erwähnt - denn jemanden zu verdächtigen, nur weil er seine DNA nicht ermitteln ließ, entbehrt jeden rechtsstaatlichen Verständnisses. Ein konkreter Verdacht kann jedenfalls nicht alleine daraus resultieren, nur einer freiwilligen Aktion ferngeblieben zu sein.

Natürlich unterließen es die Sender nicht, diverse Probanden zu befragen, was sie davon hielten. Zwar sprach keiner davon, dass man so ein Ermittlungsverfahren zur Pflicht- und Zwangseinrichtung machen sollte, aber dass jeder, der kein schlechtes Gewissen habe, durchaus teilnehmen könne, dessen waren sie sich sicher. Und genau darin liegt der Irrtum, denn folgte man dieser Logik, müßte eben jener, der ferngeblieben ist, etwas zu verbergen haben, müßte also eventuell sogar der gesuchte Briefeschreiber und vermutliche Mörder sein. Für den Fernsehzuschauer indes wurde ersichtlich, obwohl der Bericht nur äußerst kurz gehalten war, dass es eben doch eine Mußhaltung benötige, einer solchen freiwilligen Aktion demgemäß Folge zu leisten sei. Die Freiwilligkeit wird von einer Kann- zu einer Soll- und vielleicht sogar zu einer Muß-Veranstaltung. Denn wer freiwillig nichts zu verbergen hat, der muß auch nichts befürchten - die Umkehrung daraus: wer freiwillig nicht mitzieht, wer von seiner Freiwilligkeit keinen Gebrauch machen will, der muß geradezu etwas zu verbergen haben.

Hinter so einer Berichterstattung versteckt sich mehr als lediglich eine falsche Wortwahl. Es ist der verkappte Paradigmenwechsel, den man dieser Gesellschaft auferlegen will. Die freiwillige Handlung soll nicht mehr dem individuellen Gewissen geschultert sein, sondern einem seelenlosen, weil gewissensberaubten Untertanengeist. Mit einer solchen Berichterstattung füttert man die Absichten mancher Hardliner, wonach alle Bundesbürger in einer DNA-Kartei erfaßt werden müßten, um einerseits die polizeilichen Ermittlungen, aber auch andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, zu effektivieren. Durch solche kleinen Beeinflussungen gräbt man den kulturellen Nährboden um, der einen solchen Plan langsam aber sicher zu einer Selbstverständlichkeit werden lassen. Anders: Man kultiviert das Denken dahingehend, hinter einem derartigen freiwilligen Muß keinen Zwang mehr zu sehen, sondern eine gesellschaftliche Vernunft, die jeden Individualismus im Keime ersticken läßt, wenn es nur der Effektivierung dient.

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