Nomen non est omen

Mittwoch, 16. Dezember 2009

Heute: "Personenschaden/Antipersonenminen"
"Liebe Fahrgäste. Wegen eines Personenschadens verzögert sich die Weiterfahrt. Bitte haben Sie etwas Geduld."
- Ansage der Deutschen Bahn -

"Etwa 70 Prozent der heimtückischen Waffen (Antipersonenminen) treffen unschuldige Opfer."
- das Rote Kreuz zu Antipersonenminen -
Als "Personenschäden" werden getötete oder verletzte Menschen bezeichnet. Ob im Verkehr, auf dem Arbeitsplatz oder bei Bahn-Suiziden – der Begriff klammert den Menschen aus und macht ihn zu einer Sache. Ähnlich verhält es sich bei dem Terminus der "Antipersonenminen". Menschen, die von Minen verkrüppelt, entstellt oder getötet werden, sind semantisch "Antipersonen". Beide Begriffe verschweigen sprachlich den Bezug zum Menschen und versuchen rein funktionell zu wirken. Schließlich soll eine normative oder gar moralisch-negative Assoziation vermieden werden.

Beide Begriffe belegen den sprachlichen Trend eines funktionalistischen Bürokratendeutsch. Der Mensch ist kein Individuum mehr, mit Wünschen, Ängsten, Werten und Lebensvorstellungen, sondern eine Sache, ein Ding, ein Rädchen im Getriebe, eine Ware, eine Nummer. Menschen werden nicht verletzt, sie nehmen "Schaden", wie ein technisches Gerät oder eben eine tote Sache. Die gezielte Schwammigkeit beider Begrifflichkeiten trägt zu einer Entemotionalisierung bei. Niemand soll hier groß Gefühle zeigen, wenn Menschen vor Verzweiflung Suizid begeben und sich vor den Zug werfen oder wenn Kleinkinder auf Minen treten und zerfetzt werden – die Begrifflichkeiten sagen uns, dass wir diese Dinge sachlich und rational wahrnehmen sollen. Emotionalität ist eben nur erlaubt, wenn diese wiederum im mechanischen Prozess der Verwertungs- und Verwurstungsindustrie eingebettet sind, wie bei dem Robert Enke Fall.

Es macht sprachlich-kognitiv eben doch einen großen Unterschied ob man von "Personen" oder von "Menschen" spricht. Was würde wohl mit "Menschenschaden" bzw. "Antimenschenminen" assoziiert werden?

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

9 Kommentare:

Anonym 16. Dezember 2009 um 08:30  

Immerhin verweisen Personenschaden und Antipersonenmine noch auf eine Person, mithin einen Homo Sapiens, dem in den meisten Kulturkreisen doch allein dieses Attribut zugestanden wird.
Der endgültig entmenschte, wenngleich im militärische Jargon gern verwendete Fachterminus "Weichziel", ist allerdings nicht weit entfernt.

Heinzi 16. Dezember 2009 um 08:56  

Wie es einer meiner Vorgesetzten mal formulierte:

"Sollen die Scheiß Selbstmörder doch ihren Mord zuhause verüben, warum ziehen die noch die Bahn und Lokführer in ihren Dreck rein?"

So fast wörtlich. Deutlicher hat mir noch kein Mensch seine Unmenschlichkeit auf den Punkt gebracht.

Angebliches Mitleid mit den Opfern der Selbstmörder - Gleichzeitig den Selbstmörder zum Täter machen und damit vermeiden das aufrichtige Mitgefühl zu empfinden, dessen fehlen Selbstmörder oft erst in ihre verzweifelte Lage brachte und bringt.

Christian Klotz 16. Dezember 2009 um 09:26  

Da wir gerade bei Sprachkritik sind...
Das Rote Kreuz mit seinen "unschuldigen Opfern" kann sich also durchaus eine Leichenproduktion vorstellen, die sich die Schuldigen vorgenommen hat...

Alex 16. Dezember 2009 um 10:13  

Soweit ich weiß hält sich die Deutsche Bahn auf Grund des Werther-Effekts sehr bedeckt bei Suiziden, da täglich im Durchschnitt drei Menschen versuchen sich auf den Gleisen das Leben zu nehmen. Hingegen betreut man die betroffenen Lokführer psychologisch solange sie es benötigen und bietet ihnen, wenn es nicht anders geht, einen anderen Arbeitsplatz an.

Ich finde dieses Verhalten sehr menschlich.

Aber, wie Sie selbst sagten, es handelt sich um einen Trend und Ausnahmen bestätigen die Regel.

Anonym 16. Dezember 2009 um 10:49  

Es paßt nicht ganz, was ich hier jetzt schreibe, aber irgendwie schon und wenn dann als Ergänzung!

Die Menschenverachtung jedenfalls wird immer größer. Der Erwerbslose ist ja in HARTZIV auch kein Mensch mehr, sondern Verfügungsmasse für Arge-Kapos (Fall-Manager).

Wir sind schon einiges nach

Nineteen Eighty Four.

Und der Newspeake (und die Newspeake Argumentation) greift in allen Bereichen immer mehr um sich, in allen Bereichen.
Es wird in der Tat nicht das beschrieben, was dem Betreffenden wirklich widerfährt.

Beispiel (Es gibt unzählige andere): Statt arbeitslos (erwerbslos wäre neutraler) zu werden

- man wird nicht mal mehr
freigesetzt was der
Übergangs-Newspeake war -

gliedert man sich aktiv aus.

Man versucht Orwell in allen Bereichen Wirklichkeit werden zu lassen.

Im Original:

Geld als falsches Signal
Sozialstaat fördert Entstehen der Unterschicht
Von Dorothea Siems 1. November 2009
Die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen in Deutschland sind nicht zu übersehen. Es existiert eine wachsende und sich verfestigende Unterschicht, die es so vor 20 Jahren noch nicht gab. Die Hauptschuld daran trägt der deutsche Sozialstaat. Die Menschen werden belohnt, wenn sie sich aus der Arbeitswelt ausgliedern.

Kassandra 16. Dezember 2009 um 15:49  

Diese begriffliche Verfremdung dient der psychodynamischen und psychosozialen Abwehr der eigenen Sterblichkeit und der Angst vor ihr.

Bei Feuerwehr, Rettungsdiensten usw. heißen in ähnlicher Manier 'Katastrophen' seit einiger Zeit 'Großschadenslage'. Wie sich so etwas (als Mosaiksteinchen) wohl auf die dort Beschäftigten auswirken mag?

Die Friedhöfe wurden seit ein paar Jahrzehnten oft an die Randgebiete von Städten verlagert - wo ältere Hinterbliebene nicht so einfach hingelangen, besonders wenn sie kein Geld für das Busticket haben.

Alles Zufall?

Heinzi 16. Dezember 2009 um 22:40  

Vielleicht nicht.

Auf der psychologischen Ebene könnte man der Sache so begegnen, daß der zunehmende Leistungs- und Erfolgsdruck zu Versagensängsten und Kompensationsdruck führt.
Dieser wiederum kann ohne Leistungsverlust nicht ausgelebt werden und führt zur Verdrängung derselben, die sich auch in der sprachlichen Verdrängung bemerkbar macht, die die reale Verdrängung vorantreibt und befördert.

Haltbar?

Enrico 17. Dezember 2009 um 19:11  

"Liebe Fahrgäste. Wegen eines Personenschadens verzögert sich die Weiterfahrt. Bitte haben Sie etwas Geduld."
Ich fahre jeden Tag mehrmals mit der Bahn und diese immer gleichen Bandansagen der immer gleichen Comuputer-Frauenstimme auf allen Bahnhöfen zu tun ... Die drischt immer die gleichen Phrasen bei Verspätungen: "Personenschaden" oder "Störungen im Betriebsablauf" etc.
Für mich ist diese kalte, hörbar nach Computer klingende Stimme eines der täglichen Symbole für die Erkaltung unserer gesamten sozialen Umwelt. Die Bahn macht das m.E. in erster Linie, um nicht am Abend noch einen Menschen im Bahnhof bezahlen zu müssen, der solche Ansagen macht. Menschliche Durchsagen, mglw. mit lokalem Akzent oder einer anderen Wortwahl als o.g. Phrasen, wären irgendwie ... naja, vielleicht wärmer. So aber wird man von einer Roboterin abgespeist, wenn man mal wieder 20 Minuten später wegkommt.

Anonym 17. Dezember 2009 um 19:16  

@Heinzi
Frage mich gerade, was wohl zuerst da war: das Huhn oder das Ei, also die Verdrängung der Realität oder der Gebrauch von "Umschreibungen". Ich tippe auf ersteres. Zuerst macht man "dicht" und danach fasst man den "Zustand" in Worte. Hat danach aber wohl eine Eigendynamik: die Wortwahl wiederum verstärkt den Strauss in der Annahme, es sei ganz OK, den Kopf in den Sand zu stecken.

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