Die Variablen des Heiligabend und deren Mehrwert

Freitag, 23. Dezember 2011

Ein ganzes Lebensgefühl ist damit umschrieben: Weihnachten wird unterm Baum entschieden! Was sich liest wie aus einer Schmiede der Werbeindustrie, und auch der derzeitige Schlachtruf einer Elektronik-Kette ist, ist doch nicht weniger als die Wahrheit in nuce. Nichts wird in Suppenküchen oder Bahnhofsmissionen entschieden - ihre Existenz und ihr weihnachtliches Hervorheben zeigt nur, dass man sich gegen die, die sie benötigen, schon lange entschieden hat. Nichts entscheidet sich für Frieden - Frieden auf Erden! ist der hohle Ausruf scheuklappenbegüterter Romantiker. Nur eine Wahrheit gibt es - und die liegt unter dem Baum.

Meine Generation ist im konsumtiven Wohlstand aufgewachsen. Weihnachten war Wettbewerb. Schüler eiferten um den Sieg unterm Tannenbaum. Man protzte hernach, man schnitt auf - an der Größe des Geschenkes ließ sich messen, wie schön das Weihnachtsfest gewesen sein musste. Der eigentliche Ursprung des Festes war ohnehin nur Makulatur - und das, was sich Nachkriegsgenerationen daraus machten, das gemütliche Zusammensein, die besinnliche Andacht und das zugegeben spießige Klima zwischen gesäuseltem "Stille Nacht, heilige Nacht..." und vergilbter Pappmaché-Krippe, dieses Kleinod der nachkriegerischen Ruhe und Zufriedenheit, das galt für uns schon nicht mehr. Wir hatten bereits die nächste Stufe der Evolution erklommen. Unterm Christbaum entschied sich Weihnachten - und es ist bezeichnend für unsere Zeit, dass ausgerechnet die Werbung es vermag, die ganze unerbitterliche Wahrheit, und das in einem einzigen Satz, auf den Punkt zu bringen. Werbung ist häufig punktgenauer als die soziologische Wissenschaft - oder sie ist, was vielleicht besser passt, Soziologie in kurzen Sätzen.

Weihnachten war bei uns schon nicht mehr - für uns gab es kurzzeitig Christmas, bis man daraus X-mas formte. Das erschien auch angemessener als Weihnachten. Denn geweiht war ja nichts - höchstens wir dem Konsum und dem konsumtiven Gequatsche von "der einen, der magischen Nacht" oder dem "trauten Zusammensitzen der Familie" - solche Idyllen förderte auch die Werbung, denn im Kreise seiner Lieben packt es sich schöner und geborgener aus. X-mas passte einfach. Das X als Variable. Und die Variable war: Was bekomme ich? Wie sehr, wie erfolgreich wird X-mas unter dem Baum entschieden? Das X stand für den Effekt, den ein Geschenk bewirken konnte. X war die große Unbekannte - und die Hoffnung, diese Unbekannte würde zur ungebremsten Freude, zur Tilgung von Konsumbedürfnissen. X-mas konnte, als aus dem Englischen kommende, aber spanisch zu lesende Formel, noch mehr Wahrheit aufdecken. Más bedeutet im Spanischen mehr - mehr X, mehr Variablen, mehr Geschenke, mehr Konsum. X-mas - dame más X; gib mir mehr X!

Happy X-mas! bedeutet als mathematische Formel, dass Fröhlichkeit eine Kombination aus dem Mehr oder dem zu erzielenden Mehrwert und aus variablen Geschenkelementen ist - X ist der Platzhalter für die Geschenkrendite, die sich hoffentlich unterm Baum ansammelt. Weihnachten ist eine Gleichung, die Aufwand und Ertrag gegenüberstellt und die Schenker zu Wettbewerbern macht. Investition und Gewinnaussichten dürfen a) kein Verlustgeschäft und damit mindestens ausgeglichen sein und müssen b) bei optimalen Verlauf Überschüsse aufzeigen. X kann gefährlich werden, weil es die unternehmerische Planbarkeit erschwert. Der Gewinn ist kaum kalkulierbar, weil die Schenker, die für X verantwortlich sind, normalerweise nicht sehr redselig sind. X-mas ist daher ein kalkulatives Risiko und eigentlich keine Grundlage für geschäftliches Handeln, denn es baut auf Vertrauen, für das es keine Rechtssicherheiten gibt. Dennoch empfiehlt es sich nicht, sich von X-mas fernzuhalten, denn das könnte a) zu Wettbewerbsnachteilen führen und b) mögliche Gewinne vereiteln. Man minimiere daher unbedingt das X, das man selbst unter die Tanne legt, man beachte Angebote, kaufe sein X entweder verbilligt im August oder eilig und vielleicht etwas reduziert drei Tage vor X-mas. Zwischen Schnäppchenjagd und der Aussicht, die anderen Schenker haben weder Kosten noch Mühen gescheut, kann mancher Mehrwert gedeihen.

Ob Weihnachten die Welt zeitweilig zu einem besseren Ort macht, sagt uns das, was unter dem Baum liegt. Mögen die Variablen aufgehen und der Festakt ein rentables Geschäft werden - oder, wie man es traditioneller sagt: schöne Weihnachten...


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Alles wie gehabt...

Exakt heute vor vierzig Jahren erboste sich Heinrich Böll. Als Titelzeile bei der BILD-Zeitung las er, dass die Baader-Meinhof-Bande weitermordete - einen Polizisten habe sie nun erschossen. Der darunterstehende Bericht aber gab sich vorsichtiger. Dort las man, dass man noch keine konkreten Anhaltspunkte habe, wer für die Tat verantwortlich sei. Diese Diskrepanz zwischen Schlagzeile und Bericht, sie machte Böll wütend und er schrieb sein verhängnisvolles Essay, das nach einigen Abwandlungen den Titel "Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?" erhielt und am 10. Januar 1972 im Spiegel erschien: "Wo die Polizeibehörden ermitteln, vermuten, kombinieren, ist Bild schon bedeutend weiter: Bild weiß.", schrieb er unter anderem.

An diesem 23. Dezember 1971 nahm die Jagd auf Böll seinen Anfang. Sein Essay nahm man ihm übel. Er schalt darin den gesellschaftlichen Umgang mit dem Terror jener Tage, freilich auch die Berichterstattung, die tendenziös und eingleisig verlief und keinerlei Kritik an den rechtsstaatlichen Kniffen übte, die die Politik anwandte. Einerlei. Bölls Fehler war, dass er die Terroristen nicht aus voller Seele beschimpfte, sondern sie verstehen wollte und die Mechanismen, die um sie herum wirkten, scharf kritisierte. Der "linke Biedermann" erntete bürgerliche Wut. Er sollte seine Präsidentschaft beim Internationalen P.E.N. abgeben. meinte Hans Habe. Man hieß ihn einen "Anwalt der anarchistischen Gangster" und einen "salonanarchistischen Sympathisanten". Und der Journalist Gerhard Löwenthal nannte ihn einen "Sympathisanten dieses Linksfaschismus", der "nicht einen Deut besser als die geistigen Schrittmacher der Nazis" sei.

Kleingeistige Produkte, die Böll nur ertragen musste, weil er sich nicht für die Hatz hergeben wollte und sich das eigene Denken bewahrte. Einige Monate später rehabilitierte ihn die Schwedische Akademie, die ihm den Nobelpreis verlieh. Prompt sahen Union und Springer darin eine Verschwörung der Sozialistischen Internationale, nachdem ja bereits ein Jahr zuvor Willy Brandt den Friedensnobelpreis für seine versöhnliche Ost-Politik zugesprochen bekam.

Vierzig Jahre alt wird heute die Wut dieses mutigen Schriftstellers. Was war sein Einsatz wert? Für Menschen, die wie er, nicht in den Katechismus der Hetzer miteinstimmen, ist er Mutmacher. Selbst der große Böll habe doch Demütigungen erleiden müssen, tröstet man sich. Geändert hat diese Geschichte dennoch wenig. Springer berichtet wie eh und je, schustert Verbrechen unhinterfragt nebulösen Terroristen zu. Man denke nur an Utøya, das man zunächst und ohne konkrete Anhaltspunkte islamistischen Attentätern in die Schuhe schob. Die Situation mag verfahrener sein als damals. Könnte Böll denn heute noch im Spiegel ein solches Essay unterbringen? Damals hatte er mit Augstein einen mächtigen Verbündeten - heute berichtet der Spiegel wie es Springer tut. Der Stern auch. Alle sind sie der BILDisierung mehr oder weniger erlegen.

Was am heutigen Tage augenfällig wird: dass sich nach vierzig Jahren wenig geändert hat. Außer vielleicht, dass Springer heutzutage Bölls Nobelpreis feiert und seine Bücher verscherbeln will. Sonst alles wie gehabt. Die Presse verurteilt vorschnell - und das, weil es mittels Internet einen Kampf um die erste Meldung gibt, viel schneller noch als einstmals. Der Spiegel kann sich Sachlichkeit gar nicht mehr leisten, kann nicht abwarten, bis die Recherche die Wahrheit ergibt - da hatte Springer einen gewaltigen Vorteil, denn die Unsachlichkeit und Schluderei, die mit der Wettbewerb um die schnellste Schlagzeile ins journalistische Leben trat, wurde bei Springer schon vor vierzig Jahren betrieben. Schon damals erfüllte man die Bedingungen, um vorschnelle Schlagzeilen zu publizieren: die Schlamperei und die Sensationsgeilheit...



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In eigener Sache

Donnerstag, 22. Dezember 2011

oder: entschleunigte Festtage allen - auch den Ärschen.

Noch zwei Tage, zwei Texte, dann mache ich Schluss - mit dem Jahr. So wie das alle irgendwie auf ihre Art tun. Nach Samstag keine Worte mehr von mir in 2011. Rückblicke auch keine. Das deprimiert nur. Ausschau halten auch nicht. Das deprimiert nur. Über die Gegenwart berichten auch nicht. Das deprimiert nur.

Gegenwärtiges wie erst gestern: da wurden Jugendliche ausländischer Herkunft, die einen Mann in der U-Bahn verprügelt hatten, empfindlich bestraft. Die Staatsanwaltschaft glaubte, es handle sich um einen Fall von Deutschenfeindlichkeit, womöglich auch, weil das die Presse vorformuliert hatte. Der Richter konnte dieser Deutung allerdings nicht folgen - Strafe ja, aber nicht wegen "Hass auf Deutsche". Die Strafe ist unbestreitbar begrüßenswert - gäbe es ein beweisbares deutschfeindliches Motiv, hätte sie ruhig höher ausfallen dürfen. Kurios ist indes nur, dass Staatsanwaltschaften sich sehr schwer damit tun, rechten Gewalttätern Ausländerfeindlichkeit anzuhängen. Wie gesagt, nichts Aktuelles, nichts Gegenwärtiges heute - das deprimiert nur. Ich wollte damit auch gar nicht erst anfangen...

Einiges will ich jedoch noch sagen. Nichts, was sonst so zu lesen wäre an dieser Stelle. In eigener Sache halt...

Meinen Unterstützern will ich da beispielsweise danken. Das sollte ich viel öfter tun. Danke für die regelmäßigen Hilfen, die Anteilnahme, die Rückmeldungen und Erbauungen. Als der blondgelockte Altling vor nicht mal einen Monat von der Showbühne verschwand, ins Lichtermeer tauchte, um aufzusteigen in den Himmel, dort sitzt er zu Rechten... als er ging, da meinte er, er "habe es für Euch getan". Für sein Publikum, wollte er damit sagen. Freilich, dafür alleine tue ich es nicht - ich bin ja auch kein Entertainer. Es ist mir Anliegen, das zu schreiben, was ich zu sagen hätte, wenn ich einen Fernsehsender (oder eine Zeitung) führte - so könnte man das leicht holprig, aber dennoch trefflich formulieren. Dass es allerdings Leute gibt, die mich und mein Wirken schätzen, das ist mir Stütze und sicherlich auch Antrieb. Der Schreibende ist eitel, ich leugne es nicht - und er braucht Gönner und solche, die sein Werk anerkennen. Vielen Dank also...

Und bei all den Ärschen, die jeden Tag um ihre Messiase jammern, die finden ich würde Rassisten und adlige Snobs unfair behandeln, die mir wahlweise Cholera, Obdachlosigkeit oder Ableben wünschen, die soviel Herzblut in ihre Dummheit stecken, um sie in ellenlange Kommentare zu fassen, die ich kaum, manchmal auch gar nicht lese - auch bei den Ärschen möchte ich mich bedanken. Denn sie zeigen mir, dass dieses Land noch wesentlich maroder ist, als man das im Anflug von Optimismus manchmal glauben möchte. Die Ärsche und Vollidioten, die es ihren eigenen Verstand nennen, wenn sie Regierungssprech nachplappern oder mit dem gegelten Adelsmann im Geiste brüderlich herumknutschen, sie sind auf ihre Weise auch wertvoll. Gesundheit kennt nur, wer Krankheit kennt; Frieden nur, wer weiß, was Krieg ist; Sex wird geschätzt, wo es auch Phasen der Askese gibt. Keine These ohne Synthese - kein aufgeklärter Bürger ohne repressives Arschloch. Auch dem Gegenteil dessen, was mir lieb ist, sei Dank entrichtet. Denn auch die sind mir Antrieb...

In diesem Sinne wünsche ich niemanden schöne Weihnachten, weil ich hinter der Idee dieses Festes nicht stehen kann. Für meine Generation galt stets, dass "Weihnachten unter dem Baum entschieden wird" - tiefgründiger war die Weihnacht für uns nie. Auch keinen guten Rutsch will ich letztlich wünschen, denn mit dem ersten Tag des Januars beginnt nichts, endet nichts - das sind nur Marken von menschlicher Hand gesetzt. Willkürliche Grenzlegungen, wie so gut alles auf Erden, wie ich manchmal den Eindruck habe. Aber Ruhe, Gelassenheit und Besinnlichkeit, das kann man wünschen - und man kann sich wünschen, dass es ruhige Phasen dieser Prägung öfter im Jahr geben müsste. Zur Entschleunigung. Zur Stressbewältigung. Und das wünsche ich denen, die mir wohlgesonnen sind - und auch den arschigen, denn das unterscheidet sie von mir und uns: sie entmenschlichen den, den sie verachten - ich sehe sie trotzdem als Menschen. So fair muß man bleiben.

Anfang Januar kehre ich dann peu a peu zurück. Dann wird ad sinistram vierjährig - auch so eine menschlich-willkürliche Grenzziehung...

Lieber Leser, wenn Sie mögen, so dürfen Sie ad sinistram unterstützen. Entweder per Paypal (siehe rechte Seitenleiste) oder über den gewöhnlichen Bankweg. Hierzu ließe ich den Datenschutz ruhen und teilte Ihnen gerne meine Kontodaten mit. Oder aber, Sie entscheiden sich dafür, sich (m)ein Buch - oder gar (m)ein zweites - zuzulegen. Vielen Dank!



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Der Kapitalismus ist schon lange überbaut

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Ob es sich wirklich mit der Resistenz des Neoliberalismus abtun läßt, dass nach und während diverser Krisen dieselben Leitbilder wie vormals vorherrschen, bleibt mehr als fraglich. Linke Positionen rumoren zwar manchmal durch die Feuilletons, aber dort, wo entschieden wird, nimmt man sich ihrer nicht mal ansatzweise an.

Ein Ascheschleier...

Michel Houellebecq berichtet im letzten Kapitel von "Karte und Gebiet" über unsere Zukunft. Er schreibt: "Seit der letzten Finanzkrise, die sehr viel schlimmer als die des Jahres 2008 gewesen war und zum Konkurs der Crédit Suisse und der Royal Bank oft Scotland geführt hatte, ganz zu schweigen von zahlreichen weniger bedeutenden Banken, waren die Bankiers gelinde gesagt ziemlich kleinlaut geworden. [...] Ganz allgemein befand man sich in einer ideologisch seltsamen Epoche, in der jeder in Westeuropa davon überzeugt zu sein schien, dass der Kapitalismus zum Scheitern verurteilt sei - und zwar sogar kurzfristig - und seine allerletzten Jahre erlebte, ohne dass es aber den ultralinken Parteien gelungen wäre, über ihre übliche Kundschaft von gehässigen Masochisten hinaus neue Anhänger zu gewinnen. Ein Ascheschleier schien sich über den Geist der Menschen gelegt zu haben."

Der Schriftsteller beschreibt hier etwas, wovon wir heute schon Notiz nehmen können. Obwohl das Scheitern des Kapitalismus und dessen radikaler Schule namens Neoliberalismus als gegeben angesehen wird, können sich linke Parteien und Absichten kaum einen Weg bahnen. Behäbig dominieren die alten Ideale und Vorstellungen weiterhin die Politik - stur werkelt die Wirtschaft nach kapitalistischen Prämissen vor sich hin, gleichwohl damit immer weniger Staat zu machen ist. Neue Konzepte, aus dem linken Lager stammende Versuche einer Neustrukturierung: Fehlanzeige. Im Gegenteil, überall in Europa gewinnen Konservative und ihre strikten Sparprogramme Wahlen. Wie ein dumpfes Grollen vernimmt man, dass da irgendwas nicht mehr stimmig ist, dass das System morsch ist und die raffgierigen Säulen, auf die das System ruht, nicht mehr haltbar. Aber es geschieht nichts.

... ist der Konsumismus

Houellebecq versteht es in seinen Büchern von jeher, die Rolle des Menschen in der Konsumlandschaft mit soziologischer Schärfe zu analysieren. Für ihn ist der moderne Mensch ein Wesen, das mit sich selbst, mit ideellem Vermögen, kaum Glücksgefühle erlangen kann - schon gar nicht in einer Gesellschaft, die sich nach materiellen Gütern reckt und streckt. Glück, oder das, was man ersatzweise als solches bezeichnen könnte, liegt im Erwerb von Gütern, im fortschrittlichen Technik-Schnickschnack begraben. Der moderne Mensch pflegt Bindungen zu Besitz und zu Dienstleistungen, die er in Anspruch nehmen kann. Bindungen zu Mitmenschen sind um so viel anstrengender. Der Mensch nach houellebecqscher Lesart, er lebt mit dem Ding, nicht mit dem Beseelten - der Nächste ist im einerlei; das Nächste kümmert ihn.

Der Warenfetisch ist es, der seit der Nachkriegszeit Besitz von der Gesellschaft ergriffen hat - der Pop als Reaktion auf konsumtive Ausrichtung des Daseins in der Welt, als ökonomischer Lebensstil ist heute allgemeingültig. Houellebecqs Figuren sind oftmals nur eine gelinde Überspitzung - sie sind ausgebrannt und hohl, gefühlskalt und seelisch verstümmelt. Die Menschen sind in Wirklichkeit natürlich nicht alle so gravierend verstört. Doch die Tendenz stimmt. Hier ist vermutlich die Ursache dafür zu suchen, weshalb trotz der Gewissheit, dass der Kapitalismus mitsamt neoliberaler Schule vor die Hunde geht, keine linken Alternativen aufgeworfen werden. Der Kapitalismus ist nicht mehr der Überbau, er wurde selbst überbaut. Der Konsumismus ist der eigentliche Lenker. Die Habgier, im wahrsten Sinne des Wortes, sie läßt über die Systematik des Anhäufens hinwegsehen. Ob nun Konsum im Kapitalismus oder sonstwo, spielt dabei keine Rolle mehr. Solange man erwerben und kaufen kann, solange die Bedürfnisse gestillt sind, ist es egal, wie man den Apparat nennt, in dem Bedürfnisstillung stattfindet.

Hoffnungslosigkeit

Houellebecqs Auslegung ist zutreffend. Das (ohnehin fiktive) Ringen im Kapitalismus zwischen rechter Auslegung, die tendenziös diktatorisch, und linker Auslegung, die tendenziös freiheitlich, manchmal tendenziös sozialistisch, verstanden werden kann, sind wertlose Scharmützel, die mit dem wirklichen Motor allen menschlichen Strebens in der westlichen Welt und den Schwellenländern, nichts mehr gemein hat. Die Menschen wollen mit Konsumartikeln versorgt sein - nicht nur mit den nötigsten Artikeln, sie sind ja keine Asketen, sondern mit allem, was der weite Kosmos des Konsums an Annehmlichkeiten bietet. Das ist keine Frage von Kapitalismus oder Kommunismus mehr - der Konsumismus hat jedes System unter sich gebracht, hat er schon seit der Nachkriegszeit, als der Funktionalismus dazu überging, die Kompliziertheiten des Lebens streng zu erleichtern und zu Konsumgut zu machen.

Geblieben ist die fehlende Umverteilung, die das Prinzip des Kapitalismus schon war. Wo über den Verhältnissen konsumiert wird, muß andernorts unter den Verhältnissen gelebt werden. Der Konsumismus ist noch weniger als der Kapitalismus auf Ausgewogenheit getrimmt. Er ist das zur allgemeinen Gesellschaftsordnung gemachte Gesicht des individuellen Egoismus. Und mangels Ansatzpunkt, da enthoben von jedem System, kaum reformierbar. Das gelänge nur durch Umerziehung, die aber nicht von der Werbeindustrie, die sich am Konsumismus mästet, initiiert werden kann - oder durch kalkulierte Mangelwirtschaft, die desaströs wäre. Diese Einsicht ist es, die Houellebecq unter anderem umtreibt - sie macht auch, dass sein gesamtes Werk von konsequenter Hoffnungslosigkeit durchdrungen ist. Auch er findet aus dem Dilemma, in das der Mensch sich geschmissen hat - jenem, ein Wesen zu werden, das Glück als Shoppingtour definiert und Zufriedenheit für eine Untugend hält, weil man sich stetig verbessern kann, auch auf konsumtiver Ebene -, keinen Ausweg.



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De auditu

Dienstag, 20. Dezember 2011

Man liest und man hört dieser Tage, dass Bundespräsident Wulff nicht die ganze Wahrheit gesagt habe. Er habe, ob nun wissentlich oder unwissentlich, einige Details seiner privaten Verbandelungen mit der Wirtschaft verschwiegen. Diese Deutung der Ereignisse rund um seine Person sind Allgemeinplatz - das Vertrauen in den Bundespräsidenten scheint erschüttert, weil er nicht die ganze Wahrheit sagte. Diese Floskel, zeugt aber auch davon, dass er doch wenigstens nicht gelogen hat. Er war ehrlich, wenn auch nicht gänzlich. Er druckste herum, stotterte sich ein Geständnis zusammen, war aber vom Mut abgeschnitten, alles auf den Tisch zu bringen. Wulff ist somit kein Lügner, nur eine unentschlossene Person, die ruhigen Gewissens ehrlich sein sollte und auch dürfte - dann würde die Öffentlichkeit ihm seine Tête-à-têtes mit dem ganz großen Geld nachsehen.

Wie man die Affären um Wulff medial behandelt, zeugt wiederum vom fehlenden Mut der Medien. Sie sagen uns nicht die ganze Wahrheit - sie lügen nicht, aber völlig ehrlich sind sie nicht. Wulffs Nähe zum Kapital, die exemplarisch für den ganzen Stand des Politikers anzusehen ist, der in diesen Zeiten kein Volksvertreter, sondern ein Mittler zwischen Gesetzgebung und wirtschaftlichen Interessen ist - Wulffs Nähe zum Kapital also, sie wird verharmlost. Man fordert von ihm Ehrlichkeit, als sei der skandalöse Umstand, dass sich die Politik von Wirtschaft bezahlen, schmieren und aushalten läßt, damit entschuldbar.

Tritt ein Skandal ins öffentliche Leben, konstruieren Medien Schutzfloskeln, um die wirklichen Skandale zu kaschieren. So baut man Wulff eine Brücke, die auf Ehrlichkeit fußt - damit wären Wulffs Abenteuer auf der Spielwiese potenter Geldgeber vergolten. Dass es ein grundsätzliches Problem, ein an die Wurzel gehender Skandal ist, wenn hohe Politik mit großem Geld privatim umgeht, wird damit "als normalste Sache der Welt" abgetan. Welche Freunde Wulff, welche Freunde die Politik an sich hat, und zu welchen Verquickungen von Interessen es hierbei kommen kann, wird hinter "Er hat nicht die ganze Wahrheit gesagt" verborgen.

Wulff tat vor etwa drei Jahren einen Ausspruch, der aus heutiger Sicht völlig konsequent und verständlich ist. Er befand, man solle keine Neiddebatte und Pogromstimmung gegen jene gesellschaftliche Gruppe entfachen, die Arbeitsplätze schaffe. Gemeint waren damals Manager und jene Klientel, bei der Wulff stets seine Urlaube verbrachte...



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Den Worten ein Gewissen...

Montag, 19. Dezember 2011

Eine Rezension von Roberto De Lapuentes Buch "Auf die faule Haut"

Eine Rezension von Frank Benedikt. Erschienen am 14. Dezember 2011 im Binsenbrenner und am 15. Dezember 2011 beim Spiegelfechter.

Unbequem! Das ist der erste Gedanke, der dem Leser wohl unwillkürlich in den Sinn kommt, wenn er De Lapuentes Buch erstmalig zur Hand nimmt. So erging es jedenfalls dem Rezensenten, der das Büchlein (es sind ja nur 157 Seiten) zwei Mal – mit einem halben Jahr Abstand – gelesen hat. Und mit "unbequem" ist beileibe nicht nur gemeint, daß die darin enthaltenen Texte dies nun für bestimmte Gruppen dieser Gesellschaft wären. Wer nur das darin zu erkennen vermag, hat weit gefehlt, beschäftigt sich der Autor doch mit unserer ganzen Gesellschaft und ihrer Sprache – also auch mit uns, den Lesern.

In 19 "Skizzen und Essays" (so der Untertitel) setzt sich De Lapuente mit so unterschiedlichen Themen wie Entfremdung und Geworfenheit, den Problemen eines Migrantensohns, dem Antagonismus in der deutschen Kultur oder auch dem Konsumismus als dem "wahren Sieger" der konkurrierenden Systeme Kapitalismus und Kommunismus auseinander. Den eigentlichen Mittel- wie Höhepunkt des Buches bildet ein über 40 Seiten langes Essay zum Thema Sprache, das sich zwischen allgemeiner Linguistik, Sprachphilosophie und Sprachkritik bewegt. Dabei kritisiert der Autor auch deutlich zunehmende Verschleierung oder Beschönigung von Tatsachen und Sachzusammenhängen durch Worthülsen und inhaltsleere 'Neoliberal Speech'. Eine von ihm erwünschte Präzision des Ausdrucks, wie sie in früheren Zeiten noch möglich und üblich war, ist einer Art Orwellschem "Neusprech" gewichen, das ein differenziertes und kritisches Betrachten gesellschaftlicher Zustände kaum noch gestattet.
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Das große Thema seiner Präsidentschaft

Freitag, 16. Dezember 2011

Das politische Feuilleton ist sich darüber einig: ein Bundespräsident benötigt ein "großes Thema seiner Amtszeit". Eines, dem er während seiner Präsidentschaft stringent folgt, das er immer wieder formuliert und aufwärmt. Das präsidiale agenda setting sei der persönliche und individuelle Stempel, mit dem man die eigene Ära politisch und historisch prägt. Christian Wulff gilt auch deswegen als blass, weil man ihm bescheinigt, noch kein Thema gefunden zu haben. Offenkundig ist das aber falsch - es kristallisiert nun heraus, dass auch er eine thematische Linie gefunden hat.

Von denen nehmen, die haben

Wulffs Leitsatz ruht auf der Teilhabe aller am erwirtschafteten Reichtum. Kommt jemand zu Millionensummen, so läßt sich Wulff selbst von ihm aushalten. Fliegt kostenfrei auf Ferieninseln, läßt sich Mikrokredite mit Mikrozinsen erteilen, wohnt gratis in Villen - das ist gelebte Umverteilung. Nicht zaudern, nicht mosern, sich den Reichtum anderer gut tun lassen. Von denen nehmen, die haben - das ist das große Thema des Bundespräsidenten Wulff. Er spricht wenig darüber, er handelt - kein Mann großer Worte, wohl aber ein Macher.

Das Thema seines damaligen Kontrahenten Gauck, wäre die Freiheit gewesen. Seid arm, aber erfreut euch der Freiheit, die es euch ermöglicht, arm zu sein, hätte er paroliert. Ich bin so frei und verteile aus reichen Taschen in solche, die nicht so voll sind, so der Wulff-Theme. Damit möchte er aufrütteln und andeuten, dass das ein gesellschaftlich verbindliches Modell sein kann. Nehmt denen, die Millionen von Euro haben und gebt denen, die Millionen von Sorgen haben. Wulff rüttelt die Politik wach, Maschmeyers und Geerkens Großzügigkeiten auch in Gesetze zu packen, auf dass alle etwas davon haben.

Auf Korruption, Patronage und Lobbyismus aufmerksam machen

Als Mann weniger Worte, als Anpacker und Macher, kann seine Aktion freilich auch anders interpretiert werden. Vielleicht möchte er als sein großes Thema vor unser aller Augen führen, dass die Politik käuflich und korrupt ist, ein von der Wirtschaft mit Urlauben und Huren versorgter Sektor. Möglich, dass er zum Ausdruck bringen will, dass selbst der Bundespräsident in diesem Lande nicht mehr frei von Käuflichkeit ist; dass er ungefähr so unabhängig ist, wie die Dorfmühle vom Dorfbach.

So oder so, man muß nur die Augen öffnen, denn es ist mitnichten so, dass der Bundespräsident noch immer nach seinem großen Thema sucht. Er hat es gefunden und bringt es regelmäßig auf den Tisch. Wulffs großes Thema ist eine Mischung aus beiden Interpretationen, darf man annehmen. Und noch etwas dürfte sein Thema sein - und das teilt er sich mit seinem Vorgänger. Jenes nämlich, dass in dieser Berliner Republik farblose, uncharismatische und unscheinbare Apparatschiks zur Bundespräsidentschaft gelangen können - das bringt er mit jedem Satz und jeder Regung auf den Punkt. Dass es um parteipolitisches Geschacher und nicht um irgendeine Würde irgendeines Amtes geht, wenn zur Präsidentenwahl geblasen wird, das ist auch so ein großes Thema dieser Präsidentschaft...



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Appell an jene Anarchisten, die es vielleicht gar nicht gibt

Donnerstag, 15. Dezember 2011

Ich habe keine Ahnung, ob es euch gibt, italienische Anarchisten, die ihr eine Bombe ins Vorzimmer Ackermanns gesandt habt oder eben nicht. Aber falls ja, dann unterlasst diesen Unsinn! Hört auf damit, Leuten vom Typus Ackermanns Sprengsätze zu schicken!

Sicher, es ist auch ein Verbrechen. Und auch der ackermannsche Typus ist Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will, um es mit Albert Schweitzer zu sagen. Das berücksichtige ich auch. Aber es ist nicht nur das kalkulierte Mitfühlen von Mensch zu Mensch, das mich euch bitten läßt, diesen Unsinn zu unterlassen. Dieser Typus hat ja durchaus keine Zuckertorten verdient, ganz eurer Meinung. Er soll belangt werden für seine Gier und seinen Größenwahn. Juristisch aber. Ich will kein Mitleid bekommen müssen, wenn eine Kamera durch das zerbombte Büro eines solchen Egomanen getragen wird, überall Blut, Körperfetzen und zertrümmertes Mobiliar auf Steuerzahlerkosten - bitte verschont mich. Ich will solches Leid nicht sehen...

Und bewahrt mich davor, Partei für den ackermannschen Typus ergreifen zu müssen, weil ich seine Ermordung als Mensch nicht dulden will. Ich weiß nicht, ob ihr Anarchos als Meldung Substanz habt oder Phantasmagorie einer gelangweilten Presse seid. Vielleicht beides. Zweifel jedoch gibt es. Schützt mich aber davor, dass ich plötzlich auf einer Linie mit den Freunden, Mitstreitern und Schranzen der Ackermänner marschieren muß. Ich möchte nicht pietätvoll von dieser Bande sprechen müssen, nur weil ihr euch nicht im Griff habt. Ich will nicht vor jeden Satz eine entschuldigende Floskel bauen müssen, dass das nicht richtig gewesen sei, ein Verbrechen, eine Schweinerei und dergleichen mehr.

Schützt mich ebenfalls davor, nach drei Tagen die Nase so dermaßen voll vom Trauerkultus der Presse zu haben, dass ich mich im Ton vergreife und die Überbleibsel des zerbombten Ackermann-Typus beleidige und verspotte und auch noch die ganzen Trauerwütigen, die Blumen niederlegen und ihr tiefestes, ihr allertiefestes Mitleid ausheucheln. Beleidigen als Gegengewicht zur Heiligsprechung gewissermaßen, die Wirtschaft und Politik und bürgerliche Dummköpfe betreiben würden.

Haltet mir das Szenario fern, wonach selbst linke Organisationen und Parteien uneingeschränkt solidarisch werden, nachdem der Sprengsatz detonierte. Kopfnicken der Linken auch dann, wenn neue Terrorpakete besprochen werden - nationale Einigkeit, weil einige Anarchisten, die es gibt oder nicht, einen wie Ackermann aus dem Anzug holten. Jetzt müssen alle zusammenstehen... nationale Krise... keine Parteien mehr... die political correctness, das Schwungrad kollektiver Dummheit und dummer Kollektive.

Wie soll ich mich denn dann rechtfertigen? Schon mal daran gedacht? Die Ackermänner erweitern ihre Profite - mit Gewalt wenn notwendig. Mit Gewalt gegen griechische Demonstranten, gegen afghanische Zivilisten und nigerianischen Aktivisten. Sie bezahlen die Bomben, die auf solche geworfen werden sollen - sie werfen sie nicht selbst. Was ist so viel besser an denen, die Bomben in Büros und Banken schicken, um die Welt von denen zu reinigen, die Bomben auf Marktplätze und Wohnviertel schicken? Anarchismus heißt doch auch, so habe ich es jedenfalls mal gelernt, nicht jedes Mittel zum Zweck zu machen, sondern sie den Zwecken anzupassen. Frieden durch friedliche Mittel - der Krieg bringt keinen Frieden. Denn das wäre die verquere Logik der Falken, die heute den Mittleren Osten mit genau jener Parole "befrieden".

Ich möchte keine Solidarisierung mit Christen und Sozis, mit Grünen und Liberalen, mit Wirtschaftsverbänden und Sicherheitsfanatikern, mit bürgerlichen Mittlern und mittleren Bürgern, weil sie alle schrecklich empört sind, aufgrund eurer Bombe - bewahrt mich davor und lasst es bleiben!



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Ridendo dicere verum

Mittwoch, 14. Dezember 2011

"Man kann nicht umhin zu sagen, dass Wien
eine herrliche Stadt voller Charme ist.

Auch London ist schön und Paris an der Seine,
sogar Oslo macht Spaß, wenn’s dort warm ist.
Aber nix bleibt stabil, weil: die Zeit ändert viel.
Die Zeit ändert überhaupt alles.
Im nächsten Jahrhundert bleibt nix, wie’s halt ist.
Ich bin kein Prophet, aber eins weiß ich g’wiß:

Einmal wird der Eiffelturm nicht mehr sein,
und wo jetzt der Louvre steht, wachst der Wein.
Nur der Euro, der bleibt,
weil den nix mehr vertreibt.
Der wird all’s überleb’n, der allein.
Unser Wiener Stephansturm, der fallt um,
und wo jetzt die Oper ist, dort san’s stumm.
Nur der Euro bleibt stehn;
von Berlin bis Athen
tanzt der Euro um alle herum.

Den Prater werdn’s vernichten.
Der Rhein wird gestaut. Florenz wird verbaut.
Auf’n Petersdom werdn’s verzichten.
Wenn der Papst protestiert, wird er g’haut.

Auf die Champs-Élysées wird ka Wert g’legt,
und das Tivoli wird unter d’ Erd g’legt.
Aus Warschau wird Schutt. Die Schweiz ist kaputt.
Die Grachten erfriern. Die Schweden emigriern.
Dann werd’n militant alle Häuser verbrannt
und als Waren- und Bürohäuser neu eingespannt,

nur der Euro wird leb’n,
nur den Euro wird’s geb’n,
nur der Euro wird zeig’n, was er kann.
Und er kriecht mit Humor
aus der Aschen hervor,
und fangt immer von vorn wieder an.

Mozart verraucht, weil man’n net braucht.
Gleich hinter Mozart raucht Goethe.
Bach wird verjazzt, Rembrandt zerkratzt.
Shakespeare hat auch seine Nöte.
Goldoni und Moliere krieg’n ein neu’n Regisseur.
Nur findet auch der kein Theater.
Denn Theater san g’schlossen, die Museen stehen leer.
Und Buchläden gibt es schon lang keine mehr.
Was braucht ein moderner Mensch Lit’ratur?
Auch von Philharmonikern keine Spur!
Nur der Euro bleibt stark!
Den legt niemand in’n Sarg!
Hast du Euro, dann hast du Kultur.
Der kann Kunst imitiern,
der kann die Politiker schmiern,
der baut Banken zu den Sternen,
baut McDonalds, baut Kasernen,
der schmückt’s Fernsehn mit ein’m Glorienschein:
Man ist stolz, Europäer zu sein!
Für den Euro sterb’n die Poeten,
und zum Euro lernt man beten:
Euro unser, der du bist...
Und dann merkt auch der letzte Tourist,
was Europa ist."
- Georg Kreisler, Man kann nicht umhin zu sagen, dass Wien
eine herrliche Stadt voller Charme ist.
Auch London ist schön und Paris an der Seine,
sogar Oslo macht Spaß, wenn’s dort warm ist.
Aber nix bleibt stabil, weil: die Zeit ändert viel.
Die Zeit ändert überhaupt alles.
Im nächsten Jahrhundert bleibt nix, wie’s halt ist.
Ich bin kein Prophet, aber eins weiß ich g’wiß:

Einmal wird der Eiffelturm nicht mehr sein,
und wo jetzt der Louvre steht, wachst der Wein.
Nur der Euro, der bleibt,
weil den nix mehr vertreibt.
Der wird all’s überleb’n, der allein.
Unser Wiener Stephansturm, der fallt um,
und wo jetzt die Oper ist, dort san’s stumm.
Nur der Euro bleibt stehn;
von Berlin bis Athen
tanzt der Euro um alle herum.

Den Prater werdn’s vernichten.
Der Rhein wird gestaut. Florenz wird verbaut.
Auf’n Petersdom werdn’s verzichten.
Wenn der Papst protestiert, wird er g’haut.

Auf die Champs-Élysées wird ka Wert g’legt,
und das Tivoli wird unter d’ Erd g’legt.
Aus Warschau wird Schutt. Die Schweiz ist kaputt.
Die Grachten erfriern. Die Schweden emigriern.
Dann werd’n militant alle Häuser verbrannt
und als Waren- und Bürohäuser neu eingespannt,

nur der Euro wird leb’n,
nur den Euro wird’s geb’n,
nur der Euro wird zeig’n, was er kann.
Und er kriecht mit Humor
aus der Aschen hervor,
und fangt immer von vorn wieder an.

Mozart verraucht, weil man’n net braucht.
Gleich hinter Mozart raucht Goethe.
Bach wird verjazzt, Rembrandt zerkratzt.
Shakespeare hat auch seine Nöte.
Goldoni und Moliere krieg’n ein neu’n Regisseur.
Nur findet auch der kein Theater.
Denn Theater san g’schlossen, die Museen stehen leer.
Und Buchläden gibt es schon lang keine mehr.
Was braucht ein moderner Mensch Lit’ratur?
Auch von Philharmonikern keine Spur!
Nur der Euro bleibt stark!
Den legt niemand in’n Sarg!
Hast du Euro, dann hast du Kultur.
Der kann Kunst imitiern,
der kann die Politiker schmiern,
der baut Banken zu den Sternen,
baut McDonalds, baut Kasernen,
der schmückt’s Fernsehn mit ein’m Glorienschein:
Man ist stolz, Europäer zu sein!
Für den Euro sterb’n die Poeten,
und zum Euro lernt man beten:
Euro unser, der du bist...
Und dann merkt auch der letzte Tourist,
was Europa ist."
- Georg Kreisler, "Der Euro" -

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Altersarmut endlich im Griff

Montag, 12. Dezember 2011

Die Regierungen des Zeitgeistes, die jetzige und die vormalige und vorvormalige, dürfen sich brüsten. Reformen gefruchtet. Die Anpassung des Renteneintrittsalters, die Schaffung eines Niedriglohnsektors und zusätzlich die Umsetzung des SGB II, haben Deutschland wieder wettbewerbsfähig gemacht. Die Lebenserwartung von Geringverdienern hat sich in den letzten zehn Jahren nennenswert verschlechtert. Zwei Jahre weniger als damals leben sie durchschnittlich - und sie sollen später in Rente gehen als damals, zum Ausgleich sozusagen.

Zwischen theoretischem Renteneintritt und Ableben lagen 2001 noch zwölf Jahre. Heute haben sich die Zahlen dramatisch verschoben: zwischen angestrebten theoretischem Eintritt und Ableben sind noch etwa acht Jahre zu füllen. Mit Grundsicherung vermutlich. Womit sich zynisch festhalten läßt, dass die oben genannten Reformen ein mildtätiges Programm sind, denn sie halten Senioren nicht in Altersarmut, sondern katapultieren sie aus ihr heraus. Geradewegs in den Tod. Das sind wahrscheinlich die oft zitierten Initiativen aus Sonntagsreden, die effektiv herauskommen: Altersarmut abschaffen, indem man arme Alte abschafft. Ökonomisch verordnete Euthanasie...

Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich, plappern die Medien seit Jahren der Wissenschaft nach. Demographen sprechen von der Vergreisung und (alp-)träumen von Gesellschaften, in denen es von Hunderjährigen nur so wimmelt, in denen Fünfundachtzigjährige als die Benjamins fröhlicher Wandergruppen gelten. Davon ist nur wahr, dass all jene, die ein Auskommen hatten, die sich wenig finanzielle Sorgen machen mussten und vielleicht durch Sonderkonditionen bei Betriebskrankenkassen relativ gesund und fit halten konnten, wirklich auch älter werden. Alle anderen, die in der zweiten Chance des Niedriglohnsektors waten, von prekärer Beschäftigung in Niedriglohn und von Niedriglohn zu prekärer Beschäftigung wechseln, ständig in Sorge leben und für die auch Gesundheit etwas ist, was man nur schwer erhalten kann, weil beispielsweise im Krankheitsfall zuerst der Leiharbeiter fliegt - all diese anderen, sie sterben allerdings früher und nun noch früher.

Die Wirtschaft, die sich die Politik als Handpuppe hält, jubeliert alle Monate. Die Reformen waren richtig und zielführend. Der Niedriglohnsektor sei wertvoll, bringe Menschen in Arbeit und erlaube den Unternehmen Flexibilität. Über den Preis haben sie nie berichtet. Es kostete nicht wenig. Die Arbeitnehmer und Erwerbslosen bezahlten es. Mit zerschlagenen Hoffnungen und enttäuschter Zuversicht, es kostete Selbstachtung und sozialen Abstieg - und es kostete, keiner will es so deutlich sagen: vielen Menschen einige Jahre.



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Lob auf eine Reform, die gar keine ist

Kürzlich fand sich im Stern ein Lob auf die SPD-Bürgerversicherung. Genau betrachtet war dieses Lob aber nichts weiter als die Bestätigung, dass der neoliberale Esprit immer noch genug Befürworter mit Tastatur kennt, die für den Erhalt des status quo schreiben.

Die neoliberale Trias: Wettbewerb, Zwei-Klassen-Medizin und "Pragmatismus"

Dass die Absichten der SPD sind, den "Wettbewerb im Gesundheitswesen" zu schaffen, erschreckt und wird als Prämisse der Sozialstaatlichkeit nicht mal mehr hinterfragt. Wettbewerb zwischen grippalen Infekten und Ödemen, zwischen Krebs und Agina pectoris - Patienten hätten vermutlich wesentlich andere Sorgen, als zum Wettbewerber ihres Leidens werden zu wollen.

Besonders wichtig scheint es dem Hohelied der SPD-Versicherung dabei, dass die Pläne "keine Enteignung der Privatpatienten" vorsehen, wie es der Autor so dramatisch formuliert. Damit will er wahrscheinlich sagen: keine Einheitskasse, in der alle gleich behandelt werden. Stattdessen sollen die Behandlungssätze für Ärzte bei Kassenpatienten dezent steigen. Der Privatpatient bleibt jedoch Patient erster Klasse. Auch daran wird nicht gerüttelt, denn gelten soll weiterhin, dass der, der das Geld hat, auch bessergestellt sein soll.

Um die Kosten des Gesundheitswesens zu stemmen - ignorieren wir mal, dass die Krankenkassen erst kürzlich einen Milliardenüberschuss "erwirtschaftet" haben -, gäbe es von jeher Pläne, auch Beiträge auf Mieten und Zinsen zu erheben, um damit Engpässe durch eine reiche Klientel zu umgehen. Das sei aber sinnlos, weiß der Stern-Artikel, weil selbst das Finanzamt manche Zinserträge nicht ermitteln könnte. Das ist wirklich untragbar - statt aber Abhilfe zu fordern, um manchen vermögenden Drückeberger doch noch seiner Steuerpflichten zuzuführen, resigniert man. Das Lob auf die Bürgerversicherung nimmt diese Mängel einfach hin. Pragmatismus nennt man das dann wohl...

Die Reform, die gelobt wird, weil sie nichts reformiert

Die Übertreibung, mit der der Stern hier hantiert, unterstreicht tatsächlich neoliberale Positionen. Wettbewerb innerhalb der Medizin wird gelobt - den hat man aber schon seit Jahren beständig integriert und damit viele Verschlechterungen der Versicherten in Kauf genommen. Kein Bekenntnis dazu, dass alle, egal ob reich oder arm, aus einem Topf heraus behandelt werden sollten - vor dem Arzt alle gleich, im Angesicht der Krankheit alle gleich: Gleichheit, da schüttelt es den Neoliberalismus, das sind für ihn ekelhafte Kommunismen. Und auch die Finanzierungssicherheiten und -modalitäten zu verändern und gerechter zu gestalten, wird als unrealistisch abgetan - nicht, weil kein Geld hierzu da wäre, auch nicht, weil es keine Visionen gäbe, wie man Versicherungsbeiträge gerechter gestalten könnte - nein, man will das Sozialstaatsgebot einfach nicht, man will nicht starke Schultern stärker belasten, weil das die Leistungsträger übelnehmen könnten. Daher macht man auf Pragmatiker und schiebt den Zinssumpf vor.

Der Stern lobt ein Reformvorhaben, das eigentlich gar kein Reformvorhaben darstellt. Alles soll in leicht abgewandelter Form so erhalten bleiben, wie es gerade ist. Klar, das Gesundheitswesen war auf einem guten neoliberalen Weg - voller Markt, mit emsigen Wettbewerbern und Patienten, die sparsam und effizient therapiert wurden. Nicht dass die Euro-Krise (die ja in der Kombination mit all den anderen Krisen, die uns ereilten, eine System-Krise darstellt) plötzlich den guten alten Zeitgeist wegwischt. Wahlfreiheit ist dabei das große Werbeversprechen - das ist letztlich aber nur die Eitelkeit neoliberaler Denke, deren Zwang, stets in Wahlkategorien zu denken, die es letztlich so gar nicht gibt. Für Patienten ist es kein Fortschritt zu wählen, wohin sie ihre Leiden tragen - sie wollen sie bestmöglich kuriert wissen, egal wohin sie gehen.

Diese Gefahr scheint jedoch nicht gegeben. Weder die Sozialdemokratie, die nach eigenen Empfinden nach links gerutscht ist, was Politologen nachhaltig unterstreichen (und wovor sie warnen), schafft es sich von alten Gepflogenheiten zu lösen, legt sie doch Reformpläne vor, die mit Memmenmut gestrickt sind. Noch die schreibende Zunft läßt davon ab. Mag sein, dass die Zeiten des neoliberalen agenda setting, in denen es nur blindes Nachlaufen hinter Parolen gab, vorbei sind. Doch mittendrin stellt man ernüchtert fest, dass es anders kaum geworden ist.



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Das eingeschnappte Lebensgefühl

Freitag, 9. Dezember 2011

Liest man die Diekmännische, und überfliegt man hierbei auch nur die Aufmacher und Überschriften, so kann leicht der Eindruck entstehen, dass Deutschland ein stets verschmähtes, verlachtes, verspottetes, verarschtes, bedrohtes, ausgebeutetes und despektierlich behandeltes Land ist. Und der Deutsche, er ist der verschmähte, verlachte, verspottete usw. Vertreter seines Landes.

Deutschland contra...

Die Diekmännische Tageszeitung meidet das Bindewort - es gibt kein Und, es gibt nur Gegen; kein Deutschland und die anderen, lediglich ein Deutschland gegen die anderen. Deutschland scheint auf diesen Seiten keinen sicheren und anerkannten Platz in der Welt zu haben; es muß beständig gegen die Verdrängung von diesem Platze kämpfen. Bis in jedes kleinste und belangloseste Ressort ist der Furor, die Welt sei gegen das Deutsche, spürbar. So kann es passieren, dass man alleine an einem Tag vorgesetzt bekommt, dass die EU Deutschlands Exportüberschüsse für bedenklich hält ("Warum gönnt man uns den Erfolg nicht?"), eine deutsche Mannschaft im Europacup verpfiffen wurde ("Was hat der Schiri gegen deutsche Mannschaften?"), irgendein deutscher Funktionär auf Europaebene durch einen anderen Funktionär anderer Nationalität ausgetauscht wurde ("Warum wollen die keinen Deutschen mehr im Amt?") und ein peripheres EU-Land Deutschland dazu verpflichten will, auch Flüchtlinge aufzunehmen, um selbst entlastet zu werden ("Müssen denn immer wir bezahlen?").

Deutschland, einig Opferland. Das Deutschland, das uns die berühmte Tageszeitung abbildet, es ist wehleidig, weinerlich, strotzt vor Selbstmitleid. Aber es zieht sich nicht zurück, es bläst zum Gegenangriff, schreit die Ungerechtigkeit laut hinaus. Jeder soll das Unrecht hören...

Eingeschnapptes Lebensgefühl

Als Journalist unter Diekmann, vermutlich war es unter dessen Vorgängern nicht gravierend anders, muß man verinnerlichen, aus einem Land zu berichten, dass von jeher an die Wand gedrückt wird. Larmoyanz ist das tägliche Brot. Keiner mag uns!, ist die Parole, die weinerlich umformuliert lautet: "Warum mag uns nur keiner?" Der Journalist fragt beleidigt, er versteht die Welt im wahrsten Sinne der Redewendung nicht mehr, deshalb hinterfragt er das Gestrüpp an Diskriminierung, Undankbarkeit und Verunglimpfung. Es ist doch nicht normal, dass uns Europa so verabscheut. Der Neid ist dann die Ausrede: man beneidet uns, man gönnt uns nichts. Er ist es, der Europa gegen Deutschland stellt - manchmal sogar die ganze Welt, wenn beispielsweise in einem WM-Endrundenspiel mal wieder ein Einwurf für Deutschland nicht gegeben wurde, der vermutlich aber ganz sicher den Siegtreffer gebracht hätte. Spottet die Welt über eine Nationalelf, die ohne Glanzpunkte und mit viel Glück ins WM-Finale stolpert, man denke hierbei an das Turnier in Japan und Südkorea, so ist man eingeschnappt, weil einem diese Welt nicht mal den Titel gönnt.

BILD zu lesen bedeutet ein bestimmtes Lebensgefühl zu konsumieren. Dieses Lebensgefühl heißt: Wir gegen die Welt! Und der Journalist hat es dem Konsumenten zu vermitteln. Er ist das Medium zwischen ungerechter Welt und immer benachteiligtem Deutschland. Er formuliert die Verarschung, mit der man als Deutscher von Geburt an konfrontiert ist. Das savoir vivre, das Verstehen-zu-leben des Deutschen ist nicht Genuss oder Gemütlichkeit oder Gelassenheit - es ist das unterschwellige Bewusstsein, einem Volk zugehörig zu sein, das beharrlich veräppelt, betrogen und ausgelacht wird. Zumindest meint das die Redaktion besagter Zeitung.

Iniquité, Imbécillité, Fraternité

Mitglied dieses auserwählten Volkes zu sein, das schmiedet eine Schicksalsgemeinschaft. Was das BILD-Volk zusammenhält, diese dumpfe Gewissheit gründlich von Europa, von der Welt verarscht und erniedrigt zu werden, das ist der Kitt. Was sollte sonst die Nation einen? Die immer mehr auseinanderklaffende Einkommensschere? Die Zwei-Klassen-Medizin? Diätenerhöhungen und steigende Managergehälter bei Einsparungen im Sozial- und Gesundheitswesen? Die gemeinsame Empörung gegen die, die uns nichts gönnen, die uns auslachen und ausbeuten, das vereint, das fraternisiert.

Wir empören uns, also sind wir. Erst wenn das Volk von Gnaden Diekmanns gemeinsam entrüstet ist, entsteht das Wir. So betrügt man nicht mehr Deutschland - man betrügt uns. Lacht nicht mehr über Deutschland - wir werden ausgelacht. Du bist Deutschland - wir alle. Zusammen gegen den Rest der Welt, der uns respektlos behandelt. Wir sind alle Brüder im Geiste Diekmanns, wenn wir nur einen gemeinsamen Punkt in der Ferne fixieren, auf den wir unsere weinerliche Entrüstung zielen können.



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Vergriffen?

Donnerstag, 8. Dezember 2011

Die verschiedenen Verlautbarungsorgane der deutschen Eliten melden: Guttenbergs Buch vergriffen. Nachdrucke in Arbeit. Bitte Geduld, der Weihnachtsschlager 2011 wird auch Ihren Gabentisch zieren. Kein Fest ohne Uns Karl Theodor - versprochen!

Ich war am Wochenende kurz in der Buchhandlung. Nicht wegen Herrn Baron. Andere Leute von Adel, von geistigen Adel, zogen mich dorthin. Und da lag es: das Evangelium nach Karl, diese apokryphe Schrift, die nun gefunden wurde, um dem biblischen Kanon angegliedert zu werden. Da lag dieses hagiographische Wunder, dieses moderne Jesus-Geschichtlein. Und es lag da nicht als letztes Exemplar herum, als vergessener Packen Papier einer ansonsten vollkommen vergriffenen Schrift. Zentnerweise lag es herum; Buch auf Buch, mehrere Stapel. Zwei Tage später. Wieder war ich in einer Buchhandlung. In einer anderen Buchhandlung. Auch dort einige Kilogramm dieses Evangeliums.

Dorthin scheinen die Bücher verkauft worden zu sein: an Buchhandlungen. Die haben sich größere Bestände gesichert, darauf spekulierend, dass der ganz große Hype entsteht. Vergriffen sind die Bücher allerdings nicht. Sie liegen in den Verkaufsräumen herum - wer eines haben will: hurtig zum Händler! Der Weihnachtsschlager spielend erhältlich - wenngleich er damit wahrscheinlich kein richtiger Weihnachtsschlager mehr ist. Sicher, trotz dieses meterweisen Reservoires an Heiligengeschichtchen, die auf Verkaufstischen liegen, schlecht verkaufen wird sich das Ding nicht. Die Deutschen stehen auf Pulp Fiction, auf Schund. Man liest Pilcher und Guttenberg. Man liebt Rührseliges für die Seele, man liebt den Gefühlsschmalz. Dort Liebesglück auf Umwegen, hier politischer Erfolg auf Umwegen. Der deutsche Schundist mag seinen Ausblick auf ein Happy End. Er mag Heroen und Don Quichottes.

Erstaunlich ist allerdings schon, wie die Medien ohne nachzufragen verströmen, was man ihnen einträufelt. So entsteht der Eindruck, dass dieser blaublütige Teufelskerl anfassen kann, was er auch mag: es endet immer in Gold und Juwelen. Ein Sonnyboy, der es drauf hat. Schreibt ein Buch, das er ungefähr so geschrieben hat, wie damals seine Dissertation, und schon ist es vergriffen. Dass alleine in einer kleineren Großstadt Zentner des Buches ausliegen: kein Sterbenswörtchen. Zwischen dreißig und vierzig Stück waren vorrätig und ich war noch nicht mal in allen Buchhandlungen der Stadt. Sicher, das ist nicht repräsentativ, jedoch man rechne das mal auf die Bundesrepublik hoch - vergriffen ist da gar nichts. Man ist höchstens von dieser medial verbreiteten Vergriffenheit ergriffen...



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De dicto

Mittwoch, 7. Dezember 2011

"Die Anti-Atomkraft-und-Anti-Gorleben-Bewegung aber machte mobil gegen den jüngsten Castor-Transport, als betrauerte sie, dass ihr demnächst der Lebensinhalt abhandenkommt."
- Berthold Kohler, Frankfurter Allgemeine vom 29. Oktober 2011 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Hat die Regierung mit dem Atomausstieg auch gleich noch die Nachwirkungen des atomaren Zeitalters beseitigt? Meiler und Strahlung miteinander abgeschafft? Das könnte man vermuten, wenn man Kohlers Ausführungen liest, die um den verlorenen Lebensinhalt der Anti-AKW-Bewegung schwadronieren.

Das klingt so, als habe die Anti-AKW-Gesinnung keine Konjunktur mehr. Dabei gibt es genug Felder, auf die sie marschieren kann und vermutlich wird und teilweise ja schon tut. Die Sicherheitsverwahrung für Meiler, wenn sie denn erst mal abgeschaltet sind, wird sich stets an der finanziellen Frage messen müssen. Überkuppelungen, Messeinheiten und technische Dienste werden Gelder fressen. Einerseits wird Anti-AKW darauf achten müssen, ob kommende Regierungen nicht an notwendigen Geldern knapst und sie wird gleichzeitig Forderungen formulieren müssen, wonach nicht die Steuerzahler - jedenfalls nicht die alleine - für die Nachwehen des Atom-Reibachs aufkommen dürfen. Energiekonzerne, die jahrzehntelang den Rahm abschöpften, sind gesetzlich zu verpflichten, die Folgekosten für dieses für sie guten Geschäfts zu bezahlen. Wir werden noch Generationen in stillgelegte Meiler investieren müssen - Atommüll wird noch länger durch Deutschland gegondelt - und unter Tage gelagert sowieso. Alles Risiken, die mit dem Atomausstieg nicht beseitigt sind.

Zwei weitere Aufgaben wird die Anti-AKW-Gesinnung übernehmen. Sie wird als Drohung für die jeweiligen Regierungen fungieren müssen. Denn diese könnten jederzeit wieder, wenn die Atomgefahr nicht mehr breitenkompatibles Gedankengut ist, umfallen und wie vor gut einem Jahr die Regierung Merkel, einen Ausstiegsausstieg beschließen, wenn sie von Lobbyarbeit untergraben wird. Die Atom-Lobby ist durchaus nicht tot, sie arbeitet - wer vom schwindenden Lebenssinn der Anti-AKWler spricht, der will der Atom-Lobby den Kontrahenten stehlen. Aktuell ist die Aufgabe von Anti-AKW, den zaghaften Ausstieg zu kritisieren und einen Green New Deal zu fordern, der eine Art Aufbruchstimmung für erneuerbare, dezentral strukturierte Energiemodelle entfesselt.

Der Lebensinhalt der Anti-AKW-Bewegung ist nicht verlorengegangen. Leider. Aber diese Einsicht kann man niemanden abringen, der den zivilen Ungehorsam gegen die unterirdische Verseuchung seiner Heimat, als linkskriminelle Machenschaften abtut.



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Mit der Steinschleuder

Dienstag, 6. Dezember 2011

Letzte Woche legte David seine Steinschleuder nur kurz zur Seite. Auch das ist notwendig, man kann nicht fortwährend Steine in Goliaths Gesicht katapultieren. Mal braucht es auch Besinnung und Rückschau. Und David blickte hinter sich, erkannte acht Jahre und sah, dass es gut war.
Man würde ihn fragen, warum er sich täglich diesem sinnlosen Unterfangen widmet, weshalb er sich sein Scheitern nicht eingesteht. Der aussichtslose Kampf gegen die Maschinerie der Propaganda könne doch niemals gewonnen werden.

Ist man das? Ist man gescheitert, wenn man Goliath nicht stürzen, kaum taumeln läßt? Trifft das zu? Der besagte David, der im weltlichen Leben als NachDenkSeiten angesprochen wird, er schleudert ja nicht alleine Steine gegen Riesenköpfe. Man benutze den achtjährigen Geburtstag der NachDenkSeiten daher auch dazu, um an all die anderen Davids zu denken, die meist noch kleiner sind als jener Achtjährige. Alle mit Steinschleudern - manche zielen gut, manche besser. Davids, die im irdischen Dasein als Weblogs oder kritischer Journalismus gerufen werden. Viele Davids mit vielen Steinschleudern, die dem Riesen wenigstens Beulen machen.

Beulen sind kein Scheitern. Einem Goliath die eitle Sonnenscheinmiene, mit der er betrügt und hintergeht, zu ramponieren - das ist kein Scheitern! Es ist auch nicht der große Wurf. Freilich nicht. Muß man daher sein Werk eintstellen, nur weil es nicht vollbracht und abgeschlossen werden kann? Und es ist ja nicht gesagt, dass der Koloss, wenn wir ihn schon nicht in den Staub werfen, sich einfach umdreht und geht - mit hässlichen Beulen und Kratzern im Gesicht, mit einer zerfurchten Fratze überzeugt man die Leute manchmal ein wenig weniger. Dann kleben die Heilslehren des neoliberalen Goliath an ihm fest, können nicht mehr verabreicht werden.

Und falls es doch so kommt, dass er weder stürzt noch geht? Wenn man es schon heute wüsste, dass alles Steinschleudern ohne Resultat bleibt? Aufgeben? Doch war es nicht das Glück des Sisyphos, den Felsen nach oben zu wälzen, ihn zu wälzen, zu wälzen, bis die Schwerkraft ihn zurückholte an den Fuß des Berges, um erneut zu beginnen? Müssen wir uns Sisyphos nicht als glücklichen Menschen vorstellen? Er hatte doch seine Aufgabe gefunden. Die war, wir wissen es seit Camus, sicherlich absurd. Aber sie war deswegen nicht minder Aufgabe - etwas zu Erledigendes. Einer musste eben Felsen wälzen - und das tun die Davids ähnlich. Ihre Felsen sind Steine und sie wälzen nicht, sie schleudern. Kann sein, dass es absurd ist, kann sein, dass man immer neu schleudern muß - aber irgendwer muss es doch tun.

In diesem Sinne, zum achten Jahrestag Gratulation und weiterhin David sein. Und ab und an denkt an die anderen Davids, die so viel kleiner sind wie ihr es seid, liebe NachDenkSeiten...



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Wieder nur schreiben lassen

Montag, 5. Dezember 2011

Er kann es einfach nicht lassen. Nachdem der Freiherr aus dem Amt schied, über den Atlantik machte, kündigte er noch an, er wolle sich nun an einem Buch üben. Die Vakanz von der Politik würde er nutzvoll verwerten, um ein Buch zu schreiben. Polemiker fragten daraufhin: selbst schreiben oder selbst denjenigen bezahlen, der ein Buch für ihn fertigstellt? Einige Monate ist das nun her und siehe da: sein Buchprojekt entblößt sich als ein lahmes Interview, das man zwischen zwei Buchdeckel band - und er hat sich nicht mal selbst interviewt, sondern sich einen erzkonservativen Journalisten engagiert. Seine damalige Ankündigung, abermals ein Betrug - er wird wohl nimmermehr selbst den Füller schwingen...

So übt sich das gegenwärtig "größte politische Talent" dieses Landes im Comeback. Und der Klappentext "seines" Buches prägt dieselben leeren Worthülsen, die auch er einst fabrizierte. Schon alleine die Aussage, der Freiherr sei das "größte politische Talent": was will man damit eigentlich aussagen? Was hat er geleistet? Eloquent eingeschläfert - feiner Zwirn, teure Brille - penibel gebundener Windsorknoten. Reicht das aus, um das "größte politische Talent" zu sein? Über den "schlechten Zustand der deutschen Politik" spricht er auch, verspricht der Klappentext. Als ob er der Erlöser aus diesen Zuständen wäre. Ausgerechnet einer, der in allen seinen politischen Positionen für Skandale und Affären gesorgt hat.

Der Windsorknoten bleibt erstmal im Schrank hängen, denn der Freiherr stiert im offenen Hemdskragen von der Klappe. Er stiert wie eine Mischung aus einem gealterten Markus Lanz und einem urplötzlich seriös mimenden Lothar Matthäus von "seinem" Buch. Er stiert visionär vor sich hin, wie einer, der mitteilen möchte, dass er zukünftig noch etwas vor hat. Ohne Krawatte, mit aufgeknöpften Kragen, will sagen: Anpacker, Macher, kein Schnösel, einer von euch. Die Bildsprache des Freiherrn gibt Auskunft über seine Absichten. Der Titel ja auch, denn der Herr ist nur "vorerst gescheitert" - erstmal habe er den Kürzeren gezogen, später sieht es wieder anders aus. Der Klappentext spricht über die "Voraussetzungen für die Rückkehr eines immer noch enorm populären Politikers" - die sollen nun mit dem Buch geschaffen sein, welches der erzkonservative Journalist dem adligen Herrn geformt hat.

Als Minister eine leere Worthülse, ein Sprücheklopfer. Als er sich aus den Affären stahl, als seine Bundeswehrreform als unzureichend entblößt wurde - dann natürlich, als er seinen Doktor in Auftrag gab. Selbst sein politischer Abgang, als er uneinsichtig wich und großkotzig ein Buch in Aussicht stellte, welches nun mit diesem windigen Stück aufgeblasenen Interviews abgegolten sein soll. Ein zuweilen blendend aussehender, Menschen blendender Maulheld letztlich - das ist es, was er kann. Ist es das, was einen zum "größten politischen Talent" macht? Und schreiben läßt er - in seinen Kreisen schreibt man nicht mehr selbst, man hat Gesinde. Ghostwriter und willfährige Journalisten. Journalisten wie Lorenzo, der Guttenberg nicht zurückgetreten sehen wollte, als die Bandbreite des Beschisses schon auf dem Tisch war. Oder er läßt Biographien schreiben von seiner adligen Sippschaft, verkündet dabei, er sei nicht angetan von der Biographie, öffnet aber der Autorin, Anna von Bayern (ist das ein Nachname oder der rudimentäre Versuch einer Anschrift?), sein privates Fotoarchiv. Selbstinszenierung - die Arbeit sollen andere machen.

Dass er eine neue Partei gründet, hat er nie versprochen. Andere haben sich das von ihm versprochen. Alleine diese Gefahr dürfte nicht bestehen. Er gründete keine - wenn überhaupt, dann würde er gründen lassen. Sein Gesicht böte er an. So hat er es immer gemacht. Verwaltungsbeamte erledigten das Tagesgeschäft in den Ministerien - Guttenberg gab sein Gesicht; beim aktuellen Buch: er spendierte sein Gesicht, zum Selberschreiben hatte er keine Lust; seine Doktorarbeit zierte auch nur sein Gesicht. Wenn aber Affären aufkeimten, dann entzog er sein Gesicht ganz schnell wieder. Schließlich wollte er sein Gesicht wahren. Dieser Kostgänger ist keine Gefahr - er macht ärgerlich und seine Dreistigkeit macht stutzig; ebenfalls seine Jünger und deren publizistische Hurerei. Aber ansonsten kein Grund zur Sorge - Guttenberg bringt alleine nichts fertig.



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Ich denke ihn mir als Buchstaben

Sonntag, 4. Dezember 2011

Sein Gesicht habe ich nie gesehen. Seine Stimme nicht gehört. Für mich hatte er keinen Körper. Er bestand aus Buchstaben, Zeichen, aus erlesenen, aus bemerkenswerten Texten - er bestand aus Informationen, die ich über ihn hatte. Mittfünfziger. Aus Berlin. Postleitzahl. Ich kannte ihn nur als Zahlenwust. In mein Leben trat er als Zeichensalat, nie als Leib.

Zwei Jahre sind vergangen, seitdem dieser Mensch, den ich nie als Menschen kannte, gestorben ist. Viel ist passiert seit jener Zeit; für die Welt, für mich. Ich habe damals einige elektronische Briefe mit ihm getauscht. Über die Welt, wie sie sich wandelte - über den Sozialstaat, wie er darniederlag - manchmal klitzekleine Privatheiten. Wir besprachen Widgets; wir ereiferten uns über Plug-ins - der Soziolekt des Bloggens. Ich wusste wenig über ihn selbst, viel über seine Denkmuster - ich wusste, ich spürte, dass er ein belesener Geist war. Doch nicht mal seinen Nachnamen kannte ich. Obgleich er nur über den Monitor meines Rechners Gestalt für mich annahm, war das Menschliche, das da von der anderen Seite her durch die Leitung kroch, intensiv spürbar. Eine Bekanntschaft unserer Epoche; eine gesichtslose Bekanntschaft, wie sie lediglich die Ära der allseits bereiten, allseits umsetzbaren Kommunikation erfinden kann.

Seine Texte waren Labsal. Darin versöhnte sich vergeistige Lebenserfahrung mit eloquentem Mut. Seine Kritik am neoliberalen Wahn war stets durchdacht. Ich hatte nie den Eindruck, dass er seine Kritik auf sentimentale Duseleien baute, vielmehr pflückte er die Thesen seiner weltanschaulichen Kontrahenten dialektisch auseinander, gab er der Ratio Argumente zur Hand. Dessenungeachtet war der Mensch zu spüren. Die Symbiose aus Denker und Fühler. Die Emotion war sein Pferd, die Ratio sein Reiter. Ein kantianisches Gemüt.

Mir ist so, als sei er auch Musiker gewesen. Habe ich ihm je erzählt, dass ich damals in einer Ehe lebte? Er kannte sich jedenfalls mit amerikanischer Musik aus, erinnere ich mich. Wusste er, aus welcher Stadt ich kam? Sich nie gesehen zu haben, wenig bis nichts übereinander zu wissen - wie arm und reich uns die Segnungen breitbandinger Glasfaseranbindungen doch machen. Komische Tage, in denen wir leben. Man begegnet sich blind, man spricht stumm miteinander, man hört sich taub.

Anderthalb Jahre hatten wir sporadisch Kontakt miteinander, verrät ein Blick ins elektronische Postfach. Da und dort Tage in Serie, ab und an wochenlanges Schweigen. Fast täglich las ich auf seinen Seiten. Und dann unterbrach der Tod die Kommunikation. Denke ich an einen Freund aus Kindertagen, den ich einst hatte, und der später, der Kontakt war längst abgerissen, beim Wintersport den Tod fand, so stelle ich mir stets einen lachenden, nicht gerade schlanken Jungen von fünf oder sechs Jahren vor. So war er in meinem Leben präsent. Denke ich an diesen Mann, der vor zwei Jahren ging, ich kann mir kein Gesicht denken - ich sehe e-Mails vor mir, ich erinnere mich an Passagen aus seinem Schaffen, an Gedankengänge, die er mir beibrachte. Buchstaben, keine Haut; weißer Monitorhintergrund, keine Augen - das war, das ist er für mich.

Gleichwohl sitze ich zwei Jahre später hier und schreibe über ihn. Über einen, den ich nie sah. Über einen Menschen, von dem ich vielleicht nie wissen werde, wie er ausgesehen hat. Ob ich nur jetzt, da erst zwei Jahre ins krisengeschüttelte Land gingen, daran denke? Muß ich damit rechnen, noch als alter Mann meine Gedanken in die ferne Vergangenheit zu werfen, um mich zu fragen, wer er war, wie er aussah? Nachdem ein Mensch stirbt, wollen alle, die seiner gedenken, Freunde gewesen sein. Wir waren keine Freunde. Bleiben wir bei der Wahrheit. Wir waren durch den Zufall des Internets zusammengefundene Bekannte. Bis er starb. Und ich sitze zwei Jahre später hier und denke an ihn. Ohne ein Gesicht zu haben. Ich denke ihn mir als Buchstaben. Er war ja doch ein Mann des Wortes.

Genau heute ist es zwei Jahre her, da uns ein Mitstreiter starb.

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Sit venia verbo

Freitag, 2. Dezember 2011

"Bei einer solchen Wetterlage [Anm.: gemeint ist die gleichgeschaltete Medienlandschaft] ist die Volksbefragung eine charmante, symbolische Geste der herrschenden Klassen an ihr untertäniges Volk - mehr ist es nicht, mehr darf es aus Sicht der Machthaber auch gar nicht sein. Veränderung zugunsten der Menschen, die im wahren Leben leben müssen, bringt sie kaum. Sie wird ein Instrument der Machthaber, mit dem sie allerlei Schweinereien aus ihrem Verantwortungsbereich bannen, dem Volk selbst zuschreiben können, Bevor Basisdemokraten heute in referendarischen Träumen schwelgen, muss davon geträumt werden, wie aus dem Alptraum zu entkommen ist, wie man die Allmacht der Bertelsmänner und Springer hemmen, einschränken und beseitigen kann. Erst hat das Meinungsmonopol zu fallen, damit die Volksbefragung auch eine wirkliche Befragung des Volkes sein kann. Bevor man sich emanzipiert, müssen die Ketten durchtrennt werden - Emanzipation an der Kette gleicht dem Atmen im Sarg."
- Roberto J. De Lapuente, "Unzugehörig: Skizzen, Polemiken & Grotesken" -

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Die letzte Patrone

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Sich eine, die letzte Patrone für sich selbst aufzuheben: das ist auch Würde.

Es gibt zweierlei Arten menschlicher Würde. Die eine, sie drängt nicht in Ecken. Ins Elend abgegleitet, einen unanfechtbaren Rechtsanspruch auf Hilfe und Fürsorge zu haben: das ist eine solche Gattung von Würde. Hier tritt man der Not würdig entgegen. Vor dem Elend zu stehen, kurz vor dem Moment, da der Häscher sein Opfer greift und in eine unerträgliche Zukunft verschleppt, die letzte Patrone einzulegen, um sich selbst zu beenden: das ist auch Würde. Eine defensive Würde. Sie wird nicht würdig vertreten, sie weicht unwürdigen Zuständen aber mit einem letzten gebotenen Akt der Würde aus.

Menschenwürde, wie sie die manchmal zu theoretische Demokratie versteht, ist ein Rechtsanspruch - Menschenwürde, wie sie die Kräfte des freien Marktes verstehen, ist ein Revolver mit einer letzten Patrone, den man für den Fall der Fälle in der Schublade aufbewahrt. Sinnbildlich. Aber auch als konkrete Vorstellung in den Gedankengängen mancher neoliberaler Missionare und Markttheologen. Sie empfänden es als würdige Handlung, wenn Menschen, die aus der Produktivität fielen, noch einmal einen produktiven Augenblick hätten. Wie auch immer sie sich dann auch wegmachen - man ist ja liberal, man kann sich aussuchen, wie man verschwindet. Revolver oder Madagaskar, Schlinge oder unter die Brücke. Würde, wie sie sie verstehen: keine Unkosten erzeugen.

Von spätrömischer Dekadenz haben sie ja bereits gesprochen. Römischen Bürgern, die gesündigt, die empfindlich gegen den Kodex der römischen Gesellschaft verstoßen haben, wurde eine letzte Chance erteilt. Der Sünder konnte sich das Leben nehmen und sein Ansehen bleibt erhalten. Würde, die sich durch geöffnete Pulsadern schleicht. Frei nach Mario Puzo wissen wir, dass auch die Mafia dieses würdevolle Verhalten honorierte. Damals, im zweiten Paten, als Tom Hagen Frank Pentangeli eröffnete, dass seine Würde und die seiner Familie erhalten bliebe, wenn er sich nicht weiter erhalten würde. Ob die, die römische Dekadenz in der staatlich verordneten Armut witterten, ob diese sozialdarwinistischen Romanisten wohl auch an die blutige Würde römischer Bürgersleut' dachten? Es steht doch außer Frage für diese Leute, dass Personen, die ihre Arbeit verlieren und damit ihre Würde, die schwerste aller Sünden begangen haben. In einem System, das Arbeit adelt und für den götzenhaft verbrämten Lebenssinn schlechthin erachtet, da ist es schon mehr als eine Ordnungswidrigkeit, plötzlich ohne Arbeit zu sein. Blasphemie!

Ist nicht die alte japanische Tugend, jene, die sich im Bushido nachblättern läßt, etwas, das wir auch hier verinnerlichen sollten? Verliert man die Würde, die einem nur durch den Verlust der Arbeit abhanden kommen kann, so verliert man sein Gesicht nicht, wenn man es von der Erde tilgt. Bei Arbeitslosigkeit: Selbsttötung - in Japan soll das nicht selten vorkommen. Hier noch zu selten; sehr zum Leidwesen der neoliberalen Weltenlenker.

Daher die Sozialwesen und die Fürsorgen so gestalten, dass man nicht zu würdig lebt. Das wäre ja kontraproduktiv. Mehr Beschäftigung schaffen, damit diejenigen, die ins soziale Loch fallen, auch wieder Hoffnung haben: auch das wäre nur kontraproduktiv. Wie lassen sich denn Börsengewinne notieren, wenn nicht durch Abbau von Arbeitsplätzen? Wer personell aufstockt, der stockt auch Verluste auf, der macht, dass die Anleger mehr als verstockt reagieren. Der neoliberale Eifer weiß, dass er staatlich finanzierte soziale Auffangbecken, wenn schon nicht abschaffen kann, so doch modifizieren. Sie dürfen nicht in Würde leben lassen, sondern die Option attraktiv machen, sich würdevoll aus dem Leben zu verabschieden. Kein Rechtsanspruch sollen sie sein, sondern letzte Patrone. Der Sozialstaat soll aktivieren, meinen die neoliberalen Stimmen. Verständlich gemacht heißt das, dass er so verstümmelt werden muß, dass er zum Selbstkostenpreis läuft. Er soll den Leistungsberechtigten bildhaft machen, dass ein letzter würdevoller Schuss, ein wenig von diesem römischen Stolz, sich bei Sünde gleich selbst mit dieser aus der Welt zu verabschieden, eine annehmbare Option ist. Aktivieren soll er: die letzte Patrone...



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Wenn schon, dann eine konsequente Frauenquote

Mittwoch, 30. November 2011

Die Frauenquote sei "ein Big Bang", findet Managerin Margaret Haase. Sie sei notwendig, weil Deutschland in dieser Frage "einen solchen Rückstand zu anderen Ländern" habe, dass man nun endlich reagieren müsse. Tatsächlich sind Frauen in den Vorständen der DAX-Unternehmen völlig unterrepräsentiert. Wobei das Wörtchen Repräsentieren Quatsch ist, denn dort werden nicht Geschlechter repräsentiert, sondern das dicke Kapital - und das ist tatsächlich so lange geschlechterblind, wie es Profite gibt.

Haase hat jedoch recht. Die Frauenquote wäre womöglich ein Lösungsansatz, um mehr Gleichheit zu schaffen. Was in deutschen Vorständen geschieht, erleben viel stärker noch die Maurer, Anlagenbauer oder Lackierer. Dort sind fast keine Frauen zu finden. Hartnäckig weigert sich die Männerwelt, diese dampfige, schweißmiefige Welt für Frauen zu öffnen. Harter körperlicher Fron, das soll immer noch Männerdomäne sein. Rückständig könnte man das nennen.

Jeder vierte Unternehmer oder Geschäftsführer ist eine Frau. Jeder fünfhundertste Maler ist weiblich. Die Frauenquote ist aber das Pläsier derer, die das Frauliche in verantwortungsvoller Position mehren wollen. Frauenquote für Maurer: davon hat man bislang wenig gelesen. Ob Haase wohl auch dort ansetzen würde mit ihrer Forderung? Frauen können alles so gut wie Männer. Daran kann man gar nicht zweifeln. Das stimmt zwar nicht ganz, weil es verknappt, denn Frauen können alles so gut und so schlecht wie Männer - aber als Wahrheit darf man das schon mal durchgehen lassen. Warum sollten sie nicht so gut maurern können? Oder lackieren? Her mit der Frauenquote auch dort, damit sich die weiblichen Stärken auch dort entfalten können.

Die Frauenquote gilt als dringend notwendig - allerdings nur in höheren gesellschaftlichen Regionen. Sie ist somit überhaupt kein frauenbewegter Wunsch, sondern eine aus der upper class stammende Forderung, ein damenbewegtes Ansinnen. Die Spielwiese gesellschaftlich gutsituierter Damen. Keine Begehr im Dienste der Frau. Wo schweißtreibend und mit Raubbau an der Gesundheit geschuftet wird, da liest man nichts von Quotierungen. Wo es angenehm ist, wo gut vergütet wird, da bittesehr Gleichheit herbeiquotieren. Drecksarbeit braucht keine Quoten. Die will doch keiner freiwillig machen. Wir müssen doch froh sein, wenn sie überhaupt jemand macht, daher braucht es dort Geschlechterblindheit.

Es wurde viel über Sinn und Unsinn der Frauenquote erzählt. Dass sie aber explizit ein Wunschtraum für sozial bessergestellte Positionen ist, wird dabei leider selten erwähnt. Das wäre dann nämlich eine Neiddebatte, mit der man die Frauenbewegtheit spaltete. Denn die Koalition der Eierstöcke... Stichwort: Merkel wählen, weil sie eine Frau ist - weil sie biologisch ausgestattet ist, wie die Wählerin selbst, worüber man aber die politischen Inhalte ignoriert... diese Koalition also, die gegen die vermeintliche Männerstellung anrennt, sie bindet alle an die Idee des Weiblichen. Alle Frauen sind hierbei gleich. Ob nun arm oder reich - ob nun aus dem gesellschaftlichen Morast oder aus dem Schoss einer Akademikerfamilie. Die Frauenquote für Führungspositionen wird als eine Frage aller Frauen definiert - profitieren würden dabei aber die Frauen, die überhaupt erst für eine solche Position in Betracht kämen. Was aber haben diverse weibliche Teilzeitkräfte von einer solchen Quote?

Haase definiert hier lediglich die Doppelmoral der Damenbewegtheit. Sie macht sich zum Sprachrohr höherer Frauen, die ihre Interessen als Interessen aller Frauen ausgeben. Für Quotierung in Berufen, in denen weder Geld noch Ruhm zu holen ist, haben sie kein Auge. Dort nehmen sie es mit der Gleichheit nicht so genau...




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Meinsmeinsmeins!

Dienstag, 29. November 2011

In Frankfurt geht man ins MyZeil. Bei MeinWeltbild bestellt man sich MySims. Via MyDays bucht man sich Erlebnisgeschenke. Bei MyVideos begafft man Millionen Kurzfilme. Meinsmeinsmeins... die Konsumwelten verinnerlichen die Egomanie nun vermehrt auch im Produktnamen. Wie Pilze schießen MyKaufhäuser und MeinKataloge aus dem fruchtbaren Boden des Reibachs. Sie sättigen sich nicht am Kunden, sie versprechen ihm, er gehöre zum Produkt, wie das Produkt ihm gehöre.

Genosse Kunde

Der Konsument wird sprichwörtlich zum Teilhaber gemacht. Das Produkt oder die Stätte des fortwährenden Glücks, der Konsumtempel letztlich, ausgestattet mit dem Possessivpronomen, es erklärt dem Kunden: hier bist du nicht nur Kunde, die bezahlende Inanspruchnahme eines Gutes, hier bist du nicht nur uns finanzierender Gast - hier gehörst du dazu. Ganz gezielt installiert man das Meinsmeinsmeins in das Produkt oder die dazugehörige Vertriebsstätte. Der Kunde soll nicht glauben, er gehe in das Einkaufszentrum, um dort zu bezahlen und zu verwerten: er soll meinen, seinen eigenen Glückstempel zu betreten.

Die neue Konsumlandschaft ist eine vermeintliche Genossenschaft. Es gibt keine wie auch immer geartete Hierarchie - jedenfalls keine, die sofort augenfällig werden könnte. Der Konsument wird teilhabender Genosse. Man suggeriert ihm, er sei Mitglied der großen Konsumgemeinde, die sich in Kathedralen trifft, die mit der Silbe My begrifflich eingeleitet werden. In solchen Häusern ist man nicht mehr nur Kunde, man besucht einen Ort, von dem man sagt, er gehöre einem irgendwie, zwar nicht genau definiert, aber trotzdem. Er ist der Sozius des Konsumtempels, der Gesellschafter von Kaufhäusern. Ihm wird klar, dass alles nur geschieht, weil er ist. Seine Persönlichkeit ist Basis und sein Konsumverhalten wird zu seiner Persönlichkeit.

Bruder Kunde

Der in das Handelsgut eingeknüpfte Possessivbegleiter, er verbrüderlicht die Geschäftspartner. Er berieselt den Kunden, will ihm klarmachen, dass es Vertragsverhältnisse - und jeder Einkauf ist nicht mehr als das - nur pro forma gibt. In HisZeil und SeinWeltbild scheint die Fraternisierung alle verteilten Rollen zu sprengen. Dort Händler, da Kunde - beide mit Interessen: das wird durch Meinsmeinsmeins aufgehoben. Verschwistert sind sie plötzlich. Sie treffen sich im My und Mein und dort schlagen die Interessen im Gleichklang. Jedenfalls soll es das besitzanzeigende Fürwort so aussehen lassen.

Die Lebenswelt des Individuums, das zuweilen auch Kunde war, soll abgelöst werden durch eine Lebenswelt, in der der Kunde nur noch zuweilen und selten Individuum ist. Er soll in seiner Kaufwelt, in HisZeil und SeinWeltbild aufgehen, dort durch das Warenangebot lustwandeln - wie durch den heimischen Garten, sich fühlen, wie im heimischen Wohnzimmer. Kunde in Dauerschleife. Der Ort, an den man früher ging, um schnell Besorgungen zu machen, er soll zur persönlichen Oase werden; der Wälzer, aus dem man einst Waren auswählte, er soll nun eine eigene abgeschlossene privatim wirkende Welt werden. Hierzu die Namenswahl, hierzu das Possessivpronomen. Wenn der Kunde oft genug Meinsmeinsmeins! gesagt hat, wird das Gesagte irgendwann auch zu seiner Lebenswirklichkeit.



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