... es kömmt darauf an, sie zu interpretieren

Freitag, 30. November 2012

Schon wieder so ein Fehlschluss. Schrieb ich doch noch vor einigen Tagen, dass Merkels Rede zur besten Regierung vernünftig betrachtet nichts anderes sei, als ein Anzeichen von zerrütteter Perzeption. Das dürfte sich aber als falsch erwiesen haben. Ihre Rede und der Beifall ihres parteilichen Anhangs sind nämlich gar nicht irgendwelchen Wahrnehmungsstörungen geschuldet. Wahrnehmung ist, wenn man etwas Schwarzes sieht, vom Auge zum Gehirn der Impuls geht, etwas zu sehen, das unter der Kategorie schwarz verbucht ist und man dann urteilt: Das ist schwarz. Gestörte Wahrnehmung ist, einen Impuls zu bekommen, der fälschlicherweise in der Kategorie orange landet, um selbstsicher zu verkünden, man sehe gerade etwas Oranges.

Nein, diese Leute leiden nicht unter Wahrnehmungsstörungen, sondern eher unter Kontrollzwang. Unter einen Zwang, sich eine Welt zu entwickeln, in der man das, was ungeliebt schwarz ist, einfach ganz dünn mit orangem Lack überspritzt. Mit einer Schicht, die nur aus der Distanz orange schimmert, die bei näherer Betrachtung aber nichts ist, als orangene Kleckse auf schwarzem Grund. Das ist nicht Wahrnehmungsstörung. Das ist eine sonderbare Störung, die Welt wie sie sich real zeigt, nicht annehmen und demgemäß handeln zu wollen.

Es ist ja nicht so, dass diese beste Regierung seit Wiedervereinigung die in einem objektiven Armutsbericht beschriebene Ungleichheit einfach abtut, sie leugnet und als nicht existent darstellt. Sie hat Lack angebracht, hat verdecken lassen, damit die Wahrnehmung, wie man sie sich wünscht, gar nicht erst getrübt wird, gar nicht erst auf die Probe mit der Wirklichkeit gestellt werden muss. Wahrnehmungsstörung wäre es gewesen, wenn die Minister etwas zum Ausbau des Niedriglohnsektors gelesen, dann aber erklärt hätten, es gäbe zwar niedrige Löhne, aber vermehrt träten diese nicht auf. Raffinierter ist es hingegen, wenn man zum Ausbau jenes Sektors, der im wesentlichen die Arbeitslosenstatistiken von Arbeitslosen befreit, erst gar nichts schreibt.

Wer von der Armut weiß, sie aber leugnet, dessen Perzeption dürfte defekt sein. Wer aber so tut, als wisse er davon nichts, der kann zwar als ignorant angesehen werden, mehr aber wohl nicht. Die Welt als Wille und Vorstellung. Diese beste aller Regierungen ist so gut wie all jene Regierungschefs, von denen sie sagt, sie seien verblendet gewesen. Castro oder Gaddafi, Honecker oder Ceauşescu. Auch die sprachen viel von der Erfüllung von Vorgaben und Zielen und erklärten die allgemeine Zufriedenheit zur Doktrin. Inwiefern unterscheidet sich Merkels Regierung von diesen Gestalten?

Die Regierungen haben die Welt nur verschieden verändert, es kömmt darauf an, sie zu interpretieren. Zynisch betrachtet könnte man diese Regierung in Schutz nehmen wollen. Man könnte sagen, dass in einem System, in dem das politische Primat zugunsten (finanz-)wirtschaftlicher Bevormundung aufgegeben wurde, nichts anderes übrigbleibt, als sich eine Welt zu zimmern, in der die Politik noch etwas gilt, in der sie von allgemeiner Zufriedenheit und Besserung der Lebensumstände spricht. Autosuggestion ist keine Wahrnehmungsstörung, sondern ein modus vivendi oder modus supervivendi wenn man so will. Man könnte diese Regierung, wie gesagt, in Schutz nehmen wollen und ihre Interpretation der Welt, als letzte Ausflucht ihrer selbst werten. Könnte man. Darf man aber nicht. Denn sie ist der verlängerte Arm der wirtschaftlichen Bevormundung, mit ihr verquickt, von ihr bezahlt. Diese Regierung macht sich ja nichts selbst vor; sie hofft nur genügend Dumme zu finden, denen sie noch was vormachen kann.



11 Kommentare:

baum 30. November 2012 um 07:30  

vielleicht passt hier auch bölls erzählung: nicht nur zur weihnachtszeit.
die blumen blühen schon und man beruhigt die mutter damit, dass sie dieses jahr zu weihnachten etwas zu früh dran wären oder so ähnlich.

wahnvorstellungen?

Anonym 30. November 2012 um 08:24  

"[...]Diese beste aller Regierungen ist so gut wie all jene Regierungschefs, von denen sie sagt, sie seien verblendet gewesen. Castro oder Gaddafi, Honecker oder Ceauşescu. Auch die sprachen viel von der Erfüllung von Vorgaben und Zielen und erklärten die allgemeine Zufriedenheit zur Doktrin. Inwiefern unterscheidet sich Merkels Regierung von diesen Gestalten?[...]"

Das frage ich mich scbon seit Jahren, seitdem ich weiß, dass Maggie Merkel auch unter Honecker für "Agitation und Propaganda" zuständig war - in der FDJ, oder sogar der SED.

Wie heißt es so schön "Die schlimmsten Schlächter der Kälber waren früher selber welche"....

Auf Maggie Merkel gemünzt, "Die schlimmsten Feinde des Sozialismus waren früher selber Sozialisten...."

Amüsierte Grüße
Bernie

altautonomer 30. November 2012 um 08:48  

Um in der Methapher zu bleiben:

Dicker Lack, der nach dem Trocknen bröckelt, weil der Rost darunter nicht entfernt wurde.

Anonym 30. November 2012 um 10:12  

Ja, wie vor ein paar Tagen schon gesagt. Die Wirtschaft hat die Politik fest im Griff.
Reinhard Sprenger (studierte Philosophie, Psychologie, Betriebswirtschaft, Geschichte und Sport) kommt in der aktuellen "Brand Eins" zu dem Schluß:

"Mitte der '90er waren wir auf gutem Weg mit Themen wie 'Vertraue deinen Leuten', 'Gib ihnen Freiraum, sich entfalten zu können'. Vor der Hintergrund des grassierenden Kontrollwahns, der von der Politik in die Unternehmen hineingetragen wird - und nicht etwa umgekehrt -, ist dieser Appell heute eher defensiv.
Es geht darum, noch letzte Reste von Selbstverantwortung und Unternehmertum zu verteidigen."

Schorschel 30. November 2012 um 10:16  

Was Merkel und Konsorten verbreiten ist pure Propaganda oder auch, wie Albrecht Müller schreibt, Meinungsmache. Die Realität wird gemalt. Das haben sie in ihrem Artikel gut beschrieben. Allerdings, und das wäre das Interessante: Wieviele Deutsche Glauben noch an die Propaganda? Selbst im 3. Reich glaubten gegen Ende viele nicht mehr an die Propaganda. Und all zu weit vom Ende ist auch Merkels System nicht mehr weg. Wenn die Rezesssionen in Südeuropa weiter gehen, wird es auch für unsere Unternehmer das nächste Jahr sehr schlecht. Ob da die Propaganda ausreicht? Oder "retten" uns die Chinesen?

Manu 30. November 2012 um 10:26  

Wir habe sehr viel Glück gehabt in den letzten Jahrzehnten. Aus dem Kalten Krieg hätte leicht ein heißer werden können, das Ende der DDR hätte blutig ausfallen können, Atomkraftwerke hätten das Land verseuchen können.
Klar, dass diese Glückssträhne irgendwann aufgebraucht ist.

Anonym 30. November 2012 um 12:14  

Ich bemerke seit Ausbruch der Krise ein immer wiederkehrendes Schema der Propaganda:

"Dieses Jahr ist es schlimm, wir müssen dies eingestehen. Aber nächstes Jahr wird es schon wieder ein bisschen besser, denn wir tun unser Bestes. Und im übernächsten Jahr ist alles wieder in Butter."

Es suggeriert Plausibilität, ist aber dennoch gelogen. Es ist komplexer als "nächstes Jahr wird alles besser" und von daher noch verführerischer für Leichtgläubige.

Achten Sie mal darauf.

Anonym 30. November 2012 um 12:34  

@Manu

Schönes Spiel "Wir habe sehr viel Gück gehabt...." - Das kannste getrost auch auf die ganz große Geschichte anwenden.

Ich mag dieses Spiel nicht, denn Geschichte verläuft nun eben nicht geradlinig, und so wie wir es wollen - Nur ein Beispiel, dass du sicher, ebensowenig wie ich, magst "Hitler hätte den Krieg gewinnen können, Europa wäre faschistisch geworden...."
...oder weniger drastist "Persien hätte Griechenland erobern können, und wir alle wären nun iranischstämmige Asiaten...."

Nein, das Spiel mag ich nicht....

Du weißt jetzt wohl auch warum?

Oder *grins*

Die Katze aus dem Sack 30. November 2012 um 13:01  

Die nehmen das schon wahr, sind also selbst tatsächlich nicht wahrnehungsgestört. Aber sie wollen die Wahrnehmung der Anderen stören indem sie Wahrnehmungen verhindern und sie so zu Wahrnehmungsgestörten machen.

ulli 30. November 2012 um 14:48  

Ich denke, dass beim Thema Armut extrem gelogen wird. Die herrschenden Eliten dürfen ihrem Volk doch gar nicht sagen, wie sie dieses Thema ansehen: Nämlich als eine Naturtatsache. So wie es jetzt im November kalt und grau ist, und wie es im August wieder sonnig und heiß sein wird, so gibt es eben auch Armut und Reichtum. Ich bin sicher, es geht sogar noch weiter: Ein gewisses Maß an Armut gilt doch als sehr positiv für den Wohlstand der gesamten Gesellschaft. Bekanntlich soll sich keiner auf der "sozialen Hängematte" ausruhen und soll jeder sich dauernd bemühen, einen möglichst guten Platz in der sozialen Hierarchie zu finden. Also etwa Ingenieur werden, einen guten Job finden und viel Geld verdienen. Wer auf der anderen Seite in der Leistungsgesellschaft nicht mithalten kann oder will, muss immer damit rechnen, in dem Straflager namens Hartz IV zu enden. Je menschenunwürdiger es am unteren Ende der sozialen Leiter zugeht, um so mehr mühen sich alle, es möglichst weit nach oben zu schaffen. So sind alle, die nicht vermögend geboren wurden, gezwungen zu arbeiten und sich anzustrengen.

Anonym 30. November 2012 um 15:48  

@Ulli

Schön wie du den Sozialdarwinismus in Reinform beschreibst, den unsere selbsternannten "Eliten" seit Jahren - gegen jede neue wissenschaftliche, und gesellschaftliche, Erkenntis betreiben.

Sarrazin ist - als Rechtspopulist -eben nicht allein mit seinem Wohlstandchavinismus und Sozialdarwinismus von Vorgestern.....und, wie man nicht oft genug erwähnen kann gegen jede neue Erkenntnis der Gen- und Verhaltens- bzw. Hirnforschung.

Amüsierte Grüße
Bernie

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