Hinter die Schalter!

Dienstag, 31. Januar 2012

Was ist bloß mit diesem Land im Herzen Europas los? Sind das die Bosheiten eines Herzpatienten? Der kranke Mann an der Spree? Der psychisch kranke Mann, der seine Vertreibung von den Gestaden des Rheins nie verarbeitet hat? Wieder mal erkrankt? Dieses so leicht aufgeregte Völkchen in Zentraleuropa. Dieses Völkchen, das sich ja ordentlich fürchtet, zu einem Völkchen zu werden, kein Volk mehr sein zu können, weil es schrumpft. Sie sterben aus, ängstigen sie sich - und mit ihnen verstürbe die edelste Rasse unter den Menschen. Stets befehlend, kommandierend, Schneller, schneller schneller!, Regierung entmachten!, Hilfsvölker schaffen, Quislinge engagieren. Sind das Minderwertigkeitskomplexe? Meglomaner Heilswahn?

Ich meine, als Sohn eines Gastarbeiters habe ich einiges erlebt. Man duzte meinen Vater grundsätzlich - ekelhaft, wenn man als Sohn miterleben muß, dass man mit seinem Vater spricht, wie mit einem Bengel, damit der begriffstutzige Ausländer auch ja folgen kann. Ich habe darüber schon mehrfach berichtet. Erlebtes - Miterlebtes - Durchlebtes. Und ich habe die Erzählungen meines Vaters durchlebt. Viel von ihren europäischen Nachbarn haben sie nie gehalten - von den Gastarbeitern, den Nachbarn, die nach Deutschland strömten, sowieso nicht. Die deutsche Bierärschigkeit war stets gnadenlos zwischen Weißbier oder Pils und Breze oder Currywurst. Mahlzeiten eines großen Volkes! Nehmen uns die Arbeit weg! und Faules Pack! - das Land der Denker und keiner vermag es mit Logik anzugehen. Was stimmt denn nun? Arbeiten oder Faulheit? Die stinken! und Die nehmen uns die Frauen weg! - passt das zusammen? Fressen nur Dreck! und Auf nach Bella Italia! - Pizza, der letzte Schmutz? Was will ich denn damit eigentlich sagen? Vielleicht, dass schon damals dieses erregte Volk aus der Mitte Europas ganz besonders höflich mit Gästen und Nachbarn umgegangen ist. Doch meist geschah das dort, wo der Scheiß Ausländer! dem Spott hochherrschaftlichen Deutschtums wehrlos ausgesetzt war. Offiziell gab es diesen Herrenmenschenwirbel nicht.

Als mein Vater in den Sechzigerjahren nach Deutschland gehen wollte, da nahm ihn vorher noch ein Nachbar zur Seite. Einwurf: ... gehen wollte! Wollte er? Ist es ein Wollen, wenn die wirtschaftliche Lage zwingt? Soll das euphemistisch verwendete Wollen nicht kontrastieren, dass man ihn hier eigentlich nicht wollte? So wie das Müssen aussagen würde, dass man hierzulande angewiesen war auf diese bezahlten Wanderarbeiter? Er wollte kommen, heißt: keiner hat gesagt, du sollst kommen! Doch zurück zum Nachbarn: Der warnte meinen Vater ausdrücklich. Traue den Deutschen nicht, sagte er. Hinterlistig seien sie; sie sagten zwar so, meinten es aber anders; Hinter deinem Rücken setzen sie dir zu! - Dolchstoßlegende mal anders. So will es jedenfalls die Legende; so ist es in meiner Erinnerung festgezurrt.

Keine Stunde Fahrt von Gernika entfernt wurde mein Vater geboren, wuchs er auf - er war noch kein Jahr alt, als sich die mutigen Fliegertruppen des Deutschen Reiches dort Orden verdienten. Vielleicht war der alte Nachbar ja, ich denke ihn mir als Alten, weiß es nicht besser, von dort gekommen - vielleicht hatte er Familie oder Freunde dort - vielleicht half er dabei, die von der Legion Condor in Schutt und Asche bombardierte Stadt als Trümmermann Stein für Stein umzudrehen - vielleicht ist er gar als Dreiecksgesicht auf Picassos berühmten Bild fast gleichen (weil spanisierten) Namens, gebannt. Ganz klar waren das Vorurteile gegenüber Deutschen - nachvollziehbar finde ich. Die Deutschen haben einen solchen Mann nicht die Arbeit und die Weiber genommen, was sie später oft von den Ausländern in ihrem Vaterlande behaupteten, sie haben die Weiber getötet und die Arbeitsplätze vernichtet. Das ist ein minimaler Unterschied, finde ich. Wenn ich dann gelegentlich hörte, dass man im Ausland auch nicht vorurteilsfrei sei gegenüber Fremden, insbesondere gegenüber Deutschen, dann fragte ich mich schon, ob man die Relationen, die zu diesen Ressentiments führten, überhaupt begriff.

Erstaunlich ist aber, dass man damals glaubte, der Deutsche - sagen wir das mal so, der Deutsche, obwohl ich dergleichen ja verabscheue - würde heimlich und hinterfotzig seinen Hass auf die Welt ausstoßen. Deutsche Bestie! Trau ihnen nicht, sie tun schön, sind aber ganz anders! Die deutsche Überheblichkeit, der größenwahnsinnige Impuls, der aus diesem Land im Herzen Europas entfloh, wo man Herztabletten schluckte, bevor man hektisch zur fanatisch betriebenen Arbeit eilte, diese befehlerische Lebensart, die man selbst als Sendungsbewusstsein interpretierte: man wusste, dass es das gibt, aber man wusste auch, dass es nicht mehr selbstbewusst vertreten wurde, in schmissiger Uniform und mit flotter Marschtonkunst etwa.

Das hat sich geändert. Völlig geändert. Man spricht wieder Deutsch in Europa, verheißen stolze Stimmen arg schwäbelnd. Und es soll noch mehr Deutsch palavert werden, niederbayert man. Regierungen will man entmachten, ihnen Kommissare vorsetzen, europäische Nachbardemokratien endgültig in Diktaturen umorganisieren, europäische Souveräne, immerhin Völker sind damit gemeint, entmündigen. Griechenland ist ein riesengroßes Problem!, meint der Deutschmeister. Ich dachte immer, Griechenland ist ein kleines Land. So kann man sich täuschen! Andere üben sich in Züchterlatein, machen kenntlich, wie man wertvolle Eigenschaften und Merkmale kreiert. Letzterer tut das, obwohl er noch vor einigen Wochen in einem bekannten deutschen Magazin Wortmeldung gab, erklärte, dass er das alles gar nicht so meinte. Seiner langen Genetik-Rede kurzer Sinn: Man hat mich falsch verstanden! Von einer Pferdezucht dieses Mannes weiß man nichts. Dennoch hält er züchtige Vorträge. Der Deutsche, ein edler Lipizzaner - ein veredelter Herr, dem Europa zu Füßen liegt. Und die Nachbarn, wie dieser österreichische Kolumnist, die fürchten sich etwas. Wie wird man das wohl in Polen beäugen? Die singen Deutschland, Deutschland über alles; über alles in Europa! - und dann spachteln die auf Parteitagen mit dieser BdV-Präsidentin, die dem Reichsgau Danzig-Westpreußen nachtrauert - sie würde ihn anders nennen, wenn sie ihn wieder verwalten dürfte, ich weiß doch! Man hat schließlich aus der Geschichte gelernt und benutzt andere Namen. Nach der Wiedervereinigung hatte man in Europa Angst vor diesem zentraleuropäischen Großstaat - zwanzig Jahre hat es gedauert, bis er sich seines historischen Auftrags gewahr wurde. Europa soll aufgehen in Deutschland - erst dann ist man saturiert.

Der Nachbar, der wertvolle, ja völkerverbindende Ratschläge gab, er ist geschichtlich überholt. Wenn es ihn so je gab - auch väterliche Erinnerungen können sich modifizieren und im Kopf neue Gestalt annehmen. Gernika ist mittlerweile vergessen. Man erinnert sich auch nicht mehr an die deutsche Besatzung Griechenlands - man darf wieder fröhlich Demokratien aushebeln, wieder lustig wer sein in der Welt. Nicht still, nicht heimlich. Man darf wieder ein aufgeregtes, aufstrebendes Volk sein - ... Wesen ... genesen; der inflationäre Spruch, den keiner mehr lesen will. Das deutsche Schicksal, so schrieb Tucholsky mal, sei es, vor einem Schalter zu stehen - das deutsche Ideal: hinter einem Schalter zu sitzen. Vor dem Schalter der Verantwortlichkeit standen sie lange genug. Diesem Schicksal wollen sie nun entkommen, zum Ideal marschieren. Die Schalter Europas besetzen! Politiker aus der bürgerlichen Mitte leiten Deutschland ins Ideal. Vormals war das glatzköpfige Erkenntnis: Wir müssen endlich dieses uns eingeredete schlechte Gewissen ablegen! Vorbei, vergessen - Vergangenheit! Jetzt haben sie es endlich kapiert, die rechte Wahrheit ist jetzt allgemeinverbindlich, massenkompatibel, in der bürgerlichen Mitte angelangt.

Ja, gewohnt ist man einiges als Gastarbeitersohn - als Gastarbeiter selbst ohnehin. So vornerum nett und hintenrum fies war man hierzulande nie. Da hat sich der, der Gernika nicht vergessen konnte, etwas getäuscht. Sie ließen einen immer wissen, was sie von dir denken - aber nie so, dass ein Massenpublikum zuhören konnte. Jetzt hört es zu und findet es toll - jedenfalls findet es nichts Unanständiges daran. Auch das hat sich eklatant geändert. Vorher konnte der currywurstgabelnde, weißwurstzutzelnde Herrenmensch nicht vor allen so tun, als sei er der Schöpfer des Himmels und der Erde, die leuchtende Weisheit und weise Erleuchtung, die oberste Sprosse der Evolution - es gab genug, die fuhren ihm über das Maul. Auch solche gab es! Habe ich erlebt - nicht selten. Deutsche sind nämlich wie andere auch: feine Leute und riesige Arschlöcher. Gut durchmengt wie überall; leichte Überschüsse bei letzteren, wie überall. Die einzige Internationale der Welt, die in jedem Land eine Botschaft hat, dürfte wahrscheinlich die Vereinigung der Arschlöcher sein. Diese couragierten Leute in Deutschland jedenfalls, die sind beträchtlich weniger geworden - jetzt zucken sie mit den Achseln, Aber die Griechen!, und der Euro, Notsituationen erfordern außergewöhnliche Vorgehensweisen, entschuldigen sie sich. Dazu gehört wohl auch, den Rest von Europa aussehen zu lassen, wie deutsches Mobiliar, wie Sessel, auf denen mindestens ein deutscher Arsch seinen Platz finden muß. Und erst wenn in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal ein deutscher Kommissär waltet, in Europa also noch mehr Deutsch gesprochen wird - Deutsch ins Grundgesetz und in die Verfassungen aller EU-Staaten! -, dann gibt die Megalomanie, diese urtypische deutsche psychische Störung, Ruhe - eine Weile wenigstens...



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Rückschrittlichkeiten

Montag, 30. Januar 2012

Westliche Beobachter wissen: die arabische Revolution ist so gut wie gescheitert. Der Islamist ist nämlich ihr Profiteur - er landete trotz freier Wahlen im Parlament, erzielt dort gar Mehrheiten. Die annäherndfreiheitlich-demokratieähnliche Grundordnung, die nach der Beseitigung der Despoten ersehnt und im Westen als Patentrezept hochgehalten wurde, scheitert am politischen Islamismus, geben sich nun westliche Experten konsterniert.

Die eurozentristische Arroganz

Selbst Emmanuel Todd, eigentlich unverdächtig dafür, den Mediensprech undurchdacht zu wiederkäuen, läßt sich dazu hinreißen, die Werte des Westens für universell zu erklären. Die arabische Welt ist viel moderner als wir glauben, meint er. Das macht er daran fest: die muslimische Welt will schon seit Jahren die Werte des Westens für sich in Anspruch nehmen - und der arabische Frühling sei als der Befreiungsschlag zu sehen, der diesen Anspruch erfüllen soll. Richtig ist sicherlich schon, dass westliche Werte in die muslimische Welt hineinstrahlen, mit welchem Absolutheitsanspruch man allerdings diesen Umstand mit Modernität in Verbindung bringen kann, bleibt Todd hier als Erklärung schuldig. Wenn selbst Todd so überzeugt ist von der Überlegenheit westlicher Werte, wie kann man dann von Herrn Omnes, vom normalen Bürger, erwarten, dass er dieses Überlegenheitsgefühl zunächst überdenkt?

Das Gefühl der Überlegenheit ist es, mit dem wir auf die arabische Welt nach der Revolution blicken. Für uns sieht es nun so aus, als würde die muslimische Welt nach der Despotie wiederum ein Stück von der angeblich modernen Welt abrücken, weil sie die Islamisten in die politische Verantwortung manövriert. Die lehnen angeblich Individualismus, die Gleichheit der Geschlechter und politische Transparenz ab. Man folgt Leuten, für die Politik religiös und Religion politisch ist. Der Westen ist sicher daher sicher: Rückschritt! Enttäuschung! Mit Mubarak und Ben Ali lehnte man sich wenigstens am Westen an.

Die Denkweise dahinter

Mubarak und Konsorten waren das arabische Aushängeschild des Westens. Fragte man nach westlichen Werten, würde den Menschen dieser Weltregion einiges einfallen: Korruption, Klüngelei, Folter, Geheimpolizei, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Ausbeutung der Ressourcen. Das was der Westen als große Errungenschaften in die Waagschale wirft, ist für die Menschen dort überhaupt nicht fassbar. Sie kennen eine westliche Politik, die Menschenrechte predigt und Lynch-, Rache- und Geopolitik parlamentarisch verabschiedet. Die Muslime erlebten und erleben den Westen als eine Idee - der Westen ist ja tatsächlich Idee, nicht Weltregion oder Kultur im klassischen Sinne -, in der es entweder gar keine oder nur brutale, weil materielle Wertvorstellungen gibt. Als eine paradoxe Idee, die so sagt, aber anders macht. Und sie lernten die westlichen Paradedisziplinen kennen: Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit. Überspitzt könnte man sagen: der arabische Frühling war nicht die Manifestation einer modern nach Westen blickenden muslimischen Welt - es war das Bekenntnis, von Despoten, die im Namen des Westens den Westen hofierten und ins Land holten, endgültig die Schnauze voll zu haben.

Wir haben so wenig von diesem Kulturkreis, der an unserer Peripherie existiert, begriffen, dass wir die Unruhen im arabischen Raum falsch interpretiert haben. Wir meinten, die Moslems wollten westlich oder europäisch werden, sich Ideen bei uns abholen - in Wahrheit ist es das glatte Gegenteil. Es war eine Abkehr von einer Machtelite, die man als durch und durch (pro-)westlich, als im Bunde mit den wutentbrannten Barbaren des Westens, die weder Anstand noch Moral kennen, am eigenen Leib empfand. Die Islamisten - was sind Islamisten denn überhaupt?; was soll der Begriff aussagen? - sind nicht hintertückischen Nutznießer der Revolution, sie sind in gewisser Weise durchaus logisches Resultat. Der Westen hat nun genug Marionetten gespielt...

Der Rückschritt des Westens aus Sicht des Islam

Natürlich fällt es aus westlicher Sicht schwer, Politik und Religion als eine Einheit zu akzeptieren. Wir tun das lediglich, wenn der Dalai Lama spricht - wir revoltieren auch nicht, wenn ein texanischer US-Präsident seine Außenpolitik evangelikal verbrämt. Da haben wir ein dickes Fell. Der Islam jedoch darf sich seine historische Verwebung von religiös untermauerter Politik nicht leisten. Die Säkularisierung sei das Mindeste, was man von der muslimischen Welt fordern könne, ist man sich fast unisono einig. Keine Rede davon, ob das die Menschen dort überhaupt wollen - selbst für den Westen aufgeklärte Muslime, nehmen wir mal Schirin Ebadi, die dem religiösen Fanatismus ihres Heimatlandes entflohen ist, spricht sich nicht für eine Entislamisierung der Politik aus, nur für mehr religiöse Toleranz. Die Säkularisierung des Westens hatte historische Gründe - die müssen für die muslimische Welt nicht zwangsläufig auch auftreten; die Säkularisierung ist keine geschichtliche Notwendigkeit, nur weil sie in den westlichen Industrienationen halbwegs stattfand.

Die politische Gestalt des Islam wird im Westen als rückschrittlich empfunden, weil Religion für westliche Gemüter bedeutet, dass Eiferer am Werk sind. Religion heißt jedoch auch - auch im Falle des Islam! -, ethische Imperative dem pragmatischen Sachzwängen der Politik aufzuzwingen. Das sich der Westen kein ethisches Absolutum bewahrt hat, ganz schlagwortartig hier mal Gottlosigkeit genannt, empfindet die muslimische Welt als rückschrittlich, als archaisches Schauspiel, in dem die menschliche Gesellschaft von allerlei gottlosen, weil unethischen Handlungsweisen, belastet war. Erst die Schaffung eines religiösen Systems hat mehr oder weniger annähernde Ordnung erzeugt. Der Westen hat dieses Ordnungssystem aufgegeben, allerdings ersatzweise keine laizistische Ordnung entworfen. Zwar würde der Westen da widersprechen und auf Verfassungen und verbürgte Rechte zeigen, aber das würde man als Menschenwerk, also nicht für die Ewigkeit bestimmt abtun. Und das was die muslimische Welt vom Westen gezeigt bekam in Sachen Ewigkeitsanspruch und Verbindlichkeit humanitären Denkens, gibt dieser Einschränkung durchaus recht.



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Kinderarmut mit Einkommen verrechnet

Freitag, 27. Januar 2012

Kinder unter 15 Jahren in Hartz IV-Bezug werden weniger. Das verbucht die Bundesagentur für Arbeit als großen Erfolg. An den Zahlen lasse sich messen, dass die Situation am Arbeitsmarkt besser sei, als man das für gewöhnlich wahrnimmt - den Jobcentern sei es zudem gelungen, die Eltern dieser Kinder in Arbeit zu integrieren. Die Arbeitsmarktreformen waren ein durchschlagender Erfolg! Und die Medien beten es fromm nach. Ohne Hintergrundfakten, ohne eigene Überlegungen...

Weniger Kinder = weniger Hartz IV-Kinder

Etwa 1,64 Millionen Kinder erhielten im Jahr 2011 Hartz IV. Das heißt, sie bezogen nicht Hartz IV, was gemeinhin mit Arbeitslosengeld II gemeint ist, sondern Sozialgeld. Darauf kommen wir aber gleich noch zurück. Im Jahr 2006 waren es noch etwa 257.000 Kinder mehr. Das macht laut Analyse ein sattes Minus von 13,5 Prozent.
Im Jahr 2006 gab es in Deutschland etwa 11,5 Millionen Kinder unter 15 Jahren. 2011 waren es nur mehr 10,75 Millionen (wobei für das letzte Jahr die höchste Schätzung angenommen wird). Es gab also 2011 etwa 0,75 Millionen Kinder unter 15 Lebensjahren weniger im Land als noch 2006. Das ergibt ein Minus von etwa 6,5 Prozent. Der Geburtenrückgang, der andernorts beklagt wird, hier hat er schöne Zahlen geschaffen.

Zwangsläufig hat der Rückgang von 13,5 Prozent auch etwas damit zu tun, dass es innerhalb dieser fünf Jahre zwischen 2006 und 2011 etwa eine dreiviertel Million Kinder unter 15 Jahre weniger im Land gab. Das schmälert die Aufbruchstimmung durchaus, erklärt aber nicht, weshalb der Rücklauf viel höher ausgefallen ist, obgleich andere Zahlen belegen, dass die Kinderarmut ganz sicher nicht auf dem Rückzug ist. Durchaus kann es daran liegen, dass die Eltern in Arbeit vermittelt wurden, ob das Leben auf Hartz IV-Niveau deshalb aber vorbei ist, muß bezweifelt werden.

Sozialgeld vor Arbeitslosengeld II

Wie schon angerissen, Kinder erhalten nicht Hartz IV, also Arbeitslosengeld II, wie der Begriff impliziert, sie erhalten Sozialgeld. Dieses erhalten nur nicht erwerbsfähige Personen.

Praxis der Jobcenter ist es nun, dass man das erzielte (Niedriglohn-)Einkommen einer Bedarfsgemeinschaft (BG) auf alle Personen der BG verteilt bzw. verrechnet. Bevorzugt verrechnet man die Sozialgeldansprüche innerhalb der BG, d.h. die Sozialgeld-Regelsätze der Kinder. Die sind ohnehin geschmälert, weil man auch das Kindergeld davon abschlägt. Das heißt letztlich, wenn eine Familie das geringe Einkommen vom Jobcenter aufstocken lassen muß, dann erhält sie Arbeitslosengeld II, nicht Sozialgeld. Nochmal deutlicher: die Eltern erhalten die Aufstockung, die Kinder sind durch Kindergeld- und Einkommensbereinigung zwar auf dem Bescheid der Behörde aufgelistet, erhalten faktisch aber keine Leistungen.

Das bedeutet also, dass Kinder zwar in sogenannten Hartz IV-Familien auf sogenannten Hartz IV-Niveau leben können, aber faktisch (auf Bescheid) eigentlich keine Leistungen erhalten - dass also Kinder unter 15 Jahre nicht mehr Hartz IV erhalten. Der Niedriglohnsektor ist beträchtlich angewachsen in den letzten Jahren. Viele Erwerbslose landeten seither in Mini- oder Midi-Jobs. Was die BfA behauptet, ist vielleicht nicht mal gelogen - aber die Kinderarmut geht deshalb noch lange nicht zurück, wie man das so feierlich verkündete.



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De dicto

Donnerstag, 26. Januar 2012

"Diese Zahl ist eine Schande! An manchen Bundeswehrstandorten, so der Bericht des Wehrbeauftragten, gehen 80 bis 90 Prozent der Soldatenehen in die Brüche.
(...)
Doch noch immer werden sie wie Schachfiguren alle Jahre an einen neuen Standort verschoben – das hält kaum eine Beziehung aus."

- Julian Reichelt, BILD-Zeitung vom 24. Januar 2012 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Denkt an unsere Soldaten!, schreit der Reichelt. Er ist der richtige Mann dafür, denn er hat sich mit dem Heer verbrüdert, war mit ihm im Kriegsgebiet unterwegs. Live von der Front - das übliche Gewäsch von braven Soldaten Müller und Huber, der seinen Dienst tut, der die Wilden zähmt und dafür keine ausreichende Anerkennung in der Heimat und vor der Geschichte erhält. Warum nur mag keiner die Helden aus Stahlgewittern schätzen, fragte damals Jünger - und der Jünger des Jünger, der boulevardeske Kriegsjünger Reichelt, tat es ihm weniger sprachbegabt gleich.

Wer mitfühlt, wie sie in Stellungen frieren und an sich Heimweh quälen, der fühlt auch mit, wenn die Soldaten im ehelichen Grabenkrieg Entbehrungen ertragen müssen. Dolle Scheidungsraten! Denkt an unsere Soldaten! Soldatenbräute, lauft doch nicht weg! Schuld daran, so weiß Reichelt und der Wehrbeauftragte, sind die Arbeitsbedingungen, der andauernde Wechsel der Standorte, das Vagabundendasein. Die Erklärung ist so einfach - und so harmlos. Kann es denn aber nicht sein, dass diese Gesellschaft, die Krieg führt, die also zwangsläufig Kriegsveteranen züchtet, ganz einfach mit den Folgen dieses Umstandes zu kämpfen hat? Traumatische Erlebnisse mancher Veteranen aus anderen Kriegen haben Ehen zerstört, Elternschaft zerlegt, Lebensordnungen über den Haufen geworfen. Veteranen, die den Krieg gesehen haben, die taugen nicht mehr für den Alltag. Dass die Selbstmordrate bei Bundeswehrsoldaten, die irgendwo Krieg miterlebt hatten, nicht besonders niedrig liegt, konnte man phasenweise der Presse entnehmen. Warum soll also die hohe Scheidungsrate nicht auch darauf zurückzuführen sein?

Trennungsgründe sind mannigfaltig. Es kann das Vagabundenleben sein - aber auch: der schlechte oder gar nicht mehr stattfindende Sex - es kann Entliebung sein - ein neue Liebe, die nicht mehr als Affäre gesehen, sondern offiziell gemacht werden soll - oder einfach nur Selbstverwirklichung. Aber sollte eine Kriegsgesellschaft nicht auch die Option offenlassen, dass einige dieser Ehen auch Opfer der erlittenen Kriegsgräuel sind? Verwunderlich wäre das nicht - verwunderlich ist auch nicht, warum man das offenbar harmlose Motiv der Umzugsunlust vorschiebt. Das sind nämliche private Probleme - das Trauma einer Bevölkerungsgruppe ist hingegen von öffentlichen Interesse, das die Außenpolitik hinterfragt. Auch eine Form von Privatisierung! Nicht dass es letztlich heißt: Denkt an unsere Soldaten! Schickt sie nicht mehr in den Krieg! Das wäre Fatal, das kostete Reichelt seine Frontstellung und dem Wehretat Kürzungen.



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Nach links?

Mittwoch, 25. Januar 2012

Der Aufruf von Jacob Jung ist ehrenvoll - überhaupt keine Frage. Nur irgendwie habe ich den Eindruck, dass er an eine linke Masse appelliert, eine Gläubigkeit an eine solche Ballung hegt, eine geschlossene Linkseinigkeit voraussetzt, die es so gar nicht gibt. Er schreibt: "Unzählige linke Blogger, engagierte Publizisten und Fachleute für Internet-Kommunikation stehen bereit..." - alle warten sie auf die Partei Die Linke. Die Linksmasse wartet auf ihre (An-)Führer - so klingt das. Und wenn sich Die Linke besser in die modernen Medien einfügt, dann können wir endlich alle losmarschieren - auch so klingt das. Die Unfähigkeit, sich im Internet zu behaupten ist es, warum der Zeitgeist immer noch nicht links tickt - auch das klingt mit.

Lassen wir mal die Partei Die Linke weitestgehend aus dem Spiel. Sie ist halt Partei und als solche wird dort nie ausgestritten sein. Auch ein Vorwurf, den man unter Linken, nicht nur bei denen mit Parteibuch, sondern auch bei denen, die es vom Gemüt her sind, immer wieder hört. Dabei sind Flügelkämpfe typisch parteipolitisch - das ist normal, das ist auch nicht schlecht, wenn man mal ehrlich ist. Eine einheitliche Linie, die vorgegeben wird und von der nicht abgewichen werden soll oder gar darf, muß dem denkenden Subjekt zuwider sein. Leider ticken aber viele Linke in der Linksmasse, die es als relativ kleine Gruppierung nur gibt, genau so. Sie fordern Kadergehorsam und Linientreue. Weicht einer auch nur Millimeter davon ab, so ist er ein Katharer, den sie lieber einem Autodafé übergeben wollten, als ihn andersdenkend weiterdenken zu lassen.
Seien wir doch mal ehrlich: In vielen Linken ist der Gesinnungsterror, der Gesinnungsstalinismus weiterhin innere Gewalt. Es gibt für sie nur einen Weg, den Weg, der richtige, einzige, reine Weg ins harmonische Nirvana. Sie sind, auch wenn sie es leugnen, eschatologische Charaktere, die ganz offensichtlich christlich sozialisiert sind, die den Ursprungsort ihres Jenseitsglaubens und ihres Hanges zur individuellen und universellen Vollendung dort zu suchen hätten. Das ist nicht höhnisch gemeint, in diesen Breitengraden ist die christliche Sozialisierung Normalität, auch Atheisten pflegen Denkmuster, die von dort her rühren. Linke, die nicht hundertprozentig so sind, wie es die Eschatologen gerne sähen, die sind suspekt, die will man nicht haben.

Welche linke Einheit wartet denn überhaupt auf den Straßen auf Die Linke? Es gibt eine solche Einheit nicht. Die, die links sind, ergehen sich in Grabenkämpfen und Flügelgefechten. Das ist normal, weil menschlich. Das geschieht auf die eine oder andere Weise in jeder politischen Partei, davon leben sie. Der rechte Stereotyp ist mehr kollektiv fühlend - er streitet in seinen Parteien weniger; der linke Stereotyp legt wert auf Individualismus - das führt zu Streitigkeiten. So jedenfalls die Theorie, denn es gibt mehr kollektive Linke und mehr individuelle Rechte als man annimmt. Linke Kameraden, die vom Kollektiv sprechen, sind eher reaktionär und diktatorisch; "Linke Leute von rechts" nannte Kurt Hiller solche Gesellen einst. Der demokratische Meinungsfindungsprozess ist jedoch Diskussion. Wenn die Sozialdemokratie innerparteilich dem linken Flügel das Maul verbieten will, so ist das in etwa so undemokratisch, wie wenn jemand in Die Linke dem rechten Spektrum den Mund stopfen möchte. Mir gefallen die rechten Linken ja auch nicht, aber man muß sie ertragen können - und eben das können Linke, ob mit Parteibuch oder nicht, oft gar nicht. Da werden sie ganz wuschig und böse und fühlen sich bitter verraten. Das kann ich sogar noch verstehen, weil ich bei Schröder- oder Fischer-"Linken" auch sauer werde. Aber wenn ein Linker den Kapitalismus nicht mit Stumpf und Stiel ausrotten will, um dafür den Sozialismus erblühen zu lassen, dann muß man mit dieser Einstellung umgehen können - das ist doch kein Verrat am Ziel einer besseren Gesellschaft. Man überlasse den Jenseitsglauben den Pfaffen!

Die Masse, die auf linke Erleuchtung hofft, die gibt es nicht. Nicht als massige Masse, als kleine Gruppe natürlich schon. Aber die Menschen sind keine verkappten Linken, die man bloß wachküssen müsste. Die Leute haben keinen Sinn für generelle Fairness, es geht ihnen darum, selbst fair behandelt zu werden. Ihre Sorgen sind ihre Sorgen - warum sich um Sorgen anderer sorgen? Wenn man hier billig einkaufen kann, dann ist die Welt in Ordnung - Bangladesh und Nigeria liegen nicht in dieser in Ordnung befindlichen Welt. Warenwelten bezahlbar erhalten, Kaufkraft stärken - das sind die Interessen. Und es ist ihnen egal, wem das gelingt. Sollte das eine neue rechtskonservative Partei sein, dann ist es ihnen auch recht. Der Kapitalismus ist doch vom Konsumismus überbaut. Letzterer regiert, die dazugehörige Ideologie ist nur der Verweser des Systems. In "Auf die faule Haut" habe ich das bereits erläutert.
Man denke doch zurück. Sozialdemokraten wählten plötzlich Nationalsozialisten, weil denen gelang (jedenfalls sah es so aus), was die Masse vormals immer wollte, in der Weimarer Zeit aber nicht erhielt: Stabilität, Kaufkraft, neuer Wohlstand und ja, auch wenn das dogmatische Linke heute nicht gerne hören: soziale Sicherheit - rassische soziale Sicherheit zwar, aber das kümmerte den deutschen Proletarier herzlich wenig, wenn er dafür in Lohn und Brot stehen durfte. Der Sozialismus der Nazis, den es gab, der eben nicht nur im Namen stand, der aber natürlich eine Schweinerei war, weil er sich für rassisch erklärte und weil er letztlich spaltete und final nach Auschwitz leitete, er wurde vom Proletariat nicht nur ertragen oder erduldet, er wurde begrüßt. Der Nationalsozialismus kam eben nicht nur durch Kapitalisten in die Regierung - auch ein linkes Nachkriegsdogma, an dem man nicht rütteln sollte. Diesen rassischen Staat, den wollte man auch als aufgeklärter Demokrat ertragen - es gab doch schließlich keine Alternative, wenn man satt werden wollte. Auch ehemalige sozialdemokratische Wähler glaubten das zu erkennen, denn was die SPD nicht fertigbrachte, der Sozialismus Hitlers schaffte es. Es gäbe ja doch immer Vor- und Nachteile, Pro und Contra - Moral lohne sich daher nicht. Schon 1932 hatte Kurt Hiller geschrieben: "Links, rechts – diese Unterscheidung wird täglich dümmer. Wer kommt noch mit ihr aus?"
Und was ist links überhaupt? Muß man wie manche Teile der Neuen Linken, die heute nicht mehr ganz so neu ist, die Familie als Keim des staatlichen Gewaltmonopols betrachten? Und wer Familie schätzt und als schützenswert empfindet: Ist der kein Linker mehr? Ist dabei nicht zu bedenken, dass die Familie eigentlich humaner sein kann, als jede andere "Verwaltungseinheit"? Verzeihen und Mitgefühl: das ist doch auch, das ist doch ganz besonders familiärer Alltag. Wer das so sieht: Kein Linker mehr? Was, wenn man als sich selbst links einschätzender Mensch desinteressiert abwinkt, wenn ihm jemand vom Weg in den Sozialismus erzählt? Frevel? Ausgelinkt? Kann man nicht sagen, dass man meinethalben einen Kapitalismus mit menschlichen Antlitz will, auch wenn das derzeit kaum umsetzbar erscheint? Ist das Sünde, ist das Entlinklichung? Wenn man dem Menschen zutraut, so sehr dazuzulernen, dass er irgendwas wie soziale Intelligenz entwickelt, sodass er im Kapitalismus anständig und rücksichtsvoll wirken könnte (Träumerei? Vielleicht!): Ist dieser Optimismus nicht links? Muß man als Linker die absolute Verruchtheit des Menschen annehmen? War nicht die politische Linke, und das schon seit ihrem historischen Beginn 1830 (woher auch der Begriff stammt), von der Zuversicht geleitet, der Mensch könne hinzulernen?

Links ist doch heute alles in gewisser Weise. Die Welt ist ein linker Ort - ein linkischer allemal, denn Links ist ein Label und die Unterscheidung zwischen "aufrichtigem Links" und "Label Links" ist manchmal kaum mehr zu bewerkstelligen. Da machen Marx und Che Werbung für Autos - ein linker Autohersteller? War Marx überhaupt ein Linker? Was man so liest über ihn zeugt beinahe nur von einer möglichen Antwort: Nein, war er nicht! Reaktionär, kleinbürgerlich, spießig - ein Menschenbenutzer. Aber auch das ist ein Dogma, das man nicht erschüttern darf, da werden manche Linke richtig pampig. Die Grünen sind besonders links. Und McDonalds ist auch grün mittlerweile. Der Neoliberalismus doch auch - grün und liberal und irgendwie auch links. Schröder und Blair haben die europäische Linke doch schließlich mit Hilfe des Neoliberalismus gerettet! Man belaste mal die Toleranz von Linken, auch von Hardcore-Linken, die mit den Neocons des Neoliberalismus nichts gemein haben wollen, und stelle die Arbeitsfrage - nicht die Arbeiterfrage. Man halte Lafargue hoch und sage, dass eigentlich eine Gesellschaft notwendig sei, in der so wenig wie möglich durch menschliche Arbeitskraft geleistet wird - das geht über manchen linken Horizont. In der Arbeitswut, wusste schon der marxistische Schwiegersohn Lafargue, gleichen sich Sozialisten wie Kapitalisten, Linke wie Rechte, Progressive wie Konservative.

Nicht dass ich den Kapitalismus schätze. Das muß ich dazu sagen, weil es Eiferer genug geben wird, die bestätigen, was ich hier beklage. Den Abfall von der Lehre werden sie mir vorwerfen. Du bist gar kein Linker!, werden sie rufen. Aber mir ist der Sozialismus egal, weil das, was schon mal Sozialismus war, auch nur Staatskapitalismus in roter Farbe war. Sozialismus, Kapitalismus: man nenne es wie man mag. Alles was mir wichtig ist: am Ende soll Fairness, Gerechtigkeit und Gleichheit übrigbleiben, eine lebenswerte Gesellschaft. Keine Benachteiligungen, kein Rassismus, keine privilegierten Schichten. Das manches davon Utopie ist, weiß ich auch. Man nenne das Ding von mir aus ganz anders, von mir aus Brotzeitismus - das wäre wenigstens neutral und nicht schon missbraucht und es hörte sich nach wonnigem Schmausen und Gemütlichkeit an.

Das linke Fußvolk in Wartestellung, das angeblich so einig gegen die Auswüchse des Kapitalismus steht... wobei ich gleich noch in diesem Satz flechte, dass linke Doktrin ist, dass der Kapitalismus nicht Auswüchse zeigt, sondern selbst Auswuchs ist, also gar nicht anders denkbar sei. Als könne man Systeme nicht an die Kandare nehmen! Viele Linke kritisieren die Naturgesetzlichkeit, mit der Neoliberale die Ökonomie für fast nicht menschlich veränderbar erklären. Diese Kritik ist vollkommen richtig! Aber dieselbe Naturgesetzlichkeit schreiben sie dem Kapitalismus zu, wenn sie sagen, er könne nicht verändert werden - ich weiß nicht ob sie recht haben damit, aber zweifeln wird man ja noch dürfen. Nochmal also: Das linke Fußvolk, das angeblich einig wartet, bis Die Linke sich formiert und endlich Linientreue und Kadavergehorsam und Internetspleen zeigt, es existiert nicht. Jetzt belagern sie hin und wieder die Straßen, weil sie vom System kaum mehr profitieren - vorher warf es Profite ab und wurde heiß und innig geliebt. Links ist das nicht, es ist Wut oder Empörung - nicht grundsätzliche Kritik. Viele kluge Leute finden sich unter denen, die wütend sind, anständige Persönlichkeiten, Leute mit Schneid und Grips - aber auch genug schräge Vögel, stalinistoide Schwachköpfe, rigide Windbeutel und opportunistische Arschkriecher. In dreißig Jahren haben wir vielleicht einen Minister, der stolz zugibt, damals Occupy gemacht zu haben; ich bin einer von euch, ein Gemütslinker, würde er sagen - und dann sein Gemüt gemütlich in einen Aufsichtsratsessel schieben.

Resigniert? Klar, was sonst? Sicherlich gibt es genug zu tun. Bankenkontrolle muß geregelt werden - das sollte man auch als resignierter Zyniker einsehen. Aber kann man noch ernsthaft glauben, dass der Mechanismus, der wer weiß wie lange schon angelaufen ist, noch aufzuhalten ist? Kann sich die Menschheit noch aus der konsumistischen, ressourcenabbauenden, lärmenden Affäre stehlen? Der Kapitalismus wie wir ihn kennen ist eine zähe Masse, die sich in jede andere Weltsicht quetscht. Dann ist er eben grün, dann ist er eben sozialverträglich - alles kann er sein, wenn er nur regieren, wenn er nur das Geschäft für den Konsumismus besorgen darf. Die Kanzlerin, diese gut geschulte Opportunistin, ist genau das passende Gesicht zu einem passenden System. Schmierig, windig, heute hie, morgen da: das ist Kanzlerin und Kapitalismus - eine aus den Tugenden geschmiedete Inhaberin der wirtschaftspolitischen Richtlinienkompetenz!
Arbeit, Arbeit über alles! Wird das nach der eingeführten Bankenkontrolle als Dogma aufweichen? Zählt wieder der Mensch, nicht die Finanzen? Wir werden dabei bleiben, mit etwas anderen Spielregeln - und Die Linke bietet auch keinen Ausblick auf Loslösung von den alltäglichen Dogmen des Systems. Reförmchen sicherlich - aber der Konsens ist verankert, unverrückbar, in Stein gemeißelt.

Wie kann man eigentlich nicht resigniert sein? Wir leben doch im Zeitalter der Resignation! Frauen kamen an die Macht, führten Regierungen an - Epochenwechsel!, rief man. Am weiblichen Wesen soll die Welt genesen, meinte man. Doch was geschah? Nichts. Es wurde eher noch schlimmer. Thatcher und Merkel - "Tinas" Zweigestirn. Und nun Johnson Sirleaf, Nobelpreisträgerin aus Liberia, die dort alles anders machen sollte, vormals aber mit dem Despoten Taylor in seltsamem Geistesverhältnis lebte und nun die Märkte Liberias öffnete, auf dass das Land endgültig ausblute. Westliche Konzerne leiten dort ihren Unrat ins Abwasser, Menschen sterben daran und Sirleaf beruhigt ihre Bürger, weil Öffnung für den freien Markt auch Opfer erfordere, die man ertragen müsse, wie sie mehr oder minder ungeniert offen sagt. Dann Obama, erster schwarzer US-Präsident - wieviele Schwarze werden heute noch schneller verurteilt, landen noch sicherer im Knast? Wie hoch ist der Prozentsatz der Schwarzen, die in texanischen Todestrakten vor sich hin siechen? Immer noch beinahe fünfzig Prozent, obwohl nur etwa dreizehn Prozent schwarzer Hautfarbe sind? Wie lebt es sich seither in Harlem? Gleichberechtigung gesichert? Die Grünen wurden Regierungspartei, pazifistisch, ökologisch - sie zogen in den Krieg und wurden Umweltschützer und Müllsortierer. Wie nicht resignieren? Im System ist keine Veränderung möglich, nur Stückwerkerei. Und außerhalb? Wo bitte geht es nach außerhalb? Der Konsumismuskapitalismus bietet immer noch viel zu schöne Phantasien, Träume und Fotoapparate - das gibt die Masse nicht auf. Bisschen links modifizieren ist in Ordnung - aber wenn es rechts besser geht, dann Seitenwechsel."Links, rechts – diese Unterscheidung wird täglich dümmer."

Es sind ja ohnehin meist diejenigen in jeder Denkrichtung und Weltanschauung, die Dogmatisten und Lehrenwächter, die am lautesten schreien. Das macht es einem linken Publizisten nicht besonders attraktiv "mitzumachen"; was immer das dann auch heißt: mitmachen. Man will ja vom linken Publizisten und auch Journalisten Taten sehen - Worte, die ja Taten des Schreibenden sind, gelten da nicht mehr. Auch da sture Doktrin. Natürlich ist man dabei, schüttelt aber mehr erstaunt denn Kopf, als dass man an eine Erlösung durch das, was Linkssein genannt wird, glaubt.

Links und rechts, das sind Richtungsangaben, die vermutlich komplett auf den Müllhaufen der Geschichte gehören. Sitzplatzanordnungen, auch im historischen Gehalt der Worte. Konsumisten oder Utilitaristen, Melancholisten oder Hedonisten - das wären vielleicht trefflichere Unterscheidungen. Wenn man die Begriffe auch nicht historisch nehmen dürfte. Jeder konsumiert, der Mensch braucht Dinge - die Frage ist nur, ob Konsum zu einem Lebensstil, zum Lebensinhalt werden sollte oder der Notwendigkeit der menschlichen Nacktheit geschuldet ist, ob der Konsum also Nutzen, utilitas hat - und was an Lebensfreude falsch sein soll, verrät uns der gängige Alltag nur bedingt. Mancher, der links zu glauben meint, weiß das auch nicht, denn Lachen ist in einer Welt der Tränen verboten. Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit: Nach Sozialabbau zu lachen ist unmoralisch. Nach Hartz IV ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch. Schreiben Sie mal eine Polemik zu solchen Themen! Auch sich links fühlende Personen werden sich darüber ereifern! Unsachlichkeit wirft man dann vor! Kunst ist für solche Gestalten etwas, was es für ihre Ziele zu formen gilt - sie ist nicht frei, sie hat dienstbar zu sein. Dabei ist Humor und Elend vereinbar, man darf nur kein dogmatischer Sozialist sein - siehe Chaplin, der die Armut mit Lachen zeigte; siehe Benigni, wie er im KZ frotzelte. Die Ästhetik des Humors ist notwendig, um die Ästhetik der Unterdrückung zu begreifen. Das ist die Aufgabe des Künstlers - das sind seine Taten, die keine Taten sein dürfen.

Die Frage ist doch nicht, ob da eine linke Masse auf eine linke Organisation wartet, um einig auf Linie zu marschieren - fraglich ist, ob es eine Bereitschaft gibt, den konsumistischen Stil gegen ein viel pragmatischeres, letztlich damit auch sozialeres Konsumverhalten einzutauschen. Und ob die Menschen nach ihren Protesten die Melancholie weiterleben wollen unter anderen Regeln oder hedonistisch die Welt lockerer, entspannter gestalten möchten. Mit diesen hundertprozentigen Linken, die alles wissen, alles schaffen, alles erkennen und jeden abkanzeln, der nicht spurt, habe ich nichts gemein - und die sind nicht zu rar in der Linksmasse. Einige lockere und gemäßigte Charaktere wandern auch mit. Die Mehrheit ist einfach nur gerade linkisch, weil es zur Wut passt. Wäre ihr Lebensstil gesichert, gäbe es keinen Grund, sich linken Positionen anzunähern.




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Ein in sich abgeschlossener Mikrokosmos

Dienstag, 24. Januar 2012

Es ist kein Privat-, kein Fernsehsender - RTL ist mehr: es ist ein Lebensgefühl. Mein RTL, nennt sich das dann. Wie der Springer-Konzern in seinem täglichen Blatt, so spiegelt auch RTL seiner Kundschaft einen Mikrokosmos vor. Bei Springer ist es die nationale Wut auf das Ausland, das Deutschland vermeintlich nichts gönnen will, ein "eingeschnapptes Lebensgefühl". Bei RTL Television ist es eine Mischung aus Spektakel und Freak-Show, aus wöchentlich präsentierten TV-Highlights des Jahres, zu Sensationen mutierte Sensatiönchen und emotionalen Aufdringlichkeiten.

Happy Nation, living in a happy nation...

"Über diesen Mann spricht morgen die ganze Nation" - diese oder ähnliche unbescheidene Sätze leiten manches RTL-Spektakel ein. Wenn jemand Billardkugeln schluckt beispielsweise - oder sich vor eine Jury aus eitlen Affen zum Affen macht. Man ist bei RTL bescheiden genug zu glauben, dass die gesamte Nation RTL guckt. Tagsdrauf berichtet freilich Springer darüber. Durch diese unheilige Allianz glaubt der RTL-Zuschauer, der manchmal auch BILD-Leser ist, dass RTL wirklich die einzig amtierende Realität abbildet. Gestern noch gesehen, heute schon darüber gelesen - Bertelsmann und Springer machen sich ihre Wirklichkeit, generieren Belanglosigkeiten, die zum Gegenstand ernster Diskussionen erkoren werden. Bertelsmann und Springer sind, so scheint es, die ganze Nation. Der Zuschauer soll den Eindruck erhalten, exklusiv dabei zu sein, wenn es der Nation den Atmen verschlägt, wenn sie lacht oder weint, wenn sie wütend wird oder trauert.

Eine Nation unter Spott

Die Welt des RTL Television ist ein Hort seltsamer Gestalten, die Frauen suchen oder wahlweise Schwiegertöchter, in denen Restaurants getestet und verspottet werden, in der nachmittäglich Laiendarsteller die Drehbücher laienhafter Autoren abspulen, in der auf Aufmerksamkeit abgerichtete Gecken Journalisten sein dürfen, in der Banalität Dokumentation oder Bericht heißt. Nachrichtenformate, in denen neben den üblichen News, die auch andernorts verbreitet werden, die reichen Schönen und die schönen Reichen ihre armselige Hässlichkeit oder hässliche Armseligkeit nach außen stülpen dürfen. Neue Botoxlippen werden zur Nachricht. Oder die Kinder, die sich Pitt und Jolie bei einer Afrikanerin oder Asiatin besorgen. Ein Bauer fand die Liebe seines Lebens, irgendeinen städtischen Bauerntrampel, und schon ist es Nachricht, über die freilich mindestens die ganze Nation spricht. Und übermorgen die ganze Welt...

RTL ist in diesem kuriosen Weltbild nicht nur Kameramann, fängt nicht nur Bilder ein. RTL ist Spender, galanter Helfer, Anreger - kurz, ein weiser Weltenlenker, der seine Schäfchen bei der Hand nimmt oder auf die Finger schlägt, je nachdem. Man hilft beim Finden von Lebenspartnern, beim Ausbau der Wohnung, beim Führen von Restaurants. Dafür blamiert man die Beteiligten nicht selten bis auf die Knochen - aber wer hilft, der darf auch spotten, ist die Maxime des Senders. Man führt Spendenmarathons durch, brüstet sich der Millionen, die der Bertelsmann-Konsument, vulgo: RTL-Zuschauer, ausschüttet und läßt die Milliarden von Bertelsmann und/oder RTL ruhig auf dem Konto schlafen. Der Sender ist die selbsternannte moralische Schule der Nation, in der es ganz besondere Leitsätze gibt. Blamiere Deinen Nächsten, ist so nur einer davon.

Drehbücher für die Liebe

Da suchen regelmäßig Bauern Frauen. RTL ist überhaupt der Sender der Frauen- oder Partnersuche. Bauern, Muttersöhnchen, Großstadtsingles, Auswanderer - RTL gibt vor, die Zweisamkeit für sie zu buchen. Nach Script natürlich. Dem Zuschauer gaukelt man vor, alles sei besonders real, alles sei genau so geschehen. Die Dialoge klingen dabei so, als kämen sie vom Papier - das stört aber offenbar niemanden. Der Zuschauer will gar keine Menschen sehen, die frei über sich und ihre Gefühle verfügen, er will das "Produkt: Liebelei" bestaunen. Produkt ist überhaupt alles, was bei RTL geschieht. Heesters, den man boulevardesk hofierte, war kein in die Jahre gekommener, unmodern gewordener Operettenschmalzus aus den Vierzigerjahren, auch seine Geschichte nahe am KZ Dachau blieb unerwähnt, er war das "Produkt: fröhlicher Methusalem", irgendein entpersonalisiertes besonders altes Alterchen, das seriös nicht erklärbar war, über dessen quersitzende Fürze man aber seriös tuend berichtete. Und dann das "Produkt: Freak-Show", erschreckend seltsame Männer, die Schwiegertöchter für ihre Mütter suchen und bei denen man manchmal glaubt, RTL habe das Casting hierzu in einem Caritas-Heim für behinderte Erwachsene durchgeführt - das ist nicht mal flapsig gemeint, sondern tatsächlich schon mehrmals beanstandet worden.

RTL, der Weltenlenker des Nationalfernsehens, engagiert sich natürlich nur Angestellte, die das RTL-Helfersyndrom mit dem Hang zum Spott kultiviert haben. Dümmlich grinsende Herrschaften tun so, als seien sie integer, anständig und meinten es nur gut. Vera Int-Veen, die sich stets als "Vera aus dem Fernsehen" vorstellt - oder Inka Sonstwie, die in Latzhose und Karohemd den Solidaritätskurs zu ihrer Klientel, den Bauern, fährt und ernsthaft erzählt, durch ihre Sendung sei den Menschen in Deutschland (wir wissen ja, die ganze Nation guckt mit), der Beruf des Landwirts wieder nähergebracht worden. Flirten, Ausdruckslosigkeiten, Peinlichkeiten, notgeile Bauern und amnötigtstengeile Weiber: sieht so der Beruf des Landwirts aus? Die Vera aus dem Fernsehen dringt indes in Wohnungen ein, spioniert nach, lauert Menschen auf, tut das aber nur, weil sie helfen will - Menschen, die unter Helfersyndrom leiden, stalken und spionieren, ihre Gutherzigkeit wird zum Zwang, scheint es fast. So gesehen ist RTL der passende Therapeut für die Fernseh-Vera, dort kann sie ihren Helferzwang ausleben und wird dafür auch noch bezahlt.

Trinitätsdogma - oder: die heilige Dreieinigkeit

Helfer und Götter. Letztere zieren die Jurys von Mein Casting-RTL. Der ewige Bohlen natürlich, der unter "Dieter, Dieter"-Rufen, die ein Anheizer anheizt, das Studio betritt. Vorzugsweise nicht per pedes - auf Elefanten, in Cabrios oder auf heißen Öfen. Bohlen ist das fleischgewordene Klischee eines frauenfleisch- und motorengeilen Typen. In dieser Rolle gefällt er sich und den Zusehern. Niedlich, wie der Dieter sabbert, wenn er halbbedeckte Titten sieht - neben ihm eine weibliche Jurorin, gekleidet wie die Rosi, die unter Zwounddreißig Sechszehn Acht zu erreichen ist, die argwöhnisch spöttelt, wenn Dieter Brüste als Alleinstellungsmerkmal einer Kandidatin unterstreicht und ihn nicht abstraft, sondern verliebt den Oberarm tätschelt. Die Jurorinnen sind indes auch Göttinnen neben diesem Obergott, auch ihre Namen werden rufend zelebriert, wenn sie dazu schreiten, das unterirdische Mittelmaß, das dort auftritt, zur Sensation zu erheben.

Dort bekommt jeder seine fünf Minuten Berühmtheit. Auftritte von stilisierten Lebensverlierern, die eine verkrebste Mutter pflegen oder die dreiundneunzigjährige Oma verloren haben und daher orientierungslos und verheult durch ihren Tag irren. Bis sie auf die Bühne taumeln, dort nicht allzu schief singen oder muszieren und für ihr Schicksal in Form von inszenierten standing ovations entschädigt werden. Wie diese durch Trauer und Schicksalsbeutelungen fast lebensunfähigen Leute die Kraft aufbrachten, sich dort zu bewerben, dorthin zu kommen, das erklärt einem keiner. RTL ist auch dort der Geber, der Helfer, spendet Hoffnung, spendiert einen Neuanfang. Und die Götter entscheiden, wen sie durchwinken, wen sie loben und dem Glück naheführen. Dreimal Ja!, sagen sie - das bedeutet soviel wie: Lebensziel erreicht. Dass am Ende diese Dreimal Ja! nicht bindend sind und zwischen allen, die Dreimal Ja! gehört haben, neuerlich sortiert wird, stört da auch nicht weiter. Die göttliche Dreieinigkeit, die sich im einigen, dreieinigen Ja zeigt, sie ist der größte Augenblick im Leben dieser Kandidaten. Der sonst so schnodderige und brutale Bohlen gibt hierbei das personifizierte Mitleid. Zwischen Titten- und Motorenspleen strahlt der "Mensch Bohlen" hervor. Treten Kinder, Kranke oder Behinderte auf, so ist er lammfromm und läßt auch mal Talentfreiheit als Talent zu - neulich dann sein Statement zu einem Gehbehinderten: Wenn er schon was kann, soll man ihn auch in die nächste Runde schicken. Wenn er schon was kann, dieser Behinderte - das klingt wahrlich freundlich. Nobel geht die Welt zugrunde...

In sich gleichgeschaltet

Erstaunlich abgestimmt ist das gesamte Konzept des Senders. Die Inhalte werden sendungsübergreifend thematisiert. Was mittags bei der lispelnden Dauerwelle in Punkt 12 erzählt wird, wird bei RTL aktuell aufgewärmt - inklusive Promiklatsch. Was bei der scripted reality geschieht, ist Grundlage für sich seriös gebende Magazine. Was Bohlen und seine Helferlein auswählen, füllt die Magazine des Senders natürlich sowieso. Die Darsteller von Soaps sitzen in Abendsendungen oder tanzen um die Wette - und mancher Dauergast bei Punkt 12, das indes wiederum nur das Morgenmagazin des Senders wiederholt, landet im Dschungel oder manchmal als Einspieler in der Chartshow, wo er erzählen darf, dass er Loco in Acapulco von den Four Tops schon als Kind gehört habe und es "echt supertoll und geil" fand; hernach darf er noch tremolieren: Loco in Pukipulko... hmhmhm lalala - nebst Gesumme, versteht sich. Und ohne Frage, das Personal aus den nachmittäglichen scripted realities erscheint auch zum Casting - vermutlich wurde das damals, als man für Mitten im Leben unterschrieb, gleich noch vertraglich festgehalten: ...der Kandidat verpflichtet sich, auch beim Supertalent aufzutreten.

Kein deutscher Sender ist in sich so geschlossen, wie es RTL ist. Keiner hat eine derart übergreifende Konzeption. RTL schafft sich einen Mikrokosmos, der rund um die Uhr, quer durchs Programm, in jeder Sparte erhalten bleibt. Selbst Jauch, den man als RTL-Intellektuellen verkauft, kennt die Namen der GZSZ- oder DSDS-Figuren. RTL ist eine abgeschlossene Welt - die dort verbreitete Wirklichkeit ist konzipiert und verbindlich für alle Sendungen. Und die ganze Nation nimmt daran teil - jeder, der nicht RTL schaut, gehört einfach nicht zur RTL-Nation. Es gibt kein Entrinnen, die RTL-reality durchzieht Soaps und "Dokus", WWM und Stern TV, Nachrichten wie Boulevard-Magazine. RTL ist kein Sender, in dem zufälligerweise Sendekonzepte verschiedener Art ausgestrahlt werden - die Sendungen sind aufeinander abgestimmt, die Inhalte sind die Inhalte aller Konzepte. Bei keinem anderen Sender scheint die Abstimmung so radikal. RTL ist in sich gleichgeschaltet; News werden durchgereicht, werden in Dokus eingebaut und in Drehbücher verwurstet. Das Weltbild, das RTL verkündigt, es ist in sich stimmig und wird von keiner Seite innerhalb des Programms auch nur zwischen den Zeilen in Zweifel gezogen.

Die Ambivalenz der Anderen

Was bei Stern TV oder Life wahr ist, ist auch für RTL aktuell wahr, für Punkt 12 wahr und bleibt zwischen den schief gesungenen Noten auch irgendwo beim Castingkonzept wahr. Widerrede gibt es nicht. Im Ersten gibt es, bei aller Kritik, noch Abwechslung. Zwar hält dort Jauch der Kanzlerin Karteikärtchen hin und macht damit Seibert den Posten als Regierungssprecher streitig - aber gleichzeitig gibt es Panorama, Monitor oder es kramt Christoph Lütgert höheren Interessen im Wege herum. Zwar treten die stets grinsenden Tietjen und Hirschhausen ihre banale Talk-Illustrierte im NDR breit - aber auch das Magazin Zapp ist dort heimisch. Die Ambivalenz ist dort überall Programm. Derart unabgestimmte Sendeformate, die sich nicht aufeinander beziehen oder sich sogar noch diametral entgegen stehen, wären bei RTL undenkbar. Zwar ist eine RTLisierung auch bei Sendern wie Sat 1 oder Pro 7 sichtbar, aber in dieser Perfektion ist das dort bislang noch nicht gelungen.



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Von wegen Opfer!

Montag, 23. Januar 2012

Zu einem sanftmütigen Opfer taugt Baltasar Garzón wahrlich nicht. "Spaniens mutigster Richter", wie ihn die taz nennt, erlebt gerade die Parteienallmacht des spanischen Zentralstaates, muß sich gegen Partido Popular und faschistische Organisationen behaupten. Ganz so opferhaft ist dieser Mann jedoch nicht. Das sollte man mal richtigstellen. Das Mitlauschen von Gesprächen zwischen Anwälten und Angeklagten in U-Haft ist indes keine kuriose Neuigkeit, wie das die PP meint - ähnliches Vorgehen gab es unter Garzón immer wieder, nur da war es politisch gewollt.

Ja, er untersuchte Verbrechen des Franqusimo - freiheitlich und demokratisch äußerte sich seine Gesinnung allerdings nicht immer. Sein Engagement gegen die ETA war selten astrein. Mit den Verbrechern, die die baskischen Separations- bzw. Autonomiebestrebungen durch ihre Gewaltbereitschaft kriminalisierten, unterwarf er auch Basken seinem Diktat, die nichts mit Gewalt, sehr wohl aber mit der "baskischen Sache" zu tun hatten. Der Kampf gegen die ETA war für Garzón immer auch ein Kampf gegen die baskische Kultur. Er kriminalisierte die baskische Sprachschulvereinigung, ließ baskische Zeitungen schließen, baskische Radiosender abschalten, deren Redaktionsmitglieder juristisch verfolgen. Und er leitete das Verbot der linken baskischen Partei Batasuna in die Wege - das zunächst temporäre Verbot Garzóns wurde später vom spanischen Verfassungsgericht bestätigt. Unter Garzón gab es im Kampf gegen die ETA - und gibt es immer noch - die Tolerierung von Folter zur Geständniserzwingung; Schutzhaft bis zu fünf Tagen ohne anwaltliche Kontaktierung; horrende Haftstrafen ohne Möglichkeit der Resozialisierung.

Der Kampf gegen die ETA wurde auch von Garzón stets als ein Krieg gegen demokratische Grundsätze geführt. Kollateralschäden wie die baskische Kultur nahm man hin. Autonomiebestrebungen auch ohne Gewaltbereitschaft galten als Frevel am spanischen Zentralstaat. Der politische Arm der Autonomiebewegung wurde von Garzón abgeschlagen und vormals gewaltfreie Streiter für die baskische Sache kriminalisiert und in den Untergrund gedrängt.

Sicher, was Garzón nun widerfährt, zum Spielball der rachsüchtigen Volkspartei unter Rajoy zu werden, zum Angeklagten franquistischer Organisationen, das gleicht einem Skandal. Aber die sich abgehört wähnende Volkspartei, sie hat zugeschaut, als Garzón und Mitstreiter ETA-Gefangene von ihren Grundrechten abschnitt - Belauschungen inklusive. Ihn nun aber deshalb zum aufrechten Recken zu küren, das ist ignorant - der "mutigste Richter Spaniens" war in der baskischen Angelegenheit besonders mutig, weil er starken Rückhalt in Madrid fühlte. Dort vertritt man weiterhin die Meinung, baskische Autonomie sei genug gegeben und die baskische Kultur und Sprache sei ohnehin so primitiv, dass man nicht zu viel Eigenkultur und -verwaltung erlauben sollte. Garzón war die juristische Speerspitze dieses Überspaniertums, der Freisler des reformfranquistischen Spaniens. Zum Opfer taugt er wirklich nicht...



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Sit venia verbo

"Geändert haben sich nur die Schlüsse, die aus solchen Zahlen gezogen werden. Vor 30 Jahren hatte Don Reid nach den Wurzeln des Unglücks geforscht und den zum Tod Verurteilten als menschliches Wesen gezeichnet, der das Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Heute sind die Medien nur noch am Wie und Wo der Tat interessiert, nicht am Warum. Die möglichst genau Schilderung des Geschehenen soll keineswegs Beklemmung auslösen: Was, dazu ist der Mensch also auch fähig...? Absicht ist vielmehr, den Täter als Monster, als Bestie zu zeigen, die nie zur menschlichen Gesellschaft gehört hat, geschweige denn zum amerikanischen Volk, und deshalb ausgemerzt werden muß. Auf das Schildern einer katastrophalen Jugend und das ausweglose Zusteuern auf die Tat wird verzichtet. So entsteht der Eindruck: Nicht das Leben hat einen Mörder zum Mörder gemacht. Ein Mörder wird schon als Mörder geboren."
- Margrit Sprecher, "Leben und Sterben im Todestrakt" -

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... ist die Mutter der Dummen

Freitag, 20. Januar 2012

Weshalb hatte er eigentlich nach jedem Besuch dieses matte Gefühl, dass die Stahltür nie richtig ins Schloss fiel? Warum schien es ihm, als würde seine Zelle, dieses dustere Verlies nicht verschlossen? Das war so als gestern der Pfarrer sein wöchentliches Gastspiel beendete. Dasselbe Gefühl neuerlich einige Stunden später, als der Anstaltspsychologe seinen täglichen Kurzbesuch abschloss - vermutlich jedoch nicht die Tür. Und immer wenn der junge Gimpel von Wärter, der ihm das Essen aus der Küche brachte, aus diesem dunklen Bunker wieder heraustrat, dünkte ihm ebenfalls, dass da diese dicke Tür, dieser Koloss gleich einer Tresortür, nicht schwer und behäbig ins Schloss fiel - geschweige denn, dass sie abgeschlossen würde.
Er war schon einige Wochen hier in seinem neuen Domizil unter Tage, mittlerweile gewohnt an das Halbdunkel, an die Nässe, die von den Gemäuern troff. Es gab notwendiges Mobiliar, gab ein Bett und Sitzgelegenheiten. Sogar einen Fernseher. Und überdies ein Waschbecken, auch wenn der ganze Raum ein einziges Waschbecken war. Allerdings hatte er mehr Platz als nötig, so viel Platz, wie er in seinem Leben zuvor nie in einer seiner Wohnungen besaß. Zwanzig, fünfundzwanzig Quadratmeter mögen es schon gewesen sein. Größe ohne Luxus. Das Holz von Stuhl und Tisch beispielsweise war so durchzogen von Wasser, dass es sich fast gummiartig anfühlte und bei Belastung leicht nachgab. Fenster wurden in der Planungsphase des Gebäudes aber offensichtlich vergessen. Es war kein mittelalterliches Verlies, kein Kerker - aber es erinnerte mehr daran, als an eine Zelle des modernen Strafvollzuges.
Wenn er es sich so recht überlegte, so quälte ihn dieser Gedanke, ob denn verschlossen sei oder nicht, schon seit dem ersten Tag seiner Gefangenschaft in dieser Höhle. Als man ihn hierher brachte, ward ihm bereits so, als habe man die Tür nur hinter sich zugezogen. Nur war er anfangs noch zu benommen, um sich darauf einen Reim zu machen. Benommen und mitgenommen vom Prozess und dem Urteil. Er hatte wahrlich andere Gedanken und Sorgen als Türen, die nicht richtig schlossen.

Wochen gingen ins Land, ins Verlies, in die Knochen.
"... solange, bis das Leben aus seinem Körper weicht"
, hatte er damals, er saß in der Anklagebank, benebelt vom Prozessverlauf, duselig von Plädoyer des Staatsanwaltes, vernommen. Das Urteil stand also fest.
Anfangs kettete man ihn fest. Er hatte zwar große Bewegungsfreiheit, konnte aber den hinteren Teil seines Verlieses nicht verlassen. Seit etwa zwei Wochen entband man ihn - nicht von Pflichten, die es hier offenbar ohnehin nicht gab: von der Kette. Er war plötzlich ein freier Mann in der ihm zugeteilten Unfreiheit. Bis vor zur Tür wagte er sich aber nie. Was ihn jedoch fernhielt, wusste er nicht genau. Vielleicht war es die Angst, dabei ertappt zu werden, Der Gefangene versucht zu fliehen!-Rufe zu hören, heranstürmende Wärter, schmerzhafte Schläge und Tritte - und danach? Etwa wieder Ketten?
Und was, so grübelte er, wenn die Tür wirklich unverschlossen oder gar bloß angelehnt wäre? Bei diesem Gedanken, die Flucht, das Überleben vor Augen zu haben, wurde ihm schlecht. Hoffnung würde das ergeben - und gerade die hat er wochenlang niedergerungen. Er war über die Hoffnung hinweg. Endgültig.
Sein Anwalt machte ihm nach dem Prozess noch Hoffnungen: Revision einreichen und alles würde nochmal gut. Selbstüberzeugt war der Mann ja und er selbst war somit auch überzeugt - Hoffnung eben, wie sie vorkommt im menschlichen Dasein. Doch er wurde enttäuscht, Revisionantrag abgeschmettert. Danach ein neuer Hoffnungsschimmer: Gnadengesuch hieß der. Abermals enttäuscht. Sein Bruder besuchte ihn mehrfach und erklärte ihm zuversichtlich, er würde einen relativ guten Bekannten aus dem Justizministerium kontaktieren - natürlich zerschlug sich auch diese Hoffnung; der Bekannte wollte nicht mehr bekannt sein. Enttäuschung, wieder Enttäuschung, beharrlich Enttäuschung - und unerfüllte Hoffnung, je und je gescheiterte Hoffnungen.
Nie waren es die Menschen, zuversichtliche Anwälte etwa, oder mit Beziehungen bekannte Brüder, die seine Moral brachen - es war die Hoffnung, die sich enthusiastisch ins Denken schlich und dann total ernüchtert abzog und verbrannte Erde hinterließ. Die Hoffnung war wie ein Generalissimus aus dem Dreißigjährigen Krieg. Sie zeigte sich ihm als rücksichtsloser Wallenstein. Erst ins Gefecht, Freudentaumel, Kraftprotzerei, mit Hakenbüchsen und Arkebusen zielsicher angelegt - danach Rückzug nach Fehlschüssen und unwirtlich gemachtes Terrain in der Seele. Von den Menschen, die ihn im Stich ließen, war er nur bedingt enttäuscht - die Hoffnung, dieses schizophrene, irrationale Gefühl war es, was ihn enttäuschte.
Wenn also die Welt ein hoffnungsloser Ort ist, dachte er sich stichhaltig, dann ist der, der noch Hoffnung in sich trägt, falsch in dieser Welt. Quasi ein hoffnungsloser Fall, würde man umgangssprachlich sagen. Sprache bildet oft die Realität nicht getreu ab; Umgangssprache verfälscht mehr als sie belichtet, ist zu vage strukturiert. So auch hier, denn genau das wollte er ja werden: ein hoffnungsloser Fall. Seelisch verträglicher ist es, als hoffnungsloser Fall durch eine hoffnungslose Welt zu stolpern. Hoffnung ist die Mutter der Dummen, weiß ein polnisches Sprichwort - einem Volk, das so viel gehofft hat und so oft enttäuscht wurde, zerrissen, aufgeteilt, überrannt, kann man solche Sentenzen nicht verübeln.
So entschloss er sich, alle Hoffnung fahren zu lassen. Er verfiel einige Tage in mönchisches Repetitio: "Ich werde sterben, ich werde sterben, ich werde sterben..." Wie ein mit Oberkörper wippender Jude an der Klagemauer, wie ein muslimisches Klageweib, wie ein katholischer Fastenmönch im Hungerwahn, wie ein Junkie im Kiff-Mantra lallte er tagelang einen Singsang vor sich her. "Ich werde hingerichtet, hingerichtet, hingerichtet..."
Siehe da: es gelang - aber ihm war klar, dass es ein zerbrechlicher Erfolg war, denn eine offene Tür würde die mühevoll erarbeitete, erlallte, sich hineinrepetierte, wiedergekäute Hoffnungslosigkeit außer Kraft setzen - es gäbe einen Rückfall, danach wahrscheinlich, nein ganz sicher, eine neuerliche Enttäuschung. Die Tür war daher für ihn unantastbar, es gab sie für ihn nur verschlossen - es gab sie gar nicht für ihn. Sie war der Zugang seiner Besucher, aber kein möglicher Ausgang des Besuchten. Er trat in jenen Tagen niemals näher als etwa drei Meter an sie heran. Schweifte sein Blick ab, sehnsüchtiges Gestiere auf diese Maueröffnung, so rief er sich umgehend zur Vernunft. Ein Drahtseilakt an Selbstdisziplin.

Die Gespräche mit dem Anstaltspsychologen boten Kurzweil. Sie waren zwar flüchtig, bruchstückhaft - denn er blieb jeweils einige Minuten. Hin und wieder setzte er sich an den Tisch, dann philosophierten sie. Sie philosophierten nicht die Philosophie großer Geister; es war die Philosophie kleiner Gefangener - passende Gedanken im passenden Umfeld. Allgemeinplätze manchmal, Freiheitsgewäsch, als ob man von Freiheit satt würde. Selbstverständlich auch Küchenpsychologie, die seltsamerweise vom Fachmann selbst kam, nicht vom Laien. Letzterer fragte nie, ob denn die Tür verschlossen sei oder nicht - er fürchtete sich vor der Antwort, egal wie diese auch ausgefallen wäre. Hätte man ihm mitgeteilt, man sei doch dieses Jahr im Jahr der offenen Tür, so wäre geradewegs die Hoffnung durch den Türstock hindurchspaziert - und hätte man ihn mit großen Augen überrascht angeschaut und gesagt, er träume wohl, es sei wie immer verschlossen, schließlich sei er doch Gefangener, so hätte es ihn nicht minder enttäuscht.
"Wie soll ich leben hier drinnen? Welchen Sinn kann ich in einer Situation erkennen, die jederzeit beendet sein kann?", fragte er so den Psychologen.
"Es liegt nur an Ihnen", antwortete der.
"Wie kann man als Akademiker - entschuldigen Sie diese persönliche Frage - an diesem Ort sein, wo Menschen gegen ihren Willen festgehalten und getötet werden?", fragte er ihn.
"Nichts geht gegen den Willen, theoretisch sind Sie frei", antwortete der - man habe doch Grundrechte, murmelte er hinzu.
Natürlich folgten auch die üblichen brauchbaren wie unbrauchbaren Ratschläge, wie man das von einem Psychologen erwarten durfte.

Der Pfarrer hingegen kam nur einmal wöchentlich. Obwohl der Gefangene nicht wollte, betete er dann mit ihm. Weltliche Gespräche waren Mangelware. Wenn sie doch stattfanden, strickte der Geistliche permanent biblische Geschichten in die Unterhaltung, sprach von Reue, von Einsicht, von der Notwendigkeit, den letzten Weg mit aller Konsequenz zu gehen, Amen.
Sein Anwalt besuchte ihn jede zweite Woche. Das schlechte Gewissen trieb ihn her, man sah es genau. Plausch. Nichts Substantielles. Rechtsfragen wurden nicht mehr erörtert. Rechtsfragen bedeuten Hoffnung und Hoffnung war nicht mehr eingeplant.
Nach weiteren Wochen in der feuchten Dunkelheit oder der dunklen Feuchtigkeit, was nicht dasselbe war, sondern je nach Gemütslage als Ausdruck in seinen Gedanken Niederschlag fand - nach weiteren Wochen fing er an, alle Menschen, mit denen er Kontakt hatte - das waren im wesentlichen die Wärter, Psychologe, Pfarrer und Anwalt, gelegentlich ein Arzt, ein Zahnarzt und ein Friseur -, mit einer Frage zu quälen: Wann endlich würde sich wohl die Hinrichtung ereignen? Denn die Warterei wurde ihm zu bunt - Umgangssprache, die unsensibel ist, die Wirklichkeit so abstrakt abbildet, dass sie unerkennbar wird. Es wurde ihm zu bunt: was für eine Phrase für jemanden, der in grauer Tracht in grauer Dunkelheit sitzt, graue Suppe schlürft, an grauem Fleisch kaut, mittlerweile ein graues Gesicht hatte, dachte er sich.
Keinen Termin zu haben, den er sich im Kalender ankreuzen konnte, keinen Horizont zu kennen, das schmerzte. Gerne hätte er wieder Hoffnung gehabt - Hoffnung auf Erlösung. So endlos in Hoffnungslosigkeit, spürte er, könne er nun auch wieder nicht leben. Das ist die Komik an dieser Welt, sagte er sich, sie ist ein hoffnungsloser Ort, aber passt man sich ihrer an, wird ein hoffnungsloser Fall, so wird man auch nicht glücklicher. Der Mensch strebt nach besten Lösungen, aber jeder Weg ist so falsch, wie er für eine Weile richtig sein kann.
Wann also? Antworten erhielt er, nie aber eine Antwort, die Antwort. Man könne das nicht wissen, noch sei weder ein Termin bekannt noch ahne man auch nur, wann er angesetzt sein könne, sagte man ihm. Alles sähe nach einem langen Prozedere aus. Er solle warten, irgendwann würde es soweit sein, das sei sicher.

Er wollte es zurück, dieses menschlichste aller Gefühle, das sich Hoffnung nennt. Sie kann schmerzen, wohl wahr - aber anfänglich ist sie Labsal, verströmt erquickliche Gefühle fast wie bei einer genüsslich stattfindenden Masturbation. Wie ein Feldherr, der erst hernach entvölkerte Landstriche und leergefressene Felder und Ställe zurückläßt, so ist die Hoffnung anfangs doch bejubelt - wie Gustav II. Adolf, der von den Protestanten beklatscht wurde, so tritt auch die Hoffnung als Retter auf. Sie erbarmt sich erst, dann macht sie erbärmlich.
Eine letzte Hoffnung auskosten, dachte er sich. Dieses kandierte Gefühl erleben. Für einige Augenblicke noch hoffen, bangen, ausmalen - nicht Realist sein, sondern hoffnungsvoll träumen. Langsame Schritte auf die Tür zugehen, weiter hoffen, weiter bangen, wahrscheinlich enttäuscht werden. Aber einige Sekunden Wonne. Das wollte er erleben. So tat er dann auch, nicht lapidar, sondern in vollem Bewusstsein, fast rituell besinnlich. Er machte ganz kleine Schritte Richtung Tür, noch kleinere, je näher er kam. Blieb einige Sekunden stehen, kontrollierte seinen Atem, der ins Stocken geriet. Durchatmen, Magengrummeln, Schmetterlinge im Bauch, weiche Knie - Metaphern wie aus einem billigen Schmalzroman. Oh Hoffnung, du zuckriges Innenleben! Das sind die Reize des Lebens, das erfrischt die Lebensgeister, dachte er sich. Aber bedenke, der Überschwang vergeht gleich, in einigen Sekunden tut es mächtig weh, gleich erleidest du zerschlagene Hoffnung - das ist der Preis wonniger Momente. Jeder Orgasmus endet in postkoitaler Tristesse.
Nach endlos langsamen Schritten stand er vor der Tür. Erste Enttäuschung: sie war nicht angelehnt, er hatte sich getäuscht. Im gegenüberliegenden Winkel flegelnd, hatte es manchmal nur so ausgesehen, als sei die Tür gar nicht richtig ins Schloss gefallen. Ein Irrtum. Der war aber auch zu erwarten, allen Ernstes, das hier war ein Verlies, ein Gefängnis! Sein Atem stolperte. Jetzt am Türknauf ziehen. Soll er? Soll er nicht? Zögerlich, regelrecht kontemplativ führte er seine Hand an den Knauf. Ließ sie kurz dort ruhen, rasten, verschnaufen. Dann umfasste er die metallene Kugel, schwächliches Ziehen. Nichts. Festeres Ziehen. Nichts... nichts von Enttäuschung! Die Hoffnung hat neue Nahrung, die Tür war tatsächlich nicht verschlossen.

Er zog sich eilig zurück, niemand schien die Aufhebung, diese zunächst mehr theoretische als praktische Aufhebung seiner Gefangenschaft gesehen zu haben. So kauerte er sich auf sein Bett, grübelte. Was tun?
Zwei Nächte überschlief und übergrübelte er die nicht abgesperrte Tür noch. Schlechter Schlaf - Denken kann oft so laut, so innerlich lärmbelästigend sein, dass man keine Ruhe findet. Zwei Nächte, dann der Entschluss: er würde es in der nächsten Nacht wagen, er würde aus diesem Verlies treten, sich umsehen, vielleicht sogar abhauen, wenn die Gelegenheit günstig ist. Ob wohl eine Wache vor der Tür steht? Er würde es heute Nacht erfahren. Vielleicht, so säuselte ihm die Hoffnung ins Ohr, würde ein Gefängnisbetrieb, der das Absperren vernachlässigt, auch Wachpersonal für entbehrlich halten. Und wer sagt denn, dass nicht alle Türen, die sich ihm bei seiner Flucht in den Weg bauen, falls überhaupt weitere Türen auf dem Weg zur Freiheit liegen, unverschlossen sind. Selbst ohne Hindernisse, wusste er, würde es nicht ganz einfach werden, den unterirdischen Trakt zu verlassen. Er war verwinkelt und dunkel, Pfeilschilder gab es keine. Für wen sollten Schilder auf denen Ausgang steht neben einen Pfeil, der nach rechts deutet, denn angebracht sein? Für flüchtende Insassen etwa?
Wichtig war, keinen Verdacht zu nähren. Besonders die alltägliche Psychologenphilosophisterei, in der er zur haltlosen Redseligkeit neigte, musste er im Auge behalten. Teilnehmender Gesprächspartner und Beobachter sein, was nicht jedermanns Sache ist. So geschah es, dass er wortkarg war in jener Stunde, was der Psychologe zur Kenntnis nahm. Er fragte nach dem Motiv dieser ungewöhnlichen Wortknappheit. Natürlich erntete er nur Ausflüchte.
"Haben Sie Sehnsucht nach der Freiheit - ist es das?", fragte der Psychologe.
"Möglich", gab sich der Gefangene knapp, aber ehrlich. Ehrlichkeit ist das beste Versteck, wusste er. So handhabte er es, wenn er einst seine Verflossene betrog, sie ihn fragte wo er war, worauf er mit dem Auge zwinkerte und meinte, er habe wahrscheinlich eben eine andere gebumst. Das war die Wahrheit, roch aber nur nach derben Humor - wer unertappt lügen will, soll nur die Wahrheit sagen.
"Würden Sie abhauen, wenn sie die Chance hätten?", fragte der Psychologe weiter.
"Ich habe keine Chance", antwortete er zögerlich.
"Und wenn die Tür nicht abgeschlossen wäre: würden Sie gehen?"
"Dann bestimmt", lachte er zur Antwort.
Diese ehrliche Lüge war auch das Ende des täglichen Besuches. Man wünschte sich einen schönen Abend und gute Nacht.

Die Nacht kam - wieder eine Ungenauigkeit, denn sie kam nicht, sie war alleweil da, es war stets nächtlich in der unverschlossenen Zelle. Der Fluchtbereite zog sich seine Jacke an. Wer nicht weiß, ob ihn der Fluchtversuch in den nächsten Minuten in Freiheit lotst, dennoch in seine Jacke schlüpft, um nachher bei der Flucht nicht zu frieren, den kann man vorausschauend nennen oder einen Optimisten. Sich bekleidender Optimismus, könnte man das nennen.
Drängend zur Tür, forsch am Knauf gezogen, leises Knacken, überstürzt nach links, nach rechts hinausgelugt. Nichts. Leere. Freie Bahn zumindest bis zur nächsten Ecke. Er bettete die Türe leise ins Schloss zurück. Geschwind nach links gerannt, geschwind ums Eck gelinst. Keine Menschenseele. Nur Dunkelheit und fast tropische Luft. Dreckige Böden, vergitterte Kellerfenster, Fensternischen mit hoch angebrachten Schießscharten, die vergittert waren. Und Ecken und Winkel, kurze Gänge, langgezogene Gänge, hin und wieder Türen, die seinen Weg säumten. Nicht als Barrieren, er eilte an ihnen nur vorbei. Türen, hinter denen vielleicht auch Gefangene hockten. Ob die wohl auch unverschlossen waren? Ein Befreierherz schlug in dieser Nacht nicht in ihm. Heute zähle nur er, wusste er. Er eilte über Flure, tastete sich um Ecken.
Niemand zu sehen. Ein verlassenes Gefängnis. Alles still. Das war seltsam, konnte ihm nicht geheuer sein, aber die Hoffnung, sie peitschte ihn an. Nicht denken, sagte der Feldherr Hoffnung, flüchte, flüchte dich ins Gefecht. Freiheitsfanfaren unterlegten die Reden der Hoffnung. Gleich wird die Treppe erscheinen, die nach draußen führt, dann noch ein kurzer Gang im Erdgeschoss, ein Tor noch, dann Freiheit. Immer wieder flammte die Skepsis auf, sickerte die Zweifel durch. Da kann doch etwas nicht stimmen! Unverschlossene Türen für einen unbewachten Todeskandidaten...
Halt deinen Mund!, schrie die Hoffnung sogleich.
Negativling!, rief sie der Skepsis zu.
Defätistenpack!, schrie sie den Zweifel an.
So strebte der von Hoffnung Getriebene weiter. Ich werde leben, dachte er sich. Ich entkomme dem Tod, werde mich verstecken, das Land verlassen, leben, frei sein. Die Hoffnung ergriff ihn, lobte ihn für diese Gedanken. Folge mir, du so lange hoffnungslos Gebliebener, jetzt mir nach; jetzt erhältst du den Stoff, aus dem ich bin; jetzt verwandelt sich deine Hoffnung in Realität.
Die Treppe, sie lag vor ihm. Kein Wächter. Pressant nach oben, der kurze Weg zum Tor, zur Freiheit, zur Sonne, wenn die Nacht vorbei ist, dann zur Sonne natürlich. Ob sie geöffnet ist?
Kann nicht sein, moserte die Skepsis.
Halt die Schnauze, rief die Hoffnung, jetzt führe ich ins Gefecht, ich bin der Wallenstein der Stunde, der von Mansfeld des Moments, der amtierende Tilly - meine Arkebusiere machen Freiheit und diesmal bleibt nicht Ödnis und verbrannte Seelenerde, diesmal gewinnen wir diese letzte Schlacht und dann ist nur noch Freude, Feier und es gibt Sold und Eierkuchen.
Er wankte, die Gespanntheit machte, dass sein Darm sind entleeren wollte, er zitterte, Kloß im Hals, anklopfender Durchfall, wie immer bei Nervosität. Hoffen... hoffentlich. Er packte den Griff, zog bestimmt daran und die Freiheit, er konnte es kaum glauben, lag wirklich vor ihm. Er stand vor dem Gebäude, vor ihm Wiese, nach einigen Metern eine Mauer, die nach rechts an einem Gebäude abschloss, aber nach links weg in der Leere endete. Er atmete tief durch, blickte nochmals um sich: kein Mensch. Endlich frei, die Hoffnung erwies sich als berechtigt. Er würde weiterleben. Doch nicht die Mutter der Dummen, dachte er sich und haderte mit polnischen Weisheiten.

Er schlich sich zur Mauer, suchte ihren Schatten, ihre Dunkelheit. Schlich sich an jenes Ende der Mauer, das abbrach, keinen Abschluss kannte. Sicher ist sicher, dachte er sich, auch wenn keiner zu sehen ist, ist Schleichen angebrachter und passt auch besser, wenn ich später stolz meine Fluchtgeschichte erzähle. Am Ende der jäh abgebrochenen Mauer lugte er um den Meter, der die Mauer dick war. Alles frei, die Straße, die sich Richtung Stadt schlängelte, die mit dem Fluß Richtung potenzielles Fluchtversteck mäanderte, sie lag frei vor ihn. So trat er auf die Straße.
"Da sind Sie ja endlich", erklang es neben ihm.
Er gaffte ertappt neben sich. Ein Pulk von Menschen schien dort zu warten. Zwei Gestalten, kukluxklanartig gewandet, hakten sich bei ihm unter. Alle waren sie da. Seine Wärter, der Psychologe, der Arzt, einige Gefängnisfunktionäre und natürlich der Pfarrer, der nun auf ihn zutrat, leise betete und Vergib ihm, Vater! murmelte.
"Schön, dass Sie nun bereit sind", erklärte der hagere Gefängnisleiter. "Wir haben Ihnen genau die Zeit gelassen, die Sie benötigten, um zur Sühne überzugehen."
"Urteil im Namen des Volkes...", rief ein Mann, vermutlich Staatsanwalt.
Man führte den Geflohenen auf ein Podest. Er ließ es geschehen. "... bis dass der Tod eintritt", hörte er. Möglich, dass er Aufschub erhalten hätte, wenn er nur gewollt hätte. Aber weiter mit der enttäuschten Hoffnung zu leben, wieder dieses Gefühl auszuhalten, bitterlich hintergangen worden zu sein, das wollte er nicht mehr ertragen. Und so ließ er es geschehen. Niemand wird gegen seinen Willen festgehalten und getötet - der Psychologe hatte recht behalten.



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Öffentlichkeit verteuern, versteuern

Donnerstag, 19. Januar 2012

Eine kurze polemische Streitschrift.

Die Apologeten des wehrhaften Gesundheitssystems fordern Fettsteuer oder Dickenabgabe - manchmal auch Zulagen für Versicherte, deren Sport es zum Beispiel ist, Blindekuh auf Dachterrassen zu spielen. Die Freunde des wehrhaften Rechtsstaates sprachen sich schon häufig dafür aus, dass man die Gewährungskriterien zur Prozesskostenhilfe umstellen sollte - nicht jeder falsche Hartz IV-Bescheid sollte richterlich begutachtet werden können, um die Kassen zu schonen.

Mit demokratischer Gesinnung hat dieser Protektionismus natürlich wenig zu tun. Er erinnert an Zeiten, da an Krankheit laborierende Volkswirtschaften mit Schutzzöllen Einfuhren erschwerten, um die Binnenkonjunktur nicht abzuwürgen. Das war, das ist (oder wäre, denn Schutzzölle werden ja mittlerweile als Verbrechen an der Freiheit verunglimpft und afrikanische Staaten, die sie noch kennen, werden zu Diktaturen erklärt) nicht übel - das ist auch ein nützliches politisches Mittel, um die Wirtschaft zu steuern. Eine Demokratie ist aber keine Volkswirtschaft. Letzteres kann in die Demokratie eintreten - mehr aber auch nicht. Doch eine aufgeklärte Demokratie benötigt geboten Schutzzölle. Aber vor wem schützen?

Platonischer Staat

"Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden […] oder die, die man heute Könige nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn dies nicht in eines zusammenfällt: die Macht in der Stadt und die Philosophie […] so wird es mit dem Elend kein Ende haben." Platon wie er leibte und lebte. Die Politeia, ein elitärer Zirkel, eine Welt, in der jeder seine feste, unverrückbare Stellung einnimmt. Platon ins Modische übersetzt: lasst die Gescheiten regieren! - oder: die mit hohem IQ sollen herrschen! Herrschen klingt dabei etwas sehr machtgeil. Herrschen ist gar nicht modisch übersetzt - heute sagt man dazu aufgehübscht regieren oder verwalten. Das klingt gezügelter, klingt nicht nach Herrschaft, auch wenn sie es dennoch ist. Sagen wir es anders, mit den Worten des fiskalisierten Steuerbürgertums: die mit hohem IQ sollen bevorzugt werden!

Wenden wir hierzu das Prinzip der antidemokratischen Wehrhaften, der Kumpanen der Fettensteuer und der Erschwerung der Prozesskostenhilfe, an, so müsste es auf eine steuerliche Mehrbelastung für Personen mit niedrigem IQ hinauslaufen. Dazu braucht es Grenzwerte. Sagen wir, ab IQ 130 oder 135 wird man steuerlich bevorzugt. Das wäre relativ großzügig bemessen, denn der durchschnittliche IQ liegt bei etwa 115 - eine Intelligenzbemessungsgrenze von 130 ist somit immer noch generöser angesetzt, als die Toleranzen bei der Geschwindigkeitsüberwachung im Straßenverkehr. Das ist auch richtig so, denn Intelligenz braucht zuweilen große Toleranzen - und der Intelligente braucht sie gegenüber denen die intelligent tun, es aber nicht sind.

Nur: was besteuern, was verteuern? Lebensmittel für Minder-IQler? Tragen die dann halbamputierte Hirnmassen-Embleme am Revers, damit Edeka und Aldi weiß, dass hier der Mehrwertsteuersatz von 7 und 19 auf 27 und 39 Prozent steigt? Eine Intelligenztransaktionssteuer für alle, deren Aktien in Sachen Klugheit im Baisse liegen? Nein, man sollte ganz einfach bloß die Öffentlichkeit besteuern. Dringt einer mit einem IQ von 110 in ein öffentliches Amt, wird öffentlich wahrgenommen, so soll er eine Abgabe bezahlen. Oder wenn so einer interviewt wird: zahlen! Dringt so einer ins Öffentlich-Rechtliche ein: blechen! RTL könnte als Freihandelszone laufen - dort darf der Minder-IQler ohne Steueraufwand schwallen - die Minderintelligenzquotiensabgabe zum Schutz der Demokratie wird dann jedoch vom Sender getragen. Sonst wäre es ja Steuerhinterziehung.

Die Verteuerung der Öffentlichkeit für Blödiane, sollte der Demokratie nur billig sein. Das ist nur die gängige Wehrhaftigkeit mit den Maßstäben, die man sonst im Sozial- und Arbeitswesen anlegt, um sich vom Pöbel abzuschotten.

Platonische Liebe

Das Konzept ist Theorie. Nicht mal humane Theorie, sondern elitärer Feuchttraum. Das waren die Träumereien um Platons Philosophenkönige immer. Die Theorie hinkt außerdem. Was denn, wenn ein Misanthrop wie Sarrazin einen IQ von 142 hätte? Oder ein Aristokrat wie Westerwelle einen von 139? Oder so ein Scripted Reality-Laienidiot mit 131 gerade noch über die Bemessungsgrenze rutscht? Denen könnte man nicht mal ihre Öffentlichkeit versteuern. Und jemand wie Gysi, der vielleicht nur 129 hätte - das ist nur eine Annahme, eine Hypothese, der Mann hat sicher mehr! -, den würden wir immer weniger öffentlich sehen. Dass Sarrazin und Westerwelle über 130 rumkrebsen ist sicherlich möglich, denn Dummheit hat manchmal einen hohen Intelligenzquotienten. Und Intelligenz hat nichts mit IQ zu tun - der IQ ist eine Möglichkeit, die sich auftut, eine Möglichkeit, die nicht genutzt werden muß. Oder falsch genutzt werden kann. IQ-Intelligente sind manchmal besonders dämlich.

Platons Staat wäre somit dringend mit dem EQ, der emotionalen Intelligenz zu verquicken. Nicht die Philosophen also sollen herrschen, sondern die mildtätigen, die fürsorglichen und verständnisvollen Philosophen - wenn es so was überhaupt gibt. Diejenigen, die eine Philosophie des Miteinanders kennen, die die praktische Intelligenz leben, könnten im Sinne einer wehrhaften Demokratie freien Zugang zur Öffentlichkeit haben, während die emotionalen Krüppel, begutachtet von Psychologen, eine Sonderabgabe leisten müssten, wenn sie vor Kameras drängen. Minder-IQler zu bestrafen wäre ohnehin unfair - niemand kann was für seine cerebrale Verfassung. Gut, Niedrig-EQler sind oft auch unschuldig, sind Produkte eines manchmal traurigen Lebens, böser Eltern und schlechter Lehrer - unschuldig sind Dicke aber häufig auch, und trotzdem würde man sie finanziell schröpfen. Und es sind ja ausgerechnet diese Prekär-EQler, die solche Forderungen stellen - warum also nicht die Geschichte umdrehen und das emotionale Monstrum sanktionieren?

Platonische Hiebe

Natürlich ist das Hirngespinst. Polemik. Ungerecht ist es ohnehin. Und nicht durchdacht, denn selbst jemand mit hohem EQ kann ein Arschloch sein - oder so hohl, dass auch warme Worte nichts mehr retten. Und die Gleichheit aller Menschen wäre aufgehoben. Aber die ist sowieso aufgehoben. Die Öffentlichkeit gehört nicht allen gleich. Und über sie funktioniert die Demokratie - theoretisch ist das jedenfalls so. Die Zeiten im globalen Wettbewerb sind rauh - borstige Typen haben da Konjunktur. Das ist das Einfallstor der emotionalen Blödheit, die in die Öffentlichkeit gerät, dort markige Sprüche abliefert und Schlagzeilen fabriziert. Manchmal intelligent genug, um das ungehobelte Benehmen hinter vornehmen Sprechblasen zu verstecken. Der niedrige EQ belagert die Öffentlichkeit und die Demokratie müsste sich eigentlich schützen, müsste sich wehren.

Die Mechanismen der Zeit sind fiskal ausgerichtet. Man stellt sich vor, dass Menschen nicht mit brachialer Gewalt passend gemacht werden, sondern mit finanziellen Engpässen. Der Fette verschlankt sich vielleicht, wenn er finanziell schlechter da steht - falls nicht, dann hat er wenigstens mehr bezahlt. Der ALG II-Leistungsberechtigte nimmt eventuell falsche Berechnungen in Kauf, wenn er mehr Geld aufwenden muß, um sein Recht zu erlangen. So geht das heute. Gewalt ist out - man steckt unpassende Charaktere nicht mehr in Zuchthäuser oder -lager, man belagert sein zu knappes Geld - und das hat immer zu knapp zu sein. Mit verknappten Bezügen statt mit nicht zu knappen Hieben gestaltet sich staatspolitische Erziehung. Und der Bevorteilte bekommt seine Vorteile nicht direkt und unmittelbar, er erhält sich indirekt, indem er anderen finanziellen Toleranzen unterliegt.

Dieses Prinzip ist krämerisch, scheindemokratisch, weil es so tut, als seien alle gleich. Werden sie doch einfach reich!, ist der dekadente Wahlspruch, gerade so, als hätte jeder die Chance, seinen Reichtum einfach mit etwas Engagement anzugehen. Man sollte die emotionale Idiotie, die uns umgibt, die in wichtige Ämter drängt, finanziell in die Enge treiben. Ein Auftritt bei Jauch kostet dann Emotionsrelevante Öffentlichkeitsabgabe - nicht zu knapp. Und diejenigen, die nicht darunter leiden, die können kostenfrei ins Fernsehen. Wehrhafte Demokratie eben - eigentlich traurig, dass keine besseren Mittel einfallen als solche. So weit ist es gekommen...



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Araber dramatisch arbeitslos

Mittwoch, 18. Januar 2012

"Iraker, Afghanen, Pakistani" in roter Alarmschrift über dem Titel - "alarmierend hohe Hartz IV-Quoten bei Ausländern". Das ergeben die letzten verfügbaren Zahlen der BfA - die sind so topaktuell auch nicht mehr, passen aber derzeit geradezu optimal ins Konzept der BILD. Neulich kotzte sich eine Göre über Ausländer- und Arbeitslosenkinder in Kreuzberg aus und nun liefert BILD Zahlenmaterial nach.

Die selbsterfüllende Prophezeiung

Nun gibt es ja zwei Lesarten. Und zwei Lesertypen. Die einen sagen: BILD hatte immer recht, es sind Iraker, Afghanen und das ganze Zeugs, die Araber halt, mit denen kein Staat zu machen ist - die Zahlen belegen es! Oder man sagt: Komisch, dass ausgerechnet Menschen mit arabischen Wurzeln (und solche, die wir für arabische Wurzeln halten) dort ganz oben stehen; es muß doch einen Grund dafür geben! Rauschebartträger im wallenden Gewand, Männer mit dunkler Haut und stierem Blick, Frauen totalverhängt - ausgerechnet die tun sich offenbar schwer damit, einen Arbeitsplatz zu finden. BILD liest man schichtübergreifend - auch Personalchefs lesen sie. Bei Namen die irgendwo ein Ibn oder dergleichen aufweisen, dürfte die Bewerbungsmappe vorschnell auf dem Stapel landen, den man mit einer vorgefertigten Absage belohnt.

Ausgerechnet das gehegte und gepflegte Feindbild ist es, das keinen Arbeitsplatz findet. Der obskure, verschlagene, brutale Araber, den man nicht über dem Weg traut - an dieser Legende hat die Redaktion der BILD kräftig mitgestrickt und nun ereifert sie sich, dass bestimmte ethnische Gruppen relativ erfolglos am Arbeitsmarkt postiert sind. Solche kann man doch nicht einstellen - ich habe es in der BILD gelesen!, könnte als Statement durchaus durchgehen.

k.u.k.-Journalisten unterschlagen Prekärbeschäftigung

Mit der herablassenden Arroganz eines k.u.k.-Beamten schreibt BILD über "Anstiege bei Serben" und "Rückgänge bei Ukrainern" - gut, herrschaftlichen Ton ist man gewohnt. Letztlich auch die Unterschlagung von anderen Zahlen, die man nicht erwähnt. Während seit 2009 bei deutschen Arbeitnehmern ein leichter Rückgang bei geringfügig entlohnter Beschäftigung zu verzeichnen ist, stieg dieselbe bei Ausländern an. Schon vor 2009, als deutsche Arbeitnehmer auch noch vermehrt in Prekärbeschäftigung schlitterten, gerieten ausländische Arbeitnehmer stärker in Prekarisierung als deutsche. Vielleicht ist das ja der statistische Beweis für den Allgemeinplatz, dass Ausländer Dreckarbeit annehmen, wo Deutsche davon Abstand nehmen.

Dies nicht zu erwähnen ist doppelt dreist. Einerseits verbirgt man so, dass Bürger ausländischer Herkunft durchaus auch Arbeit ergreifen, wenn sie mies entlohnt wird und ihre Bedürftigkeit eingrenzen - und andererseits unterschlägt man, dass viele ausländische Hartz IV-Empfänger arbeiten und nebenher mit ALG II aufstocken.

Schlagzeilen mit fadenscheinigen Zahlen

Augenfällig ist dabei, wie lapidar BILD mit Zahlen um sich wirft. Die Zahlen zu den verschiedenen Nationalitäten, die man bietet, entstammen den letzten verfügbaren Daten des Ausländerzentralregisters (31. Dezember 2010). Dort ist tatsächlich nachzulesen, dass es in Deutschland 81.272 irakische Männer und Frauen gibt. Weiter steht dort aber auch, dass 20.978 hier lebende Iraker unter 15 Jahre sind - weitere 1.347 sind älter als 65 Jahre - von den 2.326 Irakern im schwer vermittelbaren Alter zwischen 55 und 65 Jahre, gar nicht erst zu sprechen. Wieviele Menschen irakischer Herkunft in Deutschland erwerbsfähig sind oder nicht, sagt die Statistik nicht aus - immerhin kommen diese Menschen aus einer Gegend, die Diktatur war und nun Kriegs- oder Krisengebiet ist, sodass mit einem erhöhten Indikator an körperlichen und seelischen Gebrechen zu rechnen ist. Dasselbe gilt auch für Afghanen, die auch überproportional arbeitslos sind.

Erwerbsfähige Iraker gibt es nach Abzug der Jungen und der Alten: 58.947. Die von BILD präsentierte Zahl der Hartz IV-Empfänger ist insofern ebenfalls zu überarbeiten. Bedarfsgemeinschaften wären ohnehin aussagekräftiger gewesen - Hartz IV-Bezieher sind aber natürlich reißerischer. Alle 52.075 irakischen Hartz IV-Bezieher beziehen aber gar keinen ALG II-Regelsatz, sondern auch Sozialgeld, weil sie entweder noch nicht oder nicht mehr erwerbsfähig sind.

Die tatsächliche Arbeitslosigkeit dürfte auch mit geklärten Zahlen immer noch sehr hoch sein, wahrscheinlich jedoch nicht so dramatisch wie BILD das malt. Und die Gründe sind sicherlich nicht Faulheit oder Kuschelstunden in der sozialen Hängematte, sondern tatsächlich die erschwerte Vermittlung, an der auch die Presse mitgewirkt hat, indem sie die Muslime kriminalisierte.



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