Die Deutschen zwischen Kant und Schiller

Freitag, 31. Mai 2013

oder Mein Appell an den deutschromantisierenden Türken.

Sagen Sie mal, Özkök, welche Deutschen haben Sie denn besucht? Ihr "Appell an die türkischstämmigen Deutschen", den sie kürzlich in der Bildzeitung veröffentlichen ließen, läßt da Fragen offen. Sie schreiben darin, dass die Werte der Deutschen von "Goethe, Schiller, Kant, Thomas Mann und Beethoven" stammen. Reden wir von diesem Deutschland oder kennen Sie ein anderes?

Sehen Sie, ich lebe hier seitdem ich geboren wurde. Alle Menschen, die mir hier begegneten, hatten irgendwelche Werte, nach denen sie ihr Leben ausrichteten. Viele bewusst, manche ohne genaue Kenntnis davon. Die meisten beziehen sich auf irgendeinen Gott, den sie entweder von der Kirche oder von einem Guru verabreicht bekommen. Andere pflegen das Ideal des Egoismus und nutzen ihren Ellenbogen als höhere Moral. Und manche - gar nicht so wenige! - scheinen ihr Wertebild direkt aus der Rassenkunde entnommen zu haben. Auf Goethe oder Schiller, lieber Özkök, haben sich die Deutschen, die ich so kenne, kaum berufen. Neuerdings eher auf Sarrazin und Buschkowsky - Kant halten die meisten vermutlich für einen Generalsekretär der SED und Thomas Mann war doch der, der den Motor erfunden hat, oder nicht?

Was für ein romantisches Bild Sie da von Deutschland pinseln! Eines, dass das Thema Integration, denn darum geht es in ihrem Text ja, als eine Einbahnstraße begreift. In diesem Land sind Türken ermordet worden, die das waren, was sie so beredt fordern: Integriert. Das hat denen alles nichts genützt. Sie wurden nicht nur getötet, man hat sie hernach sogar noch selbst dafür verantwortlich gemacht, hat von den Döner-Ermordeten gesprochen, wie von der Mafia getötete Mafiosi.

Sie haben echt Nerven, fabulieren da was von kantischen Werten, vom Mut, sich seiner eigenen Unmündigkeit zu entledigen und so weiter und so fort, nennen das ganze dann einen Teil der deutschen Wertekultur und damit für Integrationswillige unumgänglich und erkennen das Unwesen gar nicht, das in diesem Deutschland tobt. Mit Kant hat das nichts zu tun - mit klarer Kante gegen Ausländer schon eher. Was hätten die Erschossenen der NSU besser machen können, Özkök? Und verdammt nochmal, wenn wir schon bei Kant sind: Warum hatte die deutsche Polizei nicht den Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen? Warum schrieb sich der deutsche Qualitätsjournalismus nicht Sapere aude! unter ihre Berichte von den Morden der Türken-Mafia, wie die NSU damals noch hieß?

"Alle Menschen werden Brüder", korrigierte Schiller sein Gedicht An die Freude in späterer Fassung. Beethoven komponierte Jahre danach seine 9. Sinfonie darauf. Sind das die Werte des modernen Deutschland? Ein Bekannter meinte neulich, dass die Mehrzahl der nach Deutschland kommenden Menschen aus der islamischen Welt, nutzlos und überflüssig sei. Ein anderer Bekannter stand dabei, bejahte diese Einsicht und glaubte sagen zu müssen, dass radikale Moslems keine Menschen seien. Özkök, das sind die Werte, die in diesem Land vorherrschen. Man muss kein Sympathisant der NSU sein, um so zu ticken, wie diese Mörder. Schiller und Beethoven und Kant sind Romantizismen, mit denen sich Deutschland als Kulturnation schmückt, während sich beharrlich eine Kultivierung rassistischen Gedankenguts in die bürgerliche Mitte hinein ausbreitet.

Ihre Romantik besagt auch, dass in diesem Lande alles für gelingbare Integration bereitet sei. Ihre Landsleute seien vielleicht nur nicht bereit dazu, etwas zum Gelingen beizutragen. Sie empfehlen sogar: "Werdet zu gleichwertigen Mitgliedern dieser Gesellschaft, integriert euch!" Das verrät doch einiges. Gleichwertig ist nur, wer sich so integriert, dass damit "der Deutsche" zufrieden ist? Die unbedingte Gleichheit des Menschen, Özkök, läßt sich bei Kant nachschlagen. Er hat die Sozial- und Kulturanthropologie in diesem Lande insofern bereichert, dass er zum Beispiel im Stammesleben der Naturvölker keine primitive Lebensweise, sondern eine historisch und sozio-ökonomisch bedingte Folgerichtigkeit erkannte. Es gab für ihn demnach kein ungleichwertiges Menschengeschlecht, sondern die Gleichwertigkeit aller Menschen. Und nun knüpfen Sie, der Romantiker deutscher Werte, die Gleichwertigkeit an Bedingungen - Sie wissen auch nicht so genau, was Sie eigentlich wollen, oder?

Sie richten Ihren Appell ausdrücklich als Türke an die türkischstämmigen Deutschen. Was ist das für eine Qualifikation, Türke zu sein? Ist das eine höhere Weihe? Kann der Türke mit Berechtigung die Türken in die Rolle des Spielverderbers rücken? Wenn es ein Türke sagt, muss es doch stimmen! Wie kamen Sie eigentlich dazu, den Haustürken Springers zu spielen? Soll ich mal wieder meine höheren Weihen abrufen, als Gastarbeiterkind über den deutschen Umgang mit Ausländern sprechen? Ich weiß, wie "offen" diese deutsche Gesellschaft für Menschen ist, die nicht deutsch sind.

Adorno, auch einer, der Werte vertrat, die freilich nicht so richtig in Ihre Romantik passt. Wieso führen Sie in Ihrer Riege deutscher Wertejünger eigentlich keinen Juden auf? Nicht mal Heine ist dabei. Adorno schrieb mal, dass Gedichte nach Auschwitz nicht mehr geschrieben werden könnten. Wissen Sie, Özkök, was ich behaupte und was ich als Teenager schon spürte? Folgendes: Nach Solingen ist keine Integration im Sinne von Assimiliation mehr möglich. Das ist fast auf den Tag genau zwanzig Jahre her - damals brannte in Solingen ein Haus und fünf türkische Menschen kamen ums Leben. Da gab es noch keine NSU und trotzdem war es möglich, dass man als Türke in Deutschland getötet werden konnte.

Ich war damals fünfzehn Jahre alt, ich hatte noch den Beifall aus Rostock-Lichtenhagen im Gedächtnis, als man den rechten Randalierern Solidarität zuklatschte, weil die ein Asylbewerberheim traktierten. Und all die Stimmen aus der Nachbarschaft, aus der Bekanntschaft, die zwar nicht applaudierten, aber irgendwo auch Verständnis für die jungen Leute hatten, die sich überfremdet fühlten. Mein Vater unkte, dass die Deutschen nie von ihrem Rassenwahn abgelassen hätten, das neue Großdeutschland ängstigte ihn, die Entwicklungen darin schienen ihm beizupflichten. Nach diesem Anschlag in Solingen war mir klar, dass auch ich ein Fremdkörper bin und immer bleiben will - Integration in eine Gemeinde fröhlich klatschender Totschläger sollte nach Solingen nicht mehr möglich sein.

Özkök, die Werte dieser Berliner Republik sind nicht die, die Sie irgendwelchen toten Männern in die Schuhe schieben wollen. Sie wurden auf den Straßen Rostocks und Möllns entworfen, in Solingen praktiziert, von Hetzern wie Schönhuber in emotionale Sprache gebannt und von Leuten wie Sarrazin "verwissenschaftlicht". Zwar hat die Öffentlichkeit sich gegen die NSU gestellt, aber hinter den Kulissen dieser Verurteilung tobt derselbe plumpe Rassismus, den es immer mehr oder weniger gab. Verschonen Sie mich also mit Ihrem Schwarzen Peter an die Türken in Deutschland. Sie haben überhaupt keine Ahnung, was es heißt, als Türke und Ausländer in Deutschland zu sein. So wenig wie von der Philosophie Kants und der Geisteshaltung Schillers.


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Gastarbeiter und Volksego

Donnerstag, 30. Mai 2013

Letzte Woche flatterte das Ergebnis einer Bertelsmann-Studie durch die Medien. Danach seien Zuwanderer oft besser ausgebildet als Deutsche. Das SWR-Radio fragte deshalb in einem Feature "kritisch" nach. Schon die erste Frage an eine nicht näher vorgestellte Expertin ärgerte mich.

Die Moderatorin fragte tatsächlich, ob denn das klassische Bild vom Gastarbeiter, der nur Hilfsarbeitertätigkeiten übernahm, noch gelte. Dies ist die allgemeine Legende, nicht nur beim SWR glaubt man an den südländischen HiWi, der nichts war, nichts konnte, in Deutschland als Handlanger aber eine gnädige Chance bekam.

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Nomen non est omen

Mittwoch, 29. Mai 2013

Heute: Babypause

Ein Gastbeitrag von Markus Vollack. 
"Bundesgesundheitsminister Bahr entdeckt die Familie. Nach Geburt seines ersten Kindes will er pausieren. Genau drei Wochen. Das Handy bleibe aber an, versichert der Mann."
- manager-magazin.de vom 17. Mai 2013 -
Der Begriff "Babypause" ist in den Massenmedien ein oft verwendetes Wort. Es ist ein Synonym für die Elternzeit, in der die Eltern sich intensiv um ihr neues Leben kümmern. Während "Elternzeit" jedoch wertneutraler ist, suggeriert die "Babypause" als würde Frau einen, vom Unternehmen bezahlten, Urlaub wahrnehmen. Babybilder, emotionale Reaktionen und Glückwünsche sollten nicht darüber hinweg täuschen, dass der Begriff eher negativ besetzt ist, da die "Babypause" oft als "Karriereknick" gewertet wird.

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Ich verachte ihre Meinung ...

Dienstag, 28. Mai 2013

Die brachiale Shitstorm-Mentalität des modernen Spießbürgertums treibt seltsame Blüten. Als Linker wird man da plötzlich zum Advokaten seiner politischen Gegner. So habe ich schon Christian Wulff und Jörg Kachelmann publizistisch verteidigt. Und nun auch noch Beate Zschäpe.

Eigentlich sind mir Wulff, Kachelmann und letztlich natürlich auch Zschäpe politisch völlig fremd. Ich komme aus einem anderen politischen und sozialen Milieu und kann mit deren neoliberalem oder gar rassistischem Weltbild, mit ihrem parteipolitischem Apparatschiktum gar nichts anfangen. Und trotzdem habe ich sie zuweilen schon gegen ein selbstgerechtes bürgerliches Weltbild "verteidigt", in dem sie zum Spielball billiger Affekte und inquisitorischer Haudrauf-Rhetorik wurden.

So war es also bei der Kampagne Springers gegen Wulff, bei Kachelmanns Vorverurteilung – und so ist es nun im Falle Zschäpes, die zur Bestie und zum Teufel stilisiert wird, als könne man ihre Mittäterschaft entmenschlichen; als sei die Bereitschaft zu Mord und Bombenbau, zu Hass und Amoralität nicht Teil der menschlichen, ja sogar der bürgerlichen Natur.

Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen – diesen irrtümlich Voltaire zugeschriebenen Satz würde ich nicht ganz unterschreiben. Denn mein Leben gäbe ich nicht. Und nicht alles was nach Meinung aussieht, muss ja Meinung sein. Ich bin nicht dafür, dass Zschäpe ihre "Meinung"verbreiten sollte. Aber meine auf Gerechtigkeitsgefühl und Maßhaltung bauende Publizität möchte schon, dass allenfalls liberale Ideale wie zum Beispiel nüchterne Unaufgeregtheit der Justiz, Verständnis für Entwicklungen oder analytische Sachlichkeit eingehalten werden. Ich verachte also ihre Meinung, aber ich bediene meine Tastatur dafür, dass diese Verachtung anständig und nicht zu emotional, zu totalitär geschieht, wie es das Klatschpressen-Spießbürgertum zuweilen liebt.

Mindestens so gefährlich wie Korruption, Sexismus oder Rassismus ist dieses Spießbürgertum, das sich im Anflug von political correctness aufschwingt, all diese liberalen Werte auszuhöhlen. Sie sind die Essenz einer Gesellschaft der Entrechlichung und der Marginalisierung. Sie rufen unreflektierte Shitstorms ins Leben, empören sich, ohne sich vorher eingehend darüber Gedanken gemacht zu haben. Sie sind vollgepumpt mit ihnen verabreichten Emotionen und bauen darauf ihr Rechtsempfinden auf. Eines ohne Maß und Ziel, ein selbstgerechtes Empfinden, das Arroganz von Angeklagten anmahnt oder die zur Hatz auf Sexualstraftäter aufruft.

Man muss ja keine geistig-moralische Nähe zur Zschäpe haben, um die Berichterstattung und die daraus entstehende empörte Öffentlichkeit als überzogen, als diabolisierend zu kritisieren, sich letztlich zu ihrem advocatus diaboli zu machen. Das totalitäre Weltbild der bürgerlichen Mitte und der bürgerlichen Medien, die sich ordentlich boulevardisiert haben in den letzten Jahren, ist mindestens genauso, wenn nicht sogar gefährlicher als jene Typen, die ich schon mal verteidigte. Denn wer, wenn nicht diese "anständigen Leute aus der Mitte", sind die Basis einer Gesellschaft, in der rechtsstaatliche Prämissen immer mehr als störend empfunden werden, in der der Beweis die Schuld ausmacht und nicht das dumpfe Gefühl in der Magengegend eines Spießbürgers?

Im Kachelmann-Prozess hatte die Öffentlichkeit die Unschuldsvermutung aufgegeben und nichts dabei befunden. Es galt als chic und juristisch nicht fahrlässig, ihn ohne konkreten Beweis als Vergewaltiger zu diffamieren. Mir ist der Mann nicht sympathisch gewesen, hatte er doch auch mal eine Weile Propaganda für die Neue Soziale Marktwirtschaft gemacht und für Deregulierung des Arbeitsmarktes geschwärmt – aber ich habe ein Faible für den aufgeklärten und unaufgeregten Rechtsstaat. Ebenso hegte ich nie besondere Sympathie für die potenziellen Sexualstraftäter, die Frau Guttenberg jagte. Aber zur Straftat aufzufordern, wie es in ihrer damaligen Show auf RTL II geschah, ist nun mal nicht rechtsstaatlich.

Der Totalitarismus des Spießbürgertums kennt da keine rechtsstaatliche Korrektheit. Er ist es, der mir manchmal gesellschaftszersetzender scheint, als alle Rassisten, Sexualstraftäter oder Terroristen zusammengenommen, denn er legt den Grundstein für diese "ganz großen Verbrechen". Und er gibt sich den Anstrich ethischer Unantastbarkeit. Er will ja nur das Gute, dafür kann man auch mal ein Auge zudrücken. Und er glaubt zudem, dass bestimmte rechtsstaatliche Normen nichts als gutmenschliches Talmi sind. Ich denke da an Til Schweiger, wie er einst Sexualstraftätern die Menschenrechte aberkannt sehen wollte und Zuspruch bekam.

Und ich muss mich indes ärgern, weil ich zunehmend Gestalten „in Schutz“ nehmen muss, die ich gar nicht in Schutz nehmen will. Dummes Gerechtigkeitsgefühl, das mich ins Spiel des divide et impera einstimmen läßt ...


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Ein langweiliges Opportunistenleben

Montag, 27. Mai 2013

Quelle: Piper
oder Der ideologisch aufgeladene Ingrimm zweier Konservativer.

Obgleich beide Autoren eng mit der Axel Springer AG verbandelt sind, ist Das erste Leben der Angela M. ein lesbares, weil durchaus informatives Buch. Denn es ist mehr als ein Buch nur über Merkel - auch, weil diese Frau bis 1990 kaum etwas hergab, worüber es sich zu berichten lohnte. Das ist zugleich auch eine der Schwächen dieser DDR-Biographie der Kanzlerin. Die auf Sensation getrimmte Berichterstattung rund ums Buch ist mit dem Inhalt kaum vereinbar. Weder ist Merkels "erstes Leben" besonders spannend, noch ist sie dort, obgleich sie vielleicht durchaus linientreu war, nachdrücklich aufgefallen. Und nebenher wird nichts aufgedeckt, was nicht ohnehin schon mehr oder weniger bekannt war.

Angela was there

Opportunisten haben nur selten interessante Lebensläufe. Sie taugen wenig zum Buch. So ist es auch in diesem Fall. Denn Merkels DDR-Vorleben besteht aus einer Aneinanderkettung von stillen Anwesenheiten. Angela nahm den Mauerbau wahr, war in der FDJ - ohne aufzufallen! -, pflegte Nähe zum linientreuen Flügel der evangelischen Kirche - ohne aufzufallen! -, machte Moskau-Reisen - aber keiner erinnert sich richtig an sie! -, ging später in den Demokratischen Aufbruch - schwieg auch dort! -, wurde die rechte Hand de Maizières - ohne Positionen zu beziehen! Angela was there - aber wie, warum und mit welchen Absichten, was sie einbrachte an Inhalten, das wissen auch Reuth und Lachmann nicht zu berichten.

Würden die Autoren nicht so nebenbei allerlei Zeitgeschichtliches jener Jahre einflechten, das Mädchen Angela stemmte die knapp 290 Seiten niemals. Dieser Frau aber scheinbar einen Strick aus ihrem DDR-Leben drehen zu wollen, mag wahrscheinlich PR sein. Falls nicht, ist es dümmliche Ideologie. Welche Vorwurf will man ihr denn machen? Als DDR-Bürgerin in der DDR gelebt zu haben?

Die Gleichsetzung als dramaturgischer Kniff

Die künstlich gestellte Diabolisierung der jungen Merkel geschieht im Buch manchmal recht plump. Sie soll vermutlich auch die jetzige Merkel aufhübschen. Das ist der Eiertanz, auf den sich Reuth und Lachmann spezialisiert haben. Die stille, politisch inaktive, an eine sozialere Welt glaubende Kommunistin, die Merkel gewesen sein soll, machen sie herunter, finden sie unerträglich. Die weltpolitische, Spardiktate verordnende, der an die neoliberalen Marktwirtschaft glaubenden Kanzlerin machen sie jedoch nur zögerliche Vorwürfe.

Konstant sprechen Reuth und Lachmann von der zweiten Diktatur auf deutschen Boden. Sie setzen damit die DDR mit Hitler-Deutschland gleich, machen sie zu einer Art geistigen Nachfolger des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Dieser zweiten deutschen Diktatur diente die junge Merkel, mokieren sie sich gerade so, als hätte sie im Namen der DDR Todesurteile ausgestellt. Dergleichen haben seinerzeit andere bundesrepublikanische Demokraten in ihrem Vorleben getan. Das ist überhaupt der wesentliche Unterschied, denn DDR-Vorleben können zwar mit Aushorchen und IM-Einträgen gefüllt sein, eher selten jedoch mit Erschießungen oder Deportationen, wie das in "der ersten deutschen Diktatur" der Fall war. Zwar kann man der DDR vorwerfen, dass sie teilweise ein sehr autoritärer Staat war, sich im spießigen Mief seniler Tattergreisphantasien verschanzte, aber mit dem Deutschland unter Hitler ist sie nicht vergleichbar. Man kann zwar der Hitlerjugend und der FDJ einen Hang zur Uniformierung nachsagen - aber was heißt das schon? Welches Weltbild in den Uniformen steckte, wäre die Frage der Fragen, die aber beide Autoren nicht stellen.

Reuth und Lachmann benötigen diese Gleichsetzung von DDR und Drittem Reich, um die Dramaturgie der umgestülpten Merkel spannender karikieren zu können. Es ist ein ideologisch fundamentierter Kniff, um diese personifizierte Randnotiz der DDR, die Merkel ja war, zum ganzen Kapitel jenes Landes umzuschreiben.

Enttäuschte Konservative

Reuth und Lachmann attestieren Merkel natürlich, dass sie in der Bundesrepublik angekommen sei. Sie wechselte schnell ins kapitalistische Lager hinüber, wie das für Opportunisten üblich ist. Auf den letzten Seiten kommt die Verbitterung der beiden Autoren zur Sprache. Merkels politischer Inhalt sei immer Macht gewesen. Sie hätte keine Positionen, gehe immer den leichten Karriereweg, lasse Köpfe rollen, um ihren zu behalten. In der CDU habe sie mit dieser Methode konservative Elemente ausradiert. Das "System Merkel" habe die Sachauseinandersetzung verkümmern lassen, konservative Weltanschauung gäbe es nur noch als leere corporate identity. Sie zitieren den Historiker Michael Stürmer, der mal schrieb, dass unter Merkel Traditionsbestandteile des Konservatismus schwinden. "Die Wehrpflicht wurde suspendiert, das dreigliedrige Schulsystem aufgegeben, die Kernenergie verdammt [...] Änderungen im Familienrecht normieren eine neue Wirklichkeit" - das mag viel über Merkels Opportunismus verraten, über die Enttäuschung der Autoren sagt es jedoch nicht weniger aus.

Es ist die Wut darüber, dass da der Opportunismus gute alte konservative Werte aufgerollt hat. Dass Atomenergie keine Option mehr sein darf, nicht weil Merkel von sauberer Energie überzeugt wäre, sondern weil sie so ihre Macht festigen konnte. Merkel unterliegt dem Sturm des Zeitgeistes, wenn sie nun die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt - wo bleibt da die gute alte Scheidung zwischen Normalen und Homos? Alles der Machtgeilheit dieser Frau geopfert, die die Mauertoten befürwortete und das Gelbe Elend rechtfertigte? Der Konservatismus als Opfer eine wendehalsigen Kommunistin? Das tut freilich manchem in seiner Kalten Krieger-Ideologie weh.

Die Masche mit dem jetzt trockenen Ex-Säufer

Natürlich ist die Kritik an Merkel nicht mutig und auch nicht konsequent. Irgendwie merkt man den Autoren an, dass sie Merkel als das kleinste Übel ansehen. Käme da ein konservativer Hardliner, der Chancen bei der Wählerschaft hätte, würden sie Merkel gerne abschießen. Aber lieber eine opportunistische und karrieristische Konservative, als gar nichts Konservatives an der Macht, mögen sie sich denken.

Die Bildzeitung berichtete tatsächlich auch von diesem Buch. Ganz gegen ihre Linie. War das Abkehr vom Merkelismus? Der Verrat? Nein, diese Zeitung las mal wieder das, was sie lesen wollte. Filterte das Buch so, dass etwas "Nützliches" dabei herauskommt. Merkel wurde von ihr als Frau gezeichnet, die ihr erstes Leben aufgegeben habe, wo andere noch mittendrin stecken. Sie hätte nun ihr zweites Leben - und die Gysis, die können einfach nicht loslassen. Sie reichte ihren Lesern Jugendbilder, befand sie für ein sympathisches Mädchen, das später eine lernbegabte junge Frau wurde und endlich in der Realität, die aus Sachzwängen besteht, angekommen war.

Die von Reuth und Lachmann erzeugte Skandalisierung dieses DDR-Lebens wurde von der Bildzeitung umgedeutet. Für sie war sie nicht Opportunistin, sondern einfach nur vernünftig, einsichtig und klug genug, die Zeichen der Zeit zu deuten. Das ist die beliebte Masche mit dem Ex-Säufer. Also eine Art rührselige Geschichte, die von jugendlichen Irrwegen erzählt, die dann aber im Guten und Wahren enden. Das lieben Leser, die in dieser Postdemokratie ja auch parallel Wähler sein dürfen. Früher gesoffen, heute trocken und erfolgreich - früher Kommunist, heute im Kapitalismus angelangt. Da wird publizistisch unterstrichen: Bedenke, sie ist auch nur ein Mensch! - und: Es irrt der Mensch solang er strebt, bis dass er sich zum Kanzler hebt! Eine Manipulation nach Happy End-Art. Dank Reuth und Lachmann wissen Bild-Leser nun: Sie ist halt doch nur ein Mensch ...

"Das erste Leben der Angela M." von Ralf Georg Reuth und Günther Lachmann erschien beim Piper Verlag.


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Von der Riesterrente lernen, heißt Rauchmelder werden

Freitag, 24. Mai 2013

Wer heute seinen Scheiß unter die Leute bringen will, der gilt als altmodisch wenn er sagt Greifen Sie zu! oder Kaufen Sie hiervon! Wer was auf sich hält, der plant eine Verkaufsstrategie im großen Stil, der sorgt für softe Hysterie - oder für rabiate! -, macht Angst, bietet aber eine Lösung an - eben den Scheiß, den man loskriegen will! -, engagiert sich Lobbyisten, die Expertisen erfinden und dafür sorgen, dass die Inanspruchnahme der Lösung zur Pflicht wird und verdient sich dann mittels dieser staatlichen Hilfestellung ein nettes Sümmchen. Freie Marktwirtschaft nennt sich das dann.

So hat es die Versicherungsindustrie gemacht, als sie ihre Finanzprodukte besser in Stellung bringen wollte und die private Rentenversicherung mit allen möglichen Studien für unumgänglich erklärte. So haben es die Rauchmelder zur verpflichtenden Einrichtung in Wohnräumen geschafft. Nach langem Buhlen um die öffentliche Aufmerksamkeit, nachdem man prominente Werbeträger verschlissen und selbst bei Der Sendung mit der Maus Beiträge eingestellt hatte, kommt der Rauchmelder flächendeckend. Ein Szenario wurde dabei errichtet, moralischer Druck erzeugt, wonach es für jeden vernünftigen Menschen gar keine andere Alternative geben kann als ein Ja für den Rauchmelder. Mit Emotion oder hochvernünftig tuender Repititio ködert man die hysterische, die sicherheitsfanatisierte Gesellschaft stets.

Was für ein Dilettant ich bin! Greifen Sie zu! und Kaufen Sie hiervon! war stets meine Masche, wenn ich auf meine Bücher aufmerksam machte. Würde mich freuen, wenn Sie es täten! Doch so verkauft man nichts. Man braucht ein Szenario, macht braucht die Hysterie, einen MdB-Lobbyisten auf Diätenbasis, einige bekannte Gesichter und viel emotionalen Schmalz und einige Furchtimpulse. Wer sein Zeug loskriegen will, der braucht eine gesetzliche Grundlage, um sich stete Kundschaft zu sichern, der benötigt Kunden, die Kunden sind, weil sie es gesetzlich sein müssen. Kauft Unzugehörig! oder Kauft Auf die faule Haut! ist sinnlos - ich bräuchte eine Verkaufsstrategie, die bei der allgemeinen Überspanntheit ansetzt und als Lösung meine Bücher oder ad sinistram oder ganz generell die Branche linker Blogs anbietet. Welche Prominenten würden gegen Bezahlung für die Notwendigkeit von Feynsinn werben? Ich stelle es mir sonderbar vor, wenn da plötzlich Mutter Beimer gedankenschwanger in die Kamera starrte und verkündete: Helfen Sie Leben retten, lesen Sie Telepolis! Wieviel kostet eigentlich so ein Werbespot, der zum Beispiel auf Klaus Baum verweist? Ob sich wohl ein Abgeordneter finden läßt, der eine Gesetzesvorlage zur linken Pflichtlektüre durchpaukt, der für Die roten Schuhe oder Burks' Blog einen endlosen Strom immer neuer Zugriffszahlen sichert?

Wir sind doch alle Dilettanten, Leute! Wir haben nie gelernt das große Spiel zu spielen. Wir kleckern, wo die anderen klotzen. Wir klauben die Brosamen auf, die andere unmerklich über den Boden verteilen. Heute braucht man Verfahren, die Märkte per Gesetz erschließen. Es muss ein Ruck durch die linke Schreibe gehen. Wir müssen wie die Riesterrente zur quasi Pflicht oder besser noch, wie ein Rauchmelder zur wirklichen Verpflichtung werden. Von den Reformern der Riesterrente lernen heißt siegen lernen, heißt Kundschaft sichern, heißt expandieren, heißt zukünftig, auch mit Schrottelaboraten sein Auskommen finden.

Wir linken, vernetzen uns, setzen Querverbindungen und hinterlassen unsere Marken. Alles klingt dabei immer wie Kommt zu mir! oder Schauense rein, lesense was! Wie so ein Kaufmann aus längst vergangenen Zeiten. So macht man das nicht mehr. Wir brauchen einen PR-Apparat, der den Anschein von Druck und Not generiert, der uns zum Produkt der Erleichterung, zur Ware macht, die Linderung bringt. Bis man uns verordnet, auf Rezept bekommen kann, bis unser Nicht-gelesen-werden eine Ordnungswidrigkeit ist. Heute bringt man seinen Scheiß mit Sie kommen zu mir, sie haben keine Wahl! oder Sie werden gefälligst zu mir reinschauen, ob Se wollen oder nich! unters Volk. Das nennt sich dann Wettbewerb.

Wer mag, darf ad sinistram natürlich unterstützen - bis die ad sinistram-Pflicht kommt als Alternative quasi. Sage noch einer, ich würde dem Mantra der Alternativlosigkeit huldigen! Das geht entweder via Paypal (siehe rechte Seitenleiste) oder über den gewöhnlichen Bankweg. Meine Kontodaten teile ich auf Nachfrage mit. Und wer noch keines hat, kann auch gerne eines meiner bislang zwei Bücher bestellen. Gedankt sei zudem all jenen, die mich immer wieder unterstützen.


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Der Kollateralschaden allgemeiner Herzlosigkeit

Donnerstag, 23. Mai 2013

Im ARD-Film "Mobbing" spielt Tobias Moretti ein Opfer jener menschenverachtenden Praxis. Was der verknappten Darstellung allerdings fehlt: Die Konfrontation als nervlich angeschlagener Ex-Arbeitnehmer mit den Behörden. Die sorgen gemeinhin für den nächsten depressiven Schub.

Als Mittzwanziger geriet ich nach einer betriebsbedingten Kündigung fast übergangslos an eine neue Arbeitsstelle. Ich sollte mich als Schlosser in einer mechanischen Werkstatt verdingen – dort hielt ich es aber dann keine sechs Monate aus, der Arbeitgeber zog die Reißleine, entließ mich in der Probezeit. Davor glich der Arbeitsalltag dem, was neulich im ARD-Film "Mobbing" zu sehen war.

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Hier können Familien Kaffee kochen

Mittwoch, 22. Mai 2013

Morgen wäre die Sozialdemokratie 150 Jahre alt geworden.

Sie wurde als synthetische Idee zwischen Revolutionsgeist und Stillstand geboren. Den Marsch durch die Institutionen ging sie schon Jahrzehnte vor denen an, die Ende der Sechzigerjahre diese Parole aufbrachten. Böse Zungen behaupten, sie seien in den Institutionen hängengeblieben, wie später die Grünen - und wenn man so in die Geschichtsbücher blickt, an Kriegskredite, an Noske denkt, dann mag man dem beipflichten. Dennoch war die Sozialdemokratie lange Jahre eine Alternative im Kapitalismus, war es der Überbegriff für die, die es etwas besser, etwas aufgeklärter, etwas menschlicher machen wollten. 150 Jahre alt wäre diese kleine Alternative morgen geworden.

Es war eine Existenz in trial and error. Mancherlei hat sie aber bewirkt. Selbst in der Bundesrepublik, als sie ihren ursprüngliche Konstitution schon durch ein Bekenntnis zum Kapitalismus ersetzt hatte. In späten Jahren näherte sie sich einer ökonomischen Vorstellung an, die zum vollendeten Verrat an den eigenen Idealen geriet. Solchen Verrat hat man der Sozialdemokratie schon zeit ihres Lebens vorgeworfen. Erst taten das die Kommunisten, dann die Pazifisten, später die Antifaschisten und letztlich die Kapitalismuskritiker - immer befand jemand die Sozialdemokratie für nicht radikal genug, für nicht ausreichend mutig, um Stellung zu beziehen. Mit der Neuorientierung an New Labour, mit einer Sozialpolitik, die sich nicht nach den Bedürfnissen der Menschen richtete, sondern nach dem Finanzierungswillen des Kapitals, hatte sie altersstarrsinnig den letzten Verrat geübt.

An der Agenda 2010 erkrankte sie unheilbar. Sie taumelte, redete wirr, verleugnete das Siechtum noch einige Zeit und legte sich nieder, um nie wieder aufzustehen. Als vor einigen Wochen Ottmar Schreiner starb, las man allerorten, dass er der letzte Sozialdemokrat gewesen sei. Da war die Sozialdemokratie selbst aber schon einige Jahre tot. Gegen Ende der Veranstaltung erklärte man noch blenderisch, man reformiere nun den ganzen Zinnober, löse die Lebenslügen des linken Flügels auf, rette die Sozialdemokratie in eine neue Zeit hinüber. Krankheit als Chance. Jeder der schon mal einen Patienten begleitet hat, kennt diese irrationalen Erklärungsmuster, die dem Schlechten noch was Gutes abgewinnen wollen. Die Genossen taten dies auch.

Die SPD wäre 150 Jahre alt geworden - und die Schrift "Unser Weg zur sozialistischen Großuniversität - Gedanken zur Verwirklichung der Hochschulreform an der Karl-Marx-Universität" jährt sich am selben Tag. Vor 45 Jahren wurde sie veröffentlicht. Zwei Jubiläen, aber eine rote Linie. "Hauptaufgabe der Lehre ist die Aus- und Weiterbildung von wissenschaftlichen Fachkräften und leitenden Kadern für die Praxis", liest man dort. Bis hierher klingt es nach Reformstreben heutiger Machart, nach Bachelor- und Masterforderungen, wie sie auch die Sozialdemokratie favorisiert. Doch weiter heißt es da, dass sie sich als Fachleute bewähren sollen, "die in der Lage sind, gesellschaftliche Prozesse zu führen, und die über ein hohes kulturelles Niveau verfügen." Darüber sind wir heute hinweg, kulturelles Niveau ist nicht das Thema in einer Republik der gezielten Verfachidiotierung.

Ist heute noch eine Sozialdemokratie denkbar, die wie damals in der DDR einen Bildungssektor nach humanistischen Idealen fordert? Oder ist, weil alles so falsch zu sein hat, was in der DDR war, keinerlei soziale Politik, keinerlei Ausgleich mehr zu erwarten? Auch am Umgang mit dem geistigen Erbe der DDR zerbrach die Sozialdemokratie, ihre lavierende Haltung zwischen Pflichtgehorsam gegenüber der Marktwirtschaft und Diabolisierung staatlicher Eingriffe hat sie krank werden lassen, hat ihr endgültig alles Linke ausgetrieben.

Es gibt noch etwas, das sich mit dem Schriftzug SPD schmückt. Vaterlandsvolle Gesellen, Bossegenossen, Salon-Sozis, die sich um Tempolimits auf Autobahnen streiten und die ihre Pflichten vor Gott und Merkel so ernst nehmen, dass dabei jegliche absichtsvolle Opposition eingestellt wird. Ein Brauchtumsverein, der keine Vorstellung mehr von einer besseren Welt hegt, keinen Plan zur Umsetzung mehr sozialer Gerechtigkeit kennt. Tucholsky meinte mal, dass sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands einen anderen Namen geben sollte. "... Reformistische Partei oder Partei des kleinen Übels oder "Hier können Familien Kaffee kochen" oder so etwas. [...] So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen". Die großen Fragen finden nicht mehr statt, es geht um die Organisierung des Kapitals und des modernen Merkantilismus, also um die Bedienung des Exportüberschusses bis in alle Ewigkeit - und es geht zudem um allerlei Nichtigkeiten, ums Kaffeekochen halt. Um den Popanz von sozialer Gemütlichkeit, um für Plakate auf Hochglanz polierte Suggestionen von gedeckten Kaffeetischen, an die dieser Brauchtumsverein alle einlädt. Kaffee muss man sich dorthin aber selbst mitbringen.

Wenn sie jetzt die Sozialdemokratie feiern, dann ist das wie das Einkleiden eines Leichnams, den man überdies auch noch an einer gedeckte Kaffeetafel platziert. Und man kommt einer Toten zu gratulieren. Sie ist ein ausgehöhlter Kadaver. Die Feierlichkeiten dieser Tage sind nicht weniger als Leichenschändung. Der Name existiert noch, man hat ihn als Relikt übernommen, er ist in den Sprachgebrauch übergegangen und war halt schon so hübsch auf die Briefköpfe des Vereins gedruckt. Warum also ersetzen? So wie man Liberale sagt, aber Wirtschaftsdiktat meint; so wie mancher Atheist immer noch Mein Gott! sagt, es aber gar nicht wortgetreu meint, so gibt es auch heute noch eine SPD, die nicht meint, was sie namentlich sagt. Diese Jubiläumsakte sind Nachrufe, die geschickt verhüllt, die als Aufbruchstimmung und gute Laune gestaltet sind. Fröhlicher wurde selten an einem Grab gestanden.


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De auditu

Dienstag, 21. Mai 2013

In allerlei Nachrichtenformaten heißt es immer öfter, Spanier oder Griechen gingen gegen ihre Regierung auf die Straße. Nicht gegen die Regierung, nein, gegen ihre Regierung. Dabei ist genau diese Einschätzung falsch. Sie gehen auf die Straße, weil es nicht ihre Regierung ist. Sie ist die Regierung der Sachzwänge, der Troika, der Europäischen Union, Merkels und des neoliberalen Gesellschafts- und Kontinentalentwurfes.

Dieses "gegen ihre Regierung" schiebt Verantwortlichkeiten ab. Nicht das Spardiktat aus der Schule neoliberaler Ökonomie treibt folglich die Menschen in diesen Ländern auf die Straße. Es ist die Regierung dieser Menschen, die dafür verantwortlich ist. Das ist sie aber nur als letztes Glied einer Kette. Wie die Regierungen dieser Länder zu verfahren haben, entscheiden nicht Ministerien oder Parlamente, sondern die Sparkommissare und Geldgeber, die Banken und übernationalen Organisationen. Das Possessivpronomen, das man vor die Regierung schiebt, soll aber anzeigen, dass all diese grauen Eminenzen gar nichts damit zu tun haben. Es sind "ihre Regierungen", die verantwortlich sind - und es sind damit die Bürger dieser Länder selbst, die sich ihre Regierung ja frei gewählt haben.

Famoses Abwiegeln, Schuldverlagerungen per Analyse - das braucht es nicht. Es reicht, den Menschen auf Südeuropas Straßen eine Regierung anzudichten, die sie aber gar nicht haben wollen. Die Verantwortung abzuschütteln gelingt heute eben in perfider Manier. Ein besitzanzeigendes Fürwort angeschraubt und schon wird aus dem neoliberalen Zugriff auf Europa eine Regierungskrise, ein nationales Problem, eine interne Angelegenheit der jeweiligen Nationen. Hinter dieser kleinen Änderung im Satzbau verbirgt sich der gesamte Komplex der "Euro-Rettung". Verbirgt sich die Wahrheit hinter der Fassade von Demokratie, die man einigen weisungsgebundenen Marionettenregierungen zur Verwaltung in die Hand gedrückt hat, damit die per Schock-Therapie privatisieren und deregulieren.


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Sie ist ja eigentlich ganz nett

Samstag, 18. Mai 2013

Die Bildzeitung bringt Jugendbilder der Kanzlerin. Bei RTL sitzt sie vor eine Gruppe von Frauen, beantwortet Fragen zu Männern und Haushalt. Doch bei der Berichterstattung aus Merkels „unbekannten DDR-Leben“ geht es um mehr als unpolitische Menschelei der Klatschpresse.

Unlängst berichtete das Morgenmagazin im ZDF von - so der Originalton! - "Mutti Merkel" und ihren Lieblingsfilm "Paul und Paula". Den sah sie sich mit ausgewählten Publikum an, schwelgte in Erinnerungen. Merkel fühlte sich dabei sichtlich wohl, wusste die Stimme aus dem Off.

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Die Unmöglichkeit reinen Lebens

Freitag, 17. Mai 2013

oder Wer atmen will, macht sich schuldig.

"Muss der Handelnde schuldig werden, immer und immer? Oder, wenn er nicht schuldig werden will, untergehen?", fragt Monika Maron in Stille Zeile Sechs und bezieht sich auf Ernst Toller, den politischen Schriftsteller und einer der führenden Köpfe der Münchner Räterepublik, dessen leitmotivische Frage dies gewesen sei. Tollers Thema war für viele Jahre die Diskrepanz zwischen dem was sein soll und dem was wird, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Ideal und dem Zwang, im irdischen Sachzwang zu leben. In einen Brief an Stefan Zweig schreibt Toller, dass "das Absolut-Gute, das Paradies auf Erden" kein Gesellschaftssystem schaffen wird, "... es handelt sich einzig darum, für das relativ beste, das der Mensch finden und verwirklichen kann, zu kämpfen".

Wer nicht untergehen will, der macht sich schuldig. Philosophisch gesehen ist Existenz auch immer Schuldkomplex. Wir Lebenden sind beständige Schuldner an anderen. Dass Überleben dort, wo andere nicht überlebten, Schuldfragen aufwirft, wissen wir spätestens seit Auschwitz. Doch nicht erst Überleben führt dort hin, schon das Dasein ohne unmittelbarer Gefährdung schafft Schuld. Das ist Teil menschlicher Konditionierung, das ist ontologische Prämisse. Und das systemübergreifend. In einem System wie diesem aber, in dem man zwar alles über Arbeit definiert, in dem aber Arbeitskraft wenig wert ist, weil sie möglichst billig zu haben sein soll, gibt es keine Nischen mehr, in der man sich Schuldfreiheit auch nur einbilden könnte. Die Existenz darin bedeutet immer und überall schwerste Schuld. Ausflüchte gibt es kaum. Und gerade die politische Linke, die die systematische Schuldfrage stellt, kommt hier ins Straucheln, weil deren Protagonisten ja auch existieren wollen und sich damit selbst schuldig machen müssen.

Das fängt bei Amazon an, geht über den Fleischkauf im Supermarkt oder Discounter, bis hin zur Inanspruchnahme unterbezahlter Minijobber, die uns im Lokal, als Boten an der Haustüre oder am Krankenbett begegnen. Wir schlucken Medizin, die in der Dritten Welt erprobt werden und die dort kaum vertrieben wird. Unsere Existenz ist Schuld. Sie ist es in diesem System bedeutungsvoll - und sie wäre in jedem anderem auch vorhanden, vielleicht nur anders gewichtet, etwas weniger ausgeprägt oder geschickter getarnt.

Besonders intelligente Zeitgenossen empfehlen hier strategische Konsumentscheidungen. Wer so beratschlägt hat entweder Geld oder Scheuklappen angelegt. Gezielte Entscheidungen beim Konsum setzt voraus, dass man sich jeden Preis leisten kann. Mal ganz abgesehen davon, dass selbst der gezielte Kauf nicht vor Schuld schützt. Wer sagt denn, dass das teurere Produkt nicht auch von Leiharbeitern oder Näherinnen in Bangladesch gefertigt wurde? Und diejenigen, die die Askese als Mittel der Entschuldung anführen, sind nicht viel besser. Wenn das der Fortschritt der Menschheit sein soll, aus Gründen der Moral nicht mehr die technologischen Errungenschaften zu benutzen, wieder zurück auf die Krume geworfen zu werden - na dann vielen Dank auch und MfG von Polpot. Armut als Ausweg? Natürlich sagen die, dass Armut der eigentliche Reichtum sei. Hier gleichen sie der neoliberalen Seelsorgerindustrie, die Armut und Arbeitslosigkeit ja immer auch als Chancen verkaufen. Ideologisch gefärbte Menschen gleichen sich manchmal frappierend.

Diese "Ohnmacht des Geistes" gegenüber der "Übermacht des Faktischen" (Toller) ist freilich kein Freifahrtschein, wie ihn die moderne Sozialdemokratie, das Konzept des New Labour, für sich in Anspruch nimmt. Hartz IV ist nicht der beste aller möglichen Sozialstaaten. Tollers Motiv vom Scheitern des Handelnden beinhaltet nicht, dass man das Scheitern daher schon vorher programmatisch betreibt. Er glaubte an das Scheitern einer Revolution, die etwas Gutes bezwecken will, zwangsläufig aber auch das Schlechte hervorkehrt. An Toller selbst ist diese Zerrissenheit exemplarisch geworden. Er, der Pazifist, wurde in der Räterepublik Bayerns zum Kommandanten der Roten Armee bestimmt. Diese fehlende Vermittlung zwischen Ideal und Wirklichkeit war bei ihm mit Resignation erfüllt. Wenn er fragt, wie sich ein "Revolutionär mit seinem Anspruch auf Sittlichkeit gegen die Revolution mit ihrer Eigengesetzlichkeit der Gewalt" behaupten kann, dann meint er das ernüchtert, dann wirkt das ratlos, als hätte er resigniert. Die marktradikalen Konzepte von New Labour, der neuen institutionellen "Linken" sind aber nicht Ausgeburten eines resignativen Charakters, sondern das Blendwerk von Zynikern.

Die Mittäterschaft ist in diesem System immanent. Es macht einen aufrechten Gang unmöglich und Sprüche wie Wie kannst du nur Wiesenhofgeflügel kaufen? oder Wie kann man sich nur von GLS was liefern lassen? werden zur gesinnungsterroristischen Haltung, die zudem nicht erklärt, wie man es sonst anstellen soll in diesem systematischen Konzept der Alternativlosigkeit. Diese Erkenntnis ist für Linke bitter, weil sie für sie existenzielle Fragen aufwirft. Der lagerlose Hedonist, aber auch der Konservative, der an die Ungleichheit der Teilnehmer auf dem Markt glaubt, den streift die Frage des Scheiterns des Handelnden und damit der Schuld, die er fabriziert, gar nicht, weil sein politisches Weltbild, seine gesellschaftliche Vorstellung das Scheitern nicht nur in sich trägt, sondern es sogar zum Ideal verklärt. Für die politische Linke ist die ungleiche Bezahlung (normalerweise) zweier Arbeiter unerträglich - für die politische Rechte und die Mitte, die irgendwo rechts steht, ist das kein gescheiterter Versuch arbeitsteiliger Organisation, sondern Ausdruck von Individualität und irgendwo auch gerechtfertigt, weil Ungleichheit etwas sei, was entweder Gott oder aber die Natur gegeben habe.

Als Linker ist die Wahl recht begrenzt. Man stößt stets an die Grenzen, die das System eng angegelegt hat. Optionen sind auch eine Frage des Geldes. Welche Wahl hat man, wenn man Dreifuffzig in der Tasche hat? Zwangsläufig landet man bei Netto oder Lidl, trägt zur Ausbeutung der Angestellten in der Discounter-Branche bei. Was tun, wenn man in einer Welt des Geldes leben muss und Geld benötigt?

"Not tun uns heute nicht die Menschen, die blind sind im großen Gefühl, not tun uns, die wollen - obwohl sie wissen", schrieb Toller. Nicht verzagen, meinte er damit. Trotzdem verändern wollen, obgleich man wissen sollte, dass das Scheitern möglich und vielleicht sogar zwangsläufig ist. Maron schreibt in einem kurzen Aufsatz zu Toller, dass der "gewandelte gütige Mensch als Voraussetzung einer Revolution" unerfüllbar sei. Mit der Güte ist das so eine Sache. Man schränkt oft aus reiner Güte ein. "Ich liebe - ich liebe doch alle - alle Menschen", hat Mielke sichtlich betroffen von sich gegeben. Spötter lachten darüber und fanden das verlogen und natürlich paradox. Aber so verlogen war das womöglich gar nicht. Und im Tollerschen Sinne war es auch nicht paradox. Die Menschen, die die DDR aufbauten, wollten ihre Ideale verteidigen und richteten sich ein Ministerium für Staatssicherheit ein, die StaSi. Nicht zur Gängelung, sondern zum Erhalt sozialistischer Ideale. Aber diese aus Gründen des Schutzes humaner Werte eingerichtete Institution verselbständigte sich schnell. Wahrscheinlich ist das auch das Prinzip des Stalinismus gewesen - vereinfacht gesagt. Maron beschreibt in Stille Zeile Sechs einen alten DDR-Funktionär, der sich wie Mielke rechtfertigt. Aus Liebe zu den Menschen hat er Menschen inhaftieren oder mit Berufsverbot belegen lassen. Wie gesagt: Das ist aus Sicht der Tollerschen Erkenntnis nicht mal ein Widerspruch.

Für die politische Linke von heute heißt das auch, dass wir wie Toller nicht verzagen dürfen, auch wenn uns das Scheitern und auch die Schuld begleiten wird. Eine Welt nach der globalen Marktwirtschaft, in dem andere Ideale als das Pekuniäre alleine gelten, mag auch ihre Ungerechtigkeiten aufweisen. Und an denjenigen, die an dieser Ungerechtigkeit leiden werden, machen wir uns dann schuldig. Das darf aber kein entschuldigender Fatalismus sein. Der "Anspruch auf Sittlichkeit" wird bleiben, die "Übermacht des Faktischen" zwingt uns zu Boden. Ob das Leben hienieden je anders sein wird? Die Linke sollte sich das verinnerlichen - und die Unkenrufe vieler Linker, die meinen, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen oder die im Zuge ihrer "moralischen Besserstellung" selbstgerecht urteilen und verdammen, sollten immer auch an Toller denken.


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Mehr Planwirtschaft wagen

Mittwoch, 15. Mai 2013

Wagenknecht nennt das Unumgängliche "kreativen Sozialismus" - auch um sich vom real existierenden Sozialismus abzugrenzen. Der hatte sich nicht, wie Marx ankündigte, aus dem industrialisierten Kapitalismus verwirklicht, sondern "aus einer Krise der Unterentwicklung an der Peripherie des Weltmarktes" heraus und baute deswegen auf "Regimes der nachholenden Modernisierung". So hat es damals Robert Kurz in seinem Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft geschrieben. Gleichwohl sieht er im realen Versuch des Sozialismus nicht mehr als eine Warenwirtschaft, die "von Anfang an keine historische Alternative, sondern immer nur eine gröbere, eher mickrige und auf halbem Weg steckengebliebene Billigversion des Westens selbst" war.

Nun besteht die historische Chance, die Episode des autoritären Sozialismus, der als Folge seiner apriorischen Unterentwicklung einen erzwungenen Schnelldurchlauf zur Industrialisierung unternahm, um einen demokratischen Sozialismus zu bereichern. Einen, der bereits industriell gediehen ist, ökonomisch gereift genug. Der Name ist hierbei zweitrangig. Ob nun demokratischer oder kreativer Sozialismus - ob überhaupt Sozialismus als Wort: Notwendig scheint nur, dass die freie Marktwirtschaft an Ketten gelegt werden und dass es wieder einen gesellschaftlich verordneten Plan des Wirtschaftens geben muss.

Das bedeutet freilich nicht, dass die Preise für Brötchen und Socken diktiert werden müssten. Viel mehr ist es so, wie es Gregor Gysi schon 1994 dem Spiegel erklärte: "Die Mechanismen der Marktwirtschaft lehnen wir keineswegs ab, wohl aber die radikale Durchsetzung. Es gibt fünf Bereiche, die sich marktwirtschaftlich gar nicht sozial gerecht und ökologisch organisieren lassen: Kunst und Kultur, Bildung, Gesundheitswesen, Wohnen und Nahverkehr." Die Marktwirtschaft regelt durchaus viele Bereiche besser als eine Planwirtschaft je könnte. Ein neuer Sozialismus muss sich das auf die Fahne schreiben. Aber es gibt Bereiche, in denen keine freien Spieler des Marktes wirtschaften dürfen, in denen die Rendite kein Kriterium sein darf. Vielleicht war 1994 die Energiefrage noch nicht akut genug, vielleicht hat Gysi jedoch einfach nur den Energiesektor vergessen. Auch der gehört planwirtschaftlich organisiert, der Marktwirtschaft entrissen.

Die großen Fragen des menschlichen Zusammenlebens, der sozialen Gestaltung und der Sicherung der Lebensqualität des Gemeinwesens, sind nicht vom Markt aus regulierbar. Selbst ein vom Staat regulierter Markt sieht zum Beispiel im Gesundheitswesen immer noch einen Sektor zur Profitmaximierung. Er kann gar nicht anders, das ist sein Prinzip. Die Bereicherung der Marktteilnehmer in den Bereichen Kultur, Energie, Bildung, Gesundheit, Wohnen und (Nah-)Verkehr ist aber kein Zukunftsmodell. Es geht nicht um die Bedienung des Marktes und die Sicherung eines Geschäftsfeldes, sondern um die Sicherstellung existenzieller Prämissen einer Gesellschaft, um freien Zugang zu öffentlichen Gütern. Die Marktwirtschaft kann das nicht garantieren.

Planwirtschaft wird innerhalb der Marktwirtschaft verteufelt und als nicht überlebensfähig deklariert. Das liegt im Wesen des Systems. Es muss den Gegenentwurf diffamieren. Der real existierende Sozialismus starb nicht an planwirtschaftlichen Aspekten, sondern an einem planwirtschaftlichen Totalitarismus. Brötchenpreise gehören nicht behördlich geplant. Strompreise aber schon. Der Preis für Schuhe muss optional sein. Die gesundheitliche Versorgung nicht, sie muss grundsätzlich gratis zu haben sein.

Eine friedliche und soziale Gesellschaft der Zukunft darf sich nicht alleine an Nachfragen oder von der Werbung auferlegten und suggerierten Nachfragen orientieren, sondern an den existenziellen Notwendigkeiten, die das moderne Leben an die Menschen stellt. Man kann freilich von einer Marktwirtschaft träumen, die sich qua Regularien ethische Normen auferlegt. Ob das dann aber noch eine Marktwirtschaft im klassischen Sinne ist, bleibt fraglich. Ihrem Wesen nach wird sie aber immer danach streben, die verordnete Ethik aufzuheben. Der Profit bleibt einzige Moral. In manchen Sparten braucht es aber Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft als Moral, eine Ethik der Sicherstellung individueller Alltäglichkeiten. Wenn wir nicht mehr Planwirtschaft wagen, sind wir bald völlig planlos.


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De dicto

Dienstag, 14. Mai 2013

"Gauck [...] diskutierte vor mehreren Tausend Menschen mit dem seit einem Unfall bei "Wetten dass..?" gelähmten Schauspielstudenten Samuel Koch und dem behinderten Pfarrer und Paralympics-Sieger Rainer Schmidt. Die beiden hätten begriffen, "dass sie viel mehr vermögen, wenn sie etwas von sich verlangen", sagte Gauck. Es sei ein elementares Element der Gesellschaft, "dass wir uns nicht hängen lassen", sagte der Bundespräsident.
Dies gelte "für alle Menschen, die aus dem Normalmaß herausfallen", ergänzte Gauck und nannte als Beispiel Langzeitarbeitslose, die vor der Wahl stünden, sich damit einzurichten oder weiter nach einer Anstellung zu streben. Man müsse lernen, an sich selbst Erwartungen zu richten, nicht nur an die Gesellschaft, die unterstützt."
- aktuell.evangelisch.de am 2. Mai -
Zum Gesagten sei angemerkt: Es ist schon ein Leckerbissen intriganter Rhetorik, zwei gesellschaftliche Randgruppen so stupide gegeneinander auszuspielen. Aber dumm genug kann es wohl gar nicht sein - letztlich regt sich kaum noch jemand darüber auf. Da lobt der Bundespräsident behinderte Mitmenschen, weil sie auch etwas leisteten und macht damit den Gedanken der Leistungsgesellschaft zum wesentlichen Aspekt der Inklusion - aber keinen stört es. Hat der Mensch nun eine unveräußerliche Würde oder definiert sie sich nach dem, was er tut, was er kann und leistet? Und am Ende kürt Gauck dann auch noch Erwerbslose zu einer Art Antriebsbehinderter und macht Langzeitarbeitslosigkeit zu einer Form körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung.

Man vermag mehr, wenn man etwas von sich verlangt, weiß die theologisch geschulte Binsenweisheit. Das ist die alltagssprachliche Ausformung des Fördern und Fordern, die da durchschimmert. Menschen mit Behinderung können demnach nur inkludiert werden, wenn sie sich selbst dazu anhalten. Irgendwie klingt das alles auch wie: Wer nicht integriert ist als Behinderter, der hat selbst noch nicht genug von sich abverlangt, der hat sich hängen lassen, um es mit Gaucks salbungsvollen Worten zu sagen. Das gilt für alle, die nicht ganz normal sind, sagt der Bundespräsident, auch wenn er es schöner sagt und irgendwas vom Herausfallen aus dem Normalmaß salbadert.

Aber Gauck möchte natürlich nicht Behinderte schelten, die sich vielleicht nicht ausreichend integriert fühlen in einer Gesellschaft, in der Leistung und körperlich-geistige Ausbeutbarkeit oberstes Prinzip sind. Er missbraucht lieber den Lebensmut und die Integrationsbereitschaft behinderter Menschen, indem er sie Langzeiterwerbslosen gegenüberstellt. Denn auch die seien in einer ganz ähnlichen Situation. Wie behinderte Menschen gelernt hätten, keine Erwartungen in die Gesellschaft zu setzen, so müssten das auch Arbeitslose lernen. Das ist wenigstens mal ein deutliches Bekenntnis! Was Gauck hier anhand von behinderten und arbeitslosen Menschen verquickt, steht unter dem Stern der absoluten Eigenverantwortlichkeit. Die Gesellschaft ist für nichts mehr verantwortlich, nur die individuelle Verantwortlichkeit entscheidet. Man lebt so gesehen nicht mit einer Behinderung, man ist die Behinderung, das Hindernis selbst, wenn man sich nicht einpasst. Man ist nicht arbeitslos, man ist das personifizierte Arbeitslose. Wenn man nämlich will, wenn man alles von sich abverlangt, wendet sich alles zum Besseren.


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Lieber arrogant als gefesselt

Montag, 13. Mai 2013

Die von den Medien inszenierte Öffentlichkeit empört sich regelmäßig über Angeklagte, die vor ihren Richter nicht ausreichend unterwürfig und demutsvoll erscheinen. Das befindet man für arrogant, taktlos oder gar höhnisch. Mir jedenfalls ist es lieber, Angeklagte geben sich so wenig reuevoll, als dass sie in Fesseln zur demütigen Haltung gezwungen werden.

Eine reuevolle Körperhaltung

Ohnehin muss ein Rechtsstaat Angeklagte ohne augenscheinliche Reue aushalten können. Zumal ein feixender, sich arrogant gebender Auftritt nicht per se mit Uneinsichtigkeit korreliert. Äußere Haltung und Innenleben sind zuweilen schrecklich diametral entgegengesetzte Indikatoren. Man lächelt manchmal im dämlichsten Augenblick, gibt sich stark, wo man schwächelt. Das Verhalten eines Angeklagten sagt grundsätzlich nichts oder nur sehr wenig über dessen Innenleben aus. Und es ist so gesehen seine Privatangelegenheit, auch wenn es in aller Öffentlichkeit geschieht.

Grundsätzlich ist die in den Medien thematisierte Frechheit von Angeklagten, deren fehlende Reue und Einsicht, die man schon im Gerichtssaal erkennen möchte, ein falscher Ansatzpunkt. Denn Angeklagte sind unschuldig, bis deren Schuld bewiesen und von einem Richter verifiziert wird. Warum also schon vor Schuldspruch reuevoll in den Saal treten? Das ist weder nötig und aus Sicht der Verteidigung sogar noch kontraproduktiv.

Überhaupt ist da eine öffentliche Haltung zu erkennen, die sich bußfertige Sünder für das Blitzlichtgewitter wünscht. Angeklagte, denen schon die Sühne in die Körperhaltung gelegt ist. Denen schon im Gesicht die Schuld eingefurcht ist. Man glaubt, das könnten Opfer und Öffentlichkeit verlangen. Tritt dann jedoch jemand anders als erwartet vor seinen Richter, so wie neulich Zschäpe, glaubt man darin schon die gesamte Selbstgerechtigkeit und den Fanatismus des Angeklagten sehen zu können. Trotz Anklage nicht als Person von trauriger Gestalt aufzutreten: Das nennt diese Erwartungshaltung dann Arroganz. Für die Medien ist die Arroganz etwaiger Täter (aktuell die der Zschäpe) indes nur ein Mosaikstein im modernen Gerichtsjournalismus, der nur bedingt juristisch bewandert, dafür aber mit einem Gespür für Menschliches aufwarten soll.

Einen reuevollen Auftritt herbeifesseln?

Die Zeiten, da man einen Angeklagten mit allen Mitteln brach, sein Auftreten in demütige Bahnen steuerte, indem man ihm Ketten anlegte oder die Hosenknöpfe abschnitt, sind vorbei. Diese Maßnahmen sind mit dem Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit nicht mehr vereinbar. Dennoch scheinen sie immer noch in den Menschen verankert zu sein, dennoch schielen sie unbewusst auf die physisch erzwungene Bußfertigmachung.

Mit einer Zschäpe, die nach der allgemeinen Deutung der Medien arrogant wirken mag, die mit ihren Anwälten fast flirtet, kann ich persönlich allerdings viel besser umgehen als mit einer, die man in Fesseln und Gefangenenkluft vorgeführt hätte. Man kann sich zwar über die laxe Zschäpe ärgern, aber es ist gleichwohl ein Zeichen von Rechtsstaatlichkeit, wenn sie sich so bewegen darf. Alles andere wäre eventuell populärer gewesen, hätte man aber als rechtsstaatlichen Rückschritt ansehen müssen. Insofern sind die Unkenrufe fehlender Reue im Gerichtssaal nicht zielführend, denn das sind Stimmen aus einer Zeit, da schon die Anklage als Beweiselement für die Schuld galt (das lese man gesondert bei Foucault, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, nach) und in der man aus Gründen der Kenntlichmachung dieses Umstandes, den Angeklagten zur devoten Haltung zwang.

Die Arroganz nicht anklagen, sondern gönnen

Von der menschlichen Warte aus kann man natürlich verstehen, dass es für die Geschädigten unerträglich ist, wenn da jemand ohne physisch sichtbarem Schuldeingeständnis den Saal betritt. Objektiv betrachtet ist es eher unwesentlich. Man kann das Benehmen von Menschen weder steuern noch erzwingen, man kann es nur hinnehmen - auch wenn es unangenehm ist. Und gerade in diesem Prozess gegen die tödliche Intoleranz ist das Hinnehmen als demokratisches Prinzip dringend geboten. Zu empfehlen wäre daher, etwaiges höhnisches oder provokantes Verhalten dieser Angeklagten (Zschäpe ist ja nicht alleine angeklagt) gar nicht erst zu thematisieren, es als Beiwerk, als Schau zu ignorieren. Was juckt dieses Verhalten den Rechtsstaat schon? Seine Gerichte haben emotionale Affekte wie das Verhalten der Angeklagten vor der Öffentlichkeit auszublenden. Sie arbeiten steril und unterkühlt, lassen sich nicht beirren - so will es wenigstens die Theorie, so sollte es sein.

Es ist insofern natürlich eine ironische Episode. Da lamentiert der Rechtsextremismus über die Herrschaft der Gutmenschen und erhält gutmenschlich die Freiheit der Arroganz im eigenen Strafverfahren. Das provokante Geflirte der Zschäpe ist insofern viel mehr als das Verhalten einer angeklagten Frau: Es ist ein rechtsstaatliches Bekenntnis. Daran sollten die Geschädigten denken. Wenn die ausgeschlachtete Arroganz (wenn es denn überhaupt Arroganz ist!) dieser Frau überhaupt zu etwas gut sein soll, dann dafür, sagen zu können, dass sie relativ frei agieren kann vor ihrem Richter, nicht zur Demut gezwungen wird, dass sie sogar das Recht hat, sich in dümmlicher Selbstinszenierung zu üben. Die Geschädigten sollten das nicht nur hinnehmen, sondern es ihr geradezu gönnen. Denn es führt das Gedankengebäude dieser Neonazis ad absurdum.


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Spinat mit Käsesoße

Sonntag, 12. Mai 2013

Fabian Köhler über die Brigittisierung der NSU-Berichterstattung

"NSU-Prozess für Mittagspause unterbrochen", meldete am Montag die Nachrichtenagentur dpa. "Schreiben die auch, was es zu essen gibt?", rief eine Redakteur durch den Großraum des "nd". Über das Mittagsmenü am Münchner Oberlandesgericht erfuhr man nichts, alle anderen Belanglosigkeiten hingegen schon.

Wer am Dienstagmorgen die Zeitung aufschlug, mag den Eindruck gewonnen haben, nicht einer der wichtigsten Terrorprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte, sondern eine Modenschau für Businesskleidung habe tags zuvor im Münchner Oberlandesgericht stattgefunden: Zschäpe mit schwarzem Kostüm und getöntem Haar. Zschäpe streng mit verschränkten Armen. Zschäpe, die lässig ihr Haar zurückwirft. Zschäpe, deren Hintern gegen einen Stuhl drückt.

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München ist überall

Freitag, 10. Mai 2013

Ein Buchbesprechung ohne Buch und Autor.

Der noch unbekannte Autor schlägt Alarm: Klüngelwirtschaft, hohe Steuerunlust, Verwandte als Angestellte - das ist die Realität in der bayerischen Landeshauptstadt. Doch München ist überall. Die Parallelgesellschaft ehrenwerter Kreise ist nicht auf München spezialisiert.

Die in München entstandene Parallelgesellschaft charakterisiert der noch unbekannte Autor als geschlossene Gesellschaft, in der sich Eliten selbst organisieren und nichts von Gemeinsinn an sich heranlassen wollen. Schrittweise weicht jeglicher Sinn für Recht zurück. Nepotismus und Egoismus sind die Vorschriften der Münchner Parallelgesellschaft. Sie sind die Grundpfeiler ihrer Ordnung. Steuerbetrug ist insofern kein krimineller Akt mehr, sondern eine Haltung des Widerstandes gegen den ausufernden Sozialstaat und seiner Alimentierung fauler Taugenichtse. Der noch unbekannte Autor nennt diese Haltung eine A-Hund-is-a-schoo-Mentalität. Sie beurkundet dem Steuerverweigerer nicht etwa eine asoziale Ader, sondern Gewieftheit, die man heute schon haben müsse, um gegen die Diktatur der Gutmenschen anzukommen.

Im noch nicht geschriebenen Kapitel "We are family!" berichtet der Autor über die nepotistische Gepflogenheit in München. Bayerische Abgeordnete fallen immer wieder dadurch auf, Hartz IV-Beziehern mangelnde Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme anzuhängen. Denn in ihren Familien kommt dergleichen nicht vor. Der pater oder die mater familias sorgt nämlich dafür, dass alle Familienmitglieder versorgt sind. Zwar wisse man in den Kreisen der Münchner Parallelgesellschaft durchaus, dass solcherlei Anstellungen einen Geschmack von unrechtmäßiger Bevorteilung habe, doch kümmert das dort reichlich wenig. Man schmarotzt sich an den öffentlichen Kassen reich, holt auch noch Vetter und Base mit ins Boot, verweigert dabei aber jegliche Transparenz. Besonders gefährlich erscheint die gruppenspezifische Isolierung von ethischen Standards dieser Parallelgesellschaft. Dies alles bleibt aber ohne Sanktionen.

Besonders besorgniserregend ist, dass sich in manche Münchner Stadtteile gar keine Polizei mehr hineinwagt. Selbst die Staatsanwaltschaft hat es aufgegeben, etwaige Fälle von Klüngelei oder Steuerbetrug zu verfolgen. Die Reintegration dieser Personen aus der Münchner Parallelgesellschaft scheint aussichtslos. Unhaltbare Zustände von Korruption, von Bevorteilung und Freundschaftsdienste, im Slang des Kiez auch Amigo-Auftrag genannt, erlauben eine Resozialisierung nur schwerlich. Massive Übergriffe gegenüber kritischen Journalisten und Juristen verdeutlichen zudem die Gewaltbereitschaft dieses Kreises. Es herrscht in diesen Gegenden ein höflich anmutender, jedoch in Wirklichkeit derber Verhaltenskodex, ein Bushidō voll halbseidener Tugenden: Man feiert unter sich die Verschlagenheit, den Größenwahn, die Hinterfotzigkeit und die Selbstbereicherung. Der noch unbekannte Autor meint, es handelte sich hier zweifellos um eine versaute Gesellschaftsschicht, die keinerlei Ambitionen zeige, sich dieser gruppenspezifischen Verhaltensweisen zu entledigen.

Der bayerische Landtag fängt durch die Angestelltenverhältnisse auf Verwandtschaftsbasis manche Arbeitslosigkeit ab. Dennoch scheitert das Konzept des Förderns und Fordens augenscheinlich nicht zu fruchten. Trotz aller Bemühungen ziehen sich die Leistungsempfänger in eine Parallelwelt zurück, in der sie Dienstleistungen billig verrichtet bekommen, untereinander über die Staatskleptokratie jammern, die neuesten Abzockmaschen besprechen und immer neue Felder der Inanspruchnahme öffentlicher Gelder erschließen. Der noch unbekannte Autor warnt eindringlich, dass Deutschland drauf und dran ist, sich abzuschaffen. Wir setzten unser Land aufs Spiel, wenn wir dieser Parallelgesellschaften nicht bald Herr werden.

München ist überall, von wem auch immer geschrieben, ist noch nicht erschienen. Vielleicht möchte sich ja ein Ex-Senator oder Bezirksbürgermeister der Materie annähern?


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Steuerzahler aus der Parallelgesellschaft?

Donnerstag, 9. Mai 2013

Als Migrant bleibt man in diesem Land immer ein Gast. Dabei zahlen hier lebende Ausländer mehrheitlich Steuern. Die hier gebürtigen Eliten tun das bevorzugt nicht, werden aber keiner Parallelgesellschaft zugeordnet. Der beliebteste Klassismus bleibt in Deutschland der Rassismus.

Mein Vater zahlte bis zu seinem Tod in diesem Land Steuern - 37 Jahre lang. Er sprach Deutsch und war ganz generell das, was die Leitkultur-Romantiker einen integrierten Ausländer nennen. Kritisierte er jedoch manches politische Vorhaben in der Ära Kohl, so musste er sich als warmen Ratschlag anhören, er könne ja seine Heimkehr nach Spanien planen. In meinem Buch Auf die faule Haut beschreibe ich unter anderem, das man Heimat nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich verliert. Nach vielen Jahren in Deutschland gab es das Spanien nicht mehr, das mein Vater verlassen hatte. Da alles stets im Wandel begriffen ist, hätte er sich nach einer Rückkehr auch dort erst integrieren müssen. Man kommt nicht einfach nach Jahrzehnten zurück und macht dort weiter, wo man damals aufgehört hatte.

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Über die Herbei-Attestierung der Unzurechnungsfähigkeit

Mittwoch, 8. Mai 2013

Der neueste Schrei zur moralischen Entlastung von Steuerhinterziehung ist deren Pathologisierung. Hoeneß, der sinnbildlich für andere wohlhabende Steuerflüchtlinge steht, habe nämlich nicht aus blanker Gier oder elitärer Misanthropie so gehandelt, sondern weil er schlicht und ergreifend süchtig war. Einige Experten verstiegen sich sogar dazu, Hoeneß und Konsorten für glücksspielsüchtig zu erklären.

Ist also Mitleid angebracht für diese Menschen, die sich nicht unter Kontrolle haben, die einer komplizierten Verhaltenssucht erlegen sind? Hoeneß ein pathologischer Spieler und impulskontrollgestört und letztlich mehr Opfer als Täter?

Der Psychiater und Psychotherapeut Manfred Lütz erklärt in seinem Buch Irre! - Wir behandeln die Falschen unter anderem, dass es grober Unfug sei, Menschen, die keine psychologische Behandlung anstrebten, eine psychologische Krankheit andichten zu wollen. Aus medizinischer Sicht müsse man sogar von einem Missbrauch der Psychiatrie sprechen. In den letzten Jahren habe man Methoden entwickelt, so Lütz weiter, mit denen man auch bei gesund erscheinenden Menschen gewisse psychische Defizite sichtbar machen könne. Die Aberkennung des Begriffs Gesundheit für solche Menschen sei aber ethisch nicht vertretbar. Aufgabe der Psychiatrie sei nicht, alle Menschen für per se krank zu erklären, sondern den wirklich kranken Menschen zu helfen.

Schon hier scheitert der Versuch, den reichen Steuerbetrüger als von Krankheit getriebenen Menschen bewerten zu wollen. Ein gewisses Defizit im Bezug auf finanzielle Maßlosigkeit, macht noch keinen psychisch kranken Menschen, keinen Suchtkranken.

Die Sucht ist nicht lediglich eine lapidare Bezeichnung. Sie geht etymologisch betrachtet auf das Wort "siechen" zurück und ist damit programmatisch "an ein niedergehendes Ziel" gebunden. Sie beinhaltet, dass da jemand "bis zum bitteren Ende" seiner (nicht-)substanzgebundenen Abhängigkeit folgt, ohne Rücksichtnahme, ohne Vernunft. Und geht dabei die Ehe vor die Hunde, droht auch der Bankrott: Die Sucht kennt keine Einsicht, obgleich sie den Süchtigen nicht völlig unzurechnungsfähig macht. Der weiß in lichten Augenblicken von dem Dilemma und geht sehenden Auges in seinen Niedergang. Der Glücksspielssüchtige kennt die drohende Pleite und wird dennoch schwach, kann nicht an sich halten. War bei Hoeneß' Zockerei und die damit verbundene Hinterziehung jemals der Bankrott absehbar? Hat seine Familie unter "seiner Sucht" gelitten? War der Niedergang programmiert? Es ist ein Hohn, einen saturierten Menschen mit wirklich Glücksspielsüchtigen zu vergleichen, die beinahe jeden Tag sich und ihre Familien zwanghaft in ein Jammertal hineinspielen.

Und es ist überdies ein derber Missbrauch von Psychiatrie, jemanden, der so offensichtlich nicht unter "seiner Sucht" litt, als krankhaften Charakter hinzustellen. Wenn ein gewisses Defizit eines Menschen nicht als Beeinträchtigung wahrgenommen wird, so schreibt Lütz, dann gibt es keinen Therapieansatz und man kann in einem solchen Falle auch nur sehr bedingt von Erkrankung sprechen. Hat Hoeneß' Defizit je sein Leben beeinträchtigt? Er hat ja dem Affen nun selbst Zucker gegeben, indem er die an ihn gerichtete Frage, nach einer etwaigen Sucht nicht verneinte. An einen suchtbasierten Mangel an Lebensqualität scheint er jedoch trotzdem nie gelitten zu haben.

Was hier betrieben wird ist die Verballhornung von Menschen, die wirklich an einer nicht-substanzgebundenen Abhängigkeit leiden. Menschen, die ihr Alltagsleben qua Sucht nicht mehr begehen können, die sich gesellschaftlich isolieren und sozial ausgrenzen, die sich aus Scham zurückziehen und nicht selten dem körperlichen Verfall überschreiben. Wollen Hoeneß und die Medien, die ihm Stichwortkarten hinhalten, auf dem Rücken wirklich Süchtiger einen Kurs der Reinwaschung reiten?

Die per Sucht pathologisierte Determinierung aller Steuerbetrüger ist nichts weiter als eine herbeiattestierte Unzurechnungsfähigkeit ohne Anhaltspunkte für eine seriöse Diagnose. Aus einem Akt von Standesdünkel und elitärer Megalomanie im Bezug auf Steuererhebung wird so ein krankhaftes Verhalten stilisiert. Hoeneß und Kollegen sind nicht krank oder glücksspielsüchtig, sondern einfach nur viel zu reich und viel zu selbstverliebt.


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Sit venia verbo

Dienstag, 7. Mai 2013

"Man befahl uns den Patriotismus und wir wurden Patrioten; denn wir tun alles was uns unsere Fürsten befehlen. Man muß sich aber unter diesem Patriotismus nicht dasselbe Gefühl denken, das hier in Frankreich diesen Namen führt. Der Patriotismus des Franzosen besteht darin, daß sein Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, daß es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz Frankreich, das ganze Land der Zivilisation mit seiner Liebe umfaßt; der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin, daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht, wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will."

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Schickt die Kindheit in die Ferien!

Montag, 6. Mai 2013

Vorschläge für mehr Kindeswohl.

Seid doch vernünftig, Kinners! Denkt an die Wettbewerbsfähigkeit. Das Leben ist kein Zuckerschlecken und den Ernst des Lebens zu kennen, schadet euch sicherlich nicht. Seht doch ein, dass Lehrjahre keine Herrenjahre sein können. Seht doch endlich ein, dass Ferien etwas sind, was wir uns im globalen Wettbewerb nicht mehr leisten können. Wenn wir als Exportnation weiterhin erfolgreich sein wollen, müsst ihr Opfer bringen. Eure Eltern stehen an der Front - könnt ihr nachvollziehen was das heißt? In Sierra Leone haben die Kinder auch kaum Ferien. Wer sich nicht anpasst, den bestraft die Marktwirtschaft.

Seid doch gescheit, Kinners! Es geht um so viel. Was sind denn schon sechs Wochen voller Freiheit, voller Ausschlafen und In-den-Tag-Hineinlebens? Das geht alles vorbei und nichts bleibt davon. Aber ein ökonomisches Fundament, an dem ihr teilhabt, indem ihr eure Ferien kürzt, davon haben wir alle und haben wir ewig etwas. Das ist nachhaltig! Sieger im Wettbewerb zu sein, sichert uns allen die Freiheit, die nächsten Rechnungen begleichen zu können. Freiheit ist, wenn ihr euch die Freiheit nehmt, auf Ferien zu verzichten. Im Klassenzimmer sitzen, wo die Jahrgänge vor euch noch zum Baden gingen: Das ist Freiheit!

Seid doch klug, Kinners! Wie ihr nur eine Kindheit habt, so haben wir nur eine Exportwirtschaft. Sie verrinnt uns wie eure Kindheit, wenn wir sie nicht hegen. Was ist da wichtiger? Die begrenzten Jahre eurer kindlichen Leichtlebigkeit oder die existenzielle Schwerfälligkeit unserer Ökonomie? Weniger individualistisches Denken tut Not. Ihr lernt soziale Verantwortung, wenn ihr verzichtet. Euer Verzicht ist unser aller Gewinn.

Seid doch einsichtig, Kinners! Man kann in der freien Marktwirtschaft, in der der Wettbewerb uns alle an die kurze Leine nimmt, gar nicht schnell genug erwachsen werden. Dass ihr ein kindliches Gemüt habt, kann euch niemand zum Vorwurf machen. Dass ihr aber so unnachgiebig kindisch bleibt, nicht begreifen wollt, das ist schon ein Akt der Fahrlässigkeit. Wer kindisch ist, gefährdet unseren Wohlstand. Die Kindheit ist ohnehin ein sehr junges Konzept. Kindheit gab es früher gar nicht. Was ist da im Vergleich dazu schon die Reduzierung von Ferientagen? Es braucht nur ein klein wenig Sensibilität für die Spielregeln der Weltwirtschaft, für die Sachzwänge der Welt, dann kommt ihr zur Einsicht.

Seid doch nicht gleich beleidigt, Kinners! Man kann gar nicht früh genug mit dem Ernst des Lebens anfangen. Ihr müsst ja nicht wirklich büffeln in Zeiten, da eigentlich Ferien wären. In der Schule rumsitzen reicht doch aus. So wie das ganze Schuljahr. Es geht doch nicht um Lernen und Bildung, es reicht wenn ihr das könnt, was ihr später mal im Arbeitsalltag können müsst. Einsetzbares Wissen, das man auf dem Markt benötigt. Die Schule ist doch kein Ort des Paukens mehr, sondern eine Verwahranstalt mit gelegentlichen Bildungssegmenten. Wir haben euch also schon entlastet, die Bürde des Allgemeinwissens von euch genommen. Ihr könnt nicht nur nehmen, ihr müsst nun auch geben.

Seid doch clever, Kinners! Wenn ihr eure kindischen Affekte in die Ferien schickt und nicht euch selbst, dann profitiert auch ihr davon. Seid fleißig und die Rendite kommt umgehend danach. Nach Jahren der Praktika, da wartet dann der Wohlstand in Teilzeit auf euch. Ist es das nicht wert? Die Marktwirtschaft hält ihre Versprechen, man muss nur mit ihr feilschen. Ferien gegen Chancengerechtigkeit. Ist das kein Anreiz?


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Eine kurze Geschichte der Arschlöcher

Freitag, 3. Mai 2013

oder Das System ist anusköpfig.

Gleich welches System, welche Ideologie. Am Kopf der Tafel sitzt immer das Arschloch in mehrfacher Ausführung. Im heutigen Kapitalismus ist es so - im Kommunismus war es so. Immer sind sie es, die oben landen. Woher nehmen die Arschlöcher ihren Auftrieb. Haben sie eine geringere Dichte? Ist es ein anatomisches Rätsel? Warum schwimmt nicht nur Scheiße, sondern auch ihre Pforte zur Welt obenauf?

Als Sloterdijk noch ein Philosoph war, nannte er den Arsch den "Clochard unter den Körperteilen", der "sein Dasein im Dunkeln zu fristen" hat. Außerdem befand er, sei der Arsch "der Plebejer, der Basisdemokrat und der Kosmopolit unter den Körperteilen". Denn "auf den Klos aller Herren Länder" sei er heimisch, was so was wie eine "Internationale der Ärsche" sei. "Spielend überwindet der Arsch alle Grenzen, im Unterschied zum Kopf, dem Grenzen und Besitztümer viel bedeuten". Der Arsch sei "eigentümlich zur Philosophie [prädisponiert]", glaubte Sloterdijk damals erkannt zu haben. Warum also eigentlich das Arschloch, diese elitäre Konstante jeglicher Systematik, nicht auch mal in eine kleinen Küchen- und Blog-Philosophie überführen?

Der Duden definiert das Loch als eine "entstandene offene Stelle, an der die Substanz nicht mehr vorhanden ist". Das Arschloch ist insofern ein Kuriosium, denn obgleich Vertiefung und Einbuchtung, wirkt es als tragendes Stützelement. Es ist die substanzlose Säule jedes Systems, die sich ins Innere stülpende Vorrichtung zur Stütze des Gebälks. Das Arschloch ist als Architekturwunder historisch konstant. Zwar führen Architekturbücher als bekannteste Vertreter dorische, ionische und korinthische Säulenordnungen - das Arschloch war aber parallel Tragekonstruktion. Schon im antiken Griechenland baute die sich langsam formierende Ordnung des öffentlichen Lebens auf diesen Nabel des Gesäßes. So votierte zum Beispiel das Arschloch für Sokrates' Tod, um das System jener Stunde nicht ins Wanken zu bringen.

Fristet der Arsch für Sloterdijk sein Dasein im Dunkeln, so hat das Arschloch, als Zentrum dieses Körperteils, ein gut ausgeleuchtetes, im Spot stehendes, trotzdem aber oftmals unterbelichtetes Dasein. Als Auge des Gesäßes wacht es über allerlei Ärsche, in die es tritt. Im Spanischen nennt man es sogar ojo de culo, das Arschauge. Es ist freilich ein blindes Auge. Und eine Ansammlung von Arschlöchern potenziert diese Blindheit - das lehrt schon Gustave Le Bon.

Wie man mehrere Bäume einen Wald nennt, so heißen mehrere Arschlöcher zusammen Eliten. Elite ist der Sammelbegriff wahllos zusammengewürfelter Arschlöcher. Und die landen zwangsläufig immer am Kopf der Tafel, sie sind das Salz jeder systemischen Suppe, die sich der Mensch einbrockt. Sie steigen mit dem System auf und gehen mit ihm unter, um im Rechtsnachfolger abermals aufzublühen. Siehe die Arschlöcher vor 1945, die sich zwischen 1945 und 1949 konsolidierten, um dann ab 1949 wieder wie Scheiße oben zu schwimmen.

Das Arschloch ist ein moralisches Mangelwesen. Der Moralfortsatz fehlt ihm gänzlich. Seine Physiognomie kennt kein Areal, in dem ethisches Gefühl vorrätig wäre. Diese Beschränkung macht es systemrelevant. So kann es Pfeiler jeder Ordnung werden. Das Arschloch passt sich nicht nur an, es nimmt die Ideologie des Systems völlig ins sich auf und bläht es auf und aus und macht es zum alternativlosen Wind. Es ist so das systemische Sprachrohr, die Funktionselite des Betriebes, die "entstandene offene Stelle, an der die Substanz nicht mehr vorhanden ist" - gemeint ist hier die Substanz des Anstandes, der Würde, der Rücksichtnahme und der Toleranz. Das Arschloch ist das schwarze Loch, das Substanzen aufsaugt, die das System behindern oder auch nur erschweren.

Die Berichte in den Zeitungen sprechen von Arschlöchern. Von Arschlöchern, die die Armut ausrotten wollen, indem sie zunächst mal die Armen bekämpfen. Von Arschlöchern, die keine Steuern bezahlen und den Sozialstaat als Luxus deklarieren. Von kriegslüsternen Arschlöchern und solchen, die mit allerlei Winden das System der Ausbeutung und Verblödung stützen. Jede Zeit hat ihre Zeitung, die von den Arschlöchern berichtet. Genau genommen bedeutet Zeitung immer nur: ein Blatt voller Arschloch-Geschichten. Systeme können in der besten Absicht begründet werden, früher oder später ist das Arschloch doch wieder oben, macht das System. Die Geschichte aller bisherigen Systeme ist die Geschichte von Arschlöchern. Eichmann und Tibbets, Mielke und McCarthy und die heutigen, die man aus Gründen der juristischen Unantastbarkeit nicht beim Namen nennt.

Das Arschloch ist nicht wie Sloterdijks Arsch Plebejer, Basisdemokrat und Kosmopolit. Es war stets Patrizier, Diktator und Nationalist. Wo oben ist, da ist das Arschloch.


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Das Ende der Provokation

Donnerstag, 2. Mai 2013

Provokante Protestformen sollten ausgedient haben. Sie erreichen zwar Aufmerksamkeit, vermitteln aber keine Inhalte mehr. Das ist jener Bullshit-Kultur geschuldet, die sich aus einem unerfindlichen Grund weiterhin Journalismus nennt - obwohl sie den fast vollkommen ersetzt hat.

Als die Femen obenrum nackt über Wladimir Putin herfielen, ließ ich mich zu einem polemischen Text hinreißen. Im Nachgang sagte man mir dann, dass ich das Prinzip dieser Protestform wohl nicht kapiert hätte. Man müsse nämlich provozieren, um Aufmerksamkeit zu erlangen.

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Stillgestanden!

Mittwoch, 1. Mai 2013

Oft wiederholter Vorwurf der Opposition (die bald Koalition sein will) an die Koalition (die bald Opposition sein soll): Sie bedeute oder sei oder zeitige Stillstand. Neulich hat Trittin abermals den Stillstand als Anklage benutzt und die Regierung sogar als einen "fleischgewordenen Stillstand" geschimpft. Steinbrück hat Ähnliches auch schon gesagt - ist aber auch kein Kunststück: Steinbrück hat ja alles Sagbare schon mal gesagt.

Der Stillstand muss etwas geradezu Schreckliches sein, so oft wie er zum Vorwurf und zur Anregung einer Abwahl bemüht wird. Stillstand ist Rückschritt, kennt man ja als Bonmot. Ist Bewegung also demgemäß immer Fortschritt? Ganz gleich, in welche Richtung sich bewegt wird? Wer das als Motivation anführt, um diese Regierung abzuwählen, macht keine Werbung für sich, sondern stellt einen Freifahrtschein für Aktionismus aus, frei nach der Devise: Hauptsache wir bewegen uns, ganz egal wohin.

Vor einigen Jahren, als diese aktuelle Opposition gerade gemeinsam auf Regierung machte, hat man das ähnlich beklagt. Damals hieß es, die schwarz-gelbe Regierung hätte sich seit Jahren im Reformstau befunden, sich nach langer Zeit an der Macht kaum noch bewegt. Und weil dem so war, musste Rot-Grün nun dringend Reformen schmieden, den Stau auflösen und sich bewegen. Da entschieden sie sich dann für so Sachen wie für die Einführung des Dosenpfands oder für Hartz I bis IV. Vordringlich war nur, dass der Stillstand aufgehoben, der Stau beseitigt war.

Ist Bewegung irgendein Maßstab für irgendwas? Dass Stillstand Rückschritt sei, ist ohnehin ein haarsträubend dämlicher Spruch aus dem kapitalistischen Repertoire. Es ist dem Paradigma vom endlosen Wachstum geschuldet, vom endlosen Überschreiten irgendwelcher final frontiers, die dann aber nicht das Finale, sondern lediglich Ausgangspunkte zu neuen Expansionen sind, zu neuen Profitchancen und Akkumulationsofferten. Bewegung ist somit rein systemisch gesehen immer besser, denn nur sie komme der Rückschrittlichkeit zuvor und mache den Fortschritt erst möglich. Insofern ist die Beseitigung des Reformstaus mittels Agenda 2010 natürlich als fortschrittlich zu sehen. Aber ist diese Agenda in jedem Falle besser als der drohende Stillstand?

Eine Regierung, die wie die amtierende, von Anfang an verdächtigt wurde, gezielte Klientelpolitik zu betreiben und wirtschaftliche Partikularinteressen durchzusetzen, ist jedenfalls besser als befürchtet, sofern sie stillhält. Ich persönlich wäre froh gewesen, wenn diese Regierung viel öfter den Stillstand eingehalten hätte, ganz nach der Devise: Nichts anfassen, dann geht auch nichts kaputt. Dumm nur, dass sie so selten stillgehalten hat. Es war und ist nämlich leider nicht so, wie die Opposition jetzt skandiert. Die sollte daher nicht mit der Mahnung des Stillstands zur Abwahl der Regierung aufrufen, sondern diese dringend auffordern, sofort mit dem Stillstand zu beginnen.

Aber früher oder später bewegt sich dann doch wieder jemand. Und in welche Richtung sich dann bewegt wird, ist im Neoliberalismus eigentlich klar. Aber da dann schon mal Bewegung in der Sache ist, nennen sie es Fortschritt ...


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