Rip Van Winkle oder Wie hat sich die Welt doch verändert

Freitag, 6. Juni 2014

Rip Van Winkle stieg wohl zwanzig Jahre nach seinem Verschwinden die Kaatskill-Berge herab. Er hatte so lange geschlafen. Als Untertan des englischen Königs ging er hinauf, als Bürger einer Republik kam er herunter. Vieles hatte sich verändert, nicht zuletzt »das ganze Wesen der Leute [...] Es herrschte ein geschäftiger, gehetzter, streitender Ton unter ihnen statt der gewohnten Gelassenheit und trägen Gemütsruhe«. Wie hatte sich die Welt am Hudson River in so kurzer Zeit doch verwandelt.

Täte es mein Vater diesem Gestalt aus Washington Irvings Kurzgeschichte von 1819 gleich - übrigens gilt »Rip Van Winkle« als die erste Short Story der amerikanischen Literatur -, entstieg er nach 15 unterirdischen Jahren seinem Grab? Es müsste wohl ein Kulturschock sein. Müsste man ihm gleich der komatöse Mutter aus »Goodbye Lenin« oder dem eingefrorenen Schwiegergroßvater aus »Hibernatus« (dem Funès-Film gab man in Deutschland den infantilen Titel »Onkel Paul, die große Pflaume«) eine Abziehbild der Welt von Ende der Neunzigerjahre simulieren? Zwar hat sich nicht die Staatsform verändert, wie bei Van Winkle, wohl aber die Ansichten darüber, wie diese zu organisieren sei. Und es hat sich einiges in den letzten anderthalb Dekaden radikalisiert. Wer Ende der Neunziger starb, würde er heute zum Wiedergänger: Ihm fiele es nicht nur aufgrund der neuen Medien schwer, sich zu orientieren. Technisch Neues nimmt man an, wendet sie dankbar an - aber Denkweisen und Kategorisierungen des Zeitgeistes, die sind nicht einfach anwendbar.

Alles scheint mir heute so eng, so bedrückend geworden. Der Optimierungswahn hat uns selbst in unserem privaten Alltag erreicht. Ja, wir selbst sollen optimal auf den Alltag eingestellt werden. Gelassenheit scheint aus der Mode. Heute ist immer gleich Hype, Aufschrei oder Hysterie. Hass war Ende der Neunziger natürlich ein Metier der »Bildzeitung«. Heute ist alles irgendwie immer gleich Hass. Ich sage nur: Shitstorm. Alle sind ständig aufgebracht - und gleichzeitig ignorant. Wir sind engstirniger geworden als damals. Und das bei gleichzeitigen Ausbau kosmopolitischer Mittel. Stetige Betriebsamkeit. Egal, wo man auch ist, einen Bildschirm gibt es eigentlich immer, auf dem ein Laufband mit Meldungen unter einem Anchorman vor sich hin tickert. Das Leben scheint mir wesentlich hektischer geworden seit damals. Wir sind in einem »Regime der Beschleunigung« gelandet.

Ich habe oft genug darüber berichtet, wie der Gastarbeiter, der mein Vater war, mit Alltagsrassismen zu tun hatte. Das gab es alles schon damals. Aber den Wahn, wie wir ihn heute kennen, diese sture Haltung, Integration müsse »auf die Deutsche« gemacht werden, war noch relativ zurückhaltend. Der Anschlag auf das World Trade Center und all diese Patriot Acts von Washington bis Berlin haben Schärfe in zwischenkulturelle Themen gebracht, denen man sich unter vernünftigen Gesichtspunkten nur mit kühlem Kopf widmen sollte.

Vielleicht habe ich diese Enge als junger Mensch nur noch nicht so wahrgenommen und die Welt hat sich gar nicht so sehr verwandelt. Vielleicht käme der gute Rip herab von seinem bergigen Domizil und würde gar nicht Notiz davon nehmen, dass einige Jahre ins Land gegangen sind. Und ich rede jetzt ausdrücklich nicht von den technischen Möglichkeiten, die die Zeitenläufte nicht vertuschen könnten. Ich meine das eher so geistesgeschichtlich, von der Mentalität und vom Zeitgeist her.

Aber wenn ich es so recht durchdenke: Diese Mischung aus Optimierungshysterie und medialer Dauerberieselung, aus Ausrichtung privater Leben nach wirtschaftlichen Vorgaben, »humanitären Militarismus« und die Salonfähigkeit faschierter Ansichten, das alles gab es damals doch noch nicht. Oder wenigstens nicht so ausgeprägt. Mensch, sind wir radikal geworden. Und noch dümmer als wir es ohnehin schon waren. Nach links hat sich kaum etwas bewegt. Alles nach Wirtschaftsvorgaben. Und nach Weltgeltungsdrang. Alles prüder und spießiger als damals. Und das war schon eine ekelhaft yuppyeske Zeit. Viel sozialer Rückschritt und menschlicher Niedergang. Käme er zurück, ich bin mir nicht sicher, ob er bleiben wollte. Das wollen ja die Lebenden schon viel zu oft nicht.

Heute vor 15 Jahren ist mein Vater gestorben. So lang her und doch erst gestern. Jedenfalls wir leben noch. Irgendwie. Die Frage ist nur: Wie lange? Und wenn ja, wie gut wird es?


5 Kommentare:

Lutz Hausstein 6. Juni 2014 um 10:32  

Es ist schön, wenn Du Deinem Vater so ein kleines "Denkmal" setzt. Etwas, worüber sicher auch er sich freuen würde.

Ich ertappe mich selbst auch immer mal wieder bei genau solchen Gedanken. Als mein Vater starb, war ich 12 Jahre alt. Gelegentlich frage ich mich auch, was er wohl sagen würde, wenn er all dies heute so erleben würde. Viel Gutes kommt mir dabei nicht in den Sinn.

Anonym 6. Juni 2014 um 11:27  

Wohl wahr, Roberto.
Eines kann man immerhin benennen, was sich zum Guten gewandelt hat: Die "da oben" müssen mittlerweile mehr arbeiten als "die da unten":

"Das Muster des „Oben wenig, unten viel“-Arbeitens der klassischen bürgerlichen Gesellschaft hat sich inzwischen umgekehrt. In den höheren sozialen Schichten, bei den Bestqualifizierten und Gutverdienenden, hat sich Arbeitszeit ausgedehnt – im Tages- und Jahreszyklus wie im Lebensverlauf – in den unteren sozialen Schichten, bei den Geringqualifizierten und Geringverdienern, ist sie verkürzt worden."

www.fu-berlin.de/presse/publikationen/fundiert/2006_01/06_01_nolte/index.html

Anonym 8. Juni 2014 um 05:32  

Mein Vater starb auch, als ich 12 war, 1989, am 9. November. In der DDR. Er konnte diesen Tag nicht mehr erleben, dennoch war damals schon greifbar, dass was passieren würde.

Wenn ich daran denke, muss ich natürlich an meine und die meines Vaters Heimatstadt denken, wo ich heute nicht mehr wohne. Wie so viele, die ich kannte, weggegangen sind. Seinen besten Freund würde er nicht mehr wiedererkennen. Nicht optisch, sondern wie er sich mental verändert hat. Ich glaube wir Kinder der DDR würden uns alle nicht wieder erkennen. Jedenfalls kann ich die mentalen Unterschiede, die damals so gravierend waren, zwischen Ossis und Wessis kaum mehr erkennen. Ich spüre diesen Unterschied einfach nicht mehr. Ich kann nicht einmal sagen, warum. Vielleicht, weil ich auch im Westen mir liebe und teure Freunde gefunden habe und meine Heimat oft nur ein trauriges Elend darstellt. Komme ich nach Hause, kann ich die Armut mit all ihren seelisch zerstörenden Folgen mit Händen greifen und es zerreißt mir regelmäßg das Herz.

Nein, ich wünschte nicht, dass mein Vater diesen Schock so plötzlich erleben müsste. Wir hatten immerhin viele Jahre der Veränderungen zeit. Und trotzdem kann ich mich bis heute nicht daran gewöhnen. Abfinden muss ich mich hingegen wohl.

Sledgehammer 8. Juni 2014 um 08:56  

15 Jahre sind eine zu kurze Zeitspanne, als dass das wundern und schockiert sein von langer Dauer wäre.
Möglicherweise würde man dem grassierendem Transparenz-, Optimierungs- oder Konsumwahn reserviert bis ablehnend gegenüberstehen; die Vorerfahrungen eines langen Lebens würden dennoch ausreichen, die Welt in absehbarer Zeit neu zu lesen und sich alsbald zurechtzufinden.

flavo 13. Juni 2014 um 12:49  

Ich kann dir nur zustimmen. Zugleich ist es eines der wenigen Dialoga, die meiner Erfahrung ähnlich sind. Ich bemerkte auch vor gut 15 Jahren den ansetzenden Bruch. Etwas veränderte sich. Ich beschreibe es als Beginn der Entfaltung des Neoliberalismus. Selbstverständlich gab es ihn schon vorher. Sparprogramme gab es auch schon vorher. Sicherlich. Aber in dieser Zeit vor der Jahrtausendwende wurde die Reichweite des Neoliberalismus vergrößert und vertieft. Was gleich geblieben ist, ist vielleicht seine Wirtschaftsdogmatik. Aber in dieser Zeit wurde begonnen den Alltag zu remodulieren. Zug um Zug wurden Anpassungen ins Spiel gebracht, deren Geltungskraft zusehends zunahm. Man könnte das Bild eines Virus bemühen. Aber Bilder lenken in Anglegenheiten der Sprache ab. Die Welt war vorher eingerastet gewesen. Viel war stabil, man lebte mithilfe vieler Selbstverständlichkeiten. Die weitesten Perspektiven des Lebens waren noch halbwegs unison. Was waren diese Dinge? Eine gewisse Vorstellung über die Werte, die wichtig sind, ein gewisser Grad an Bedeutung am Wohlergehen anderer Menschen, eine Grundansicht, dass die Welt eher besser als schlechter zu machen sei, ein solides Selbstbewusstsein, in seinem Leben zu machen, was einem auch gefällt, die Grundhaltung, dass die Arbeit, der alle nachgehen müssen, halbswegs gut geregelt und bezahlt sein soll, die Vorstellung, dass jeder andere auch anders sein kann, die Vorstellung, am besten halbwegs authentisch durchs Leben zu gehen, die Vorstellung, dass Frieden und Miteinander besser ist als Krieg und Gegeneinander. Vermutlich gab es noch mehr davon. In der Eile sind mir diese einmal eingefallen.
Aber an diesen Punkten sieht man schon, wo angedreht wurde. Heute gilt von alle dem alles nur mehr zufällig. Springt ein Profit heraus, kann der Mensch sich Menschen zum Sklaven machen, kann man die Umwelt zerstören und ganze Völker schamlos anlügen. Heute gilt, dass der im Wendelkreis der Selbstoptimierung sich befindende Marktjunkie, so es nur möglichst alle ihm gleich tun, die beste aller Welten erzeugt. Man sieht die Abstraktheit dieser Ansicht. Es entsteht kein gute Welt, es entsteht eine überhitzte Welt des sinnlosen Getrabes gegen einander und für vergängliche Illusionen. Die Sprache wurde neu angereichert. Der ganze Neusprech aus Berater- und Wirtschaftskompendien, die sprachliche Sinnaxiomatik wurde verändert. Wer sprachsensibel ist, sieht die Sinnschwaden in den Texten der Gegenwart.
So ist die Welt eine andere geworden als sie war. Für manche wurde sie eine fremde, für andere ein neues zu Hause.

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