Wer spart sich die schwarze Null vom Mund ab?

Montag, 30. November 2015

Bei der Generaldebatte letzte Woche im Bundestag, kritisierte die Opposition Merkel und ihr Finanzressort für deren Politik nach Haltung schwäbischer Hausfrauen. Die Frau verteidigte sich natürlich. Ihren Stolz konnte man deutlich heraushören, als sie nochmals bekräftigte, dass die schwarze Null nun schon im dritten Jahr in Serie stehe. Uns schwant Böses, denn diese »Haushaltsdisziplin« wird es sein, die man in Zukunft dieser Regierung lobend nachsagen wird. Das Narrativ von den Konservativen, die als einziges politisches Lager mit Geld umgehen könnten, wird eine weitere Episode in sein Repertoire aufnehmen. Was die Geschichte dann vermutlich vergisst, das wird der Preis sein, mit dem diese schwarze Null verwirklicht wurde. Die, die es ausbaden, kommen in Retrospektiven ja so selten vor. Wenn man Märchen von großen Leistungen erzählt, haben die kleinen Leute Sendepause.

Während sich der Regierungsbetrieb gegenseitig feiert, auf Neuschulden verzichtet zu haben, erfahren wir fast wöchentlich Stück für Stück mehr, wo diese Haushaltsdisziplin erarbeitet wird: Zum Beispiel bei Hartz-IV-Leistungsberechtigten. Nun häufen sich die Berichte, dass bei Langzeitarbeitslosen nicht mal eine ordentliche tägliche Mahlzeit mehr drin ist. Der Regelsatz wird von anderen Lebenshaltungskosten aufgefressen. Je länger man in den Mühlen dieser Sozialleistung steckt, desto ärmer wird man. Das Ersparte, das als Schonvermögen bei der Anrechnung noch unangetastet blieb, schrumpft merklich zusammen. Je länger im Bezug, desto weniger Schonvermögen bleibt. Außerplanmäßige Kosten (Ersatz für die defekte Waschmaschine usw.) kann man mit einem Darlehen bei der Behörde zwar abdecken, aber die Rückzahlungsmodalitäten regelt das Amt und die Raten werden zur monatlichen Bürde. Man debattiert zwar nun, ob man die monatlichen Raten auf maximal zehn Prozent der Bezüge reduzieren will (derzeit liegt das Maximum bei 30 Prozent), verschweigt aber, dass eine neue Waschmaschine im Zeitalter vor Hartz IV noch per Sonderzahlung gewährt wurde. Heute muss man solche Anschaffungen selbst tragen, obgleich man die Mittel dazu gar nicht hat.

An den Schulen spart man sich dämlich. Bei der Betreuung und in Kindergärten ebenfalls. Angebote für frühkindliche Erziehung hangeln sich von Etatkürzung zu Etatkürzung. Letzte Woche jubelten einige Medien, weil die OECD meldete, dass mit der Bildung in Deutschland alles ganz gut liefe. Wesentlich betrachtete die Studie aber Kosten- und Organisationsfragen. Das Niveau der Bildung war eher zweitrangig, die Probleme in den Klassenzimmern sind kein OECD-Indikator. Dass Deutschland im Vergleich zum Ausland relativ geringe Ausgaben im Sektor der Bildung aufweise, galt in der Berichterstattung als positiv. Synchron dazu fallen Schulstunden aus, fehlt neues Schulmaterial und verwahrlosen schulische Einrichtungen. Man lässt Pausenhöfe verwildern und stellt keine Hausmeister ein, obwohl die dringend benötigt würden. Der Mangel ist in manchen schulischen Einrichtungen, gerade in Bezirken, in denen eher Familien aus dem unteren Segment der Einkommensstatistik leben, mit bloßem Auge zu erkennen.

Straßen und Brücken sind eine weitere große Baustelle der schwarzen Null. Oder sagen wir so: Leider sind sie keine Baustelle, denn immer öfter werden ruinierte Straßen und nicht mehr statisch unbedenkliche Brücken einfach mit Geschwindigkeitsbegrenzungen »saniert«. Man lässt diese Unzulänglichkeiten oft jahrelang ohne Reparaturen und entzieht sich infrastruktureller Gestaltungsaufträge. Die Verkehrssituation ist ohnehin in manchen Ballungsgebieten eine Katastrophe. Wenn dann ganze Teilabschnitte nur begrenzt benutzbar sind, zur Tempo 30-Zone außerhalb der Stadt herabgestuft werden, verschärft man die ohnehin schwierige Situation massiv und nimmt damit Stress, Ärger und Unfälle in Kauf. Die Verkehrsteilnehmer sind sowieso angespannt. Aber die schwarze Null macht ihnen das Leben noch ein wenig schwieriger.

Die soziale Arbeit ist eine einzige Unterfinanzierung. Es fehlt an Angeboten für Jugendliche und an Angeboten für Menschen, die in dieses Land kommen. Jugendzentren schließen oder machen nur noch selten ihre Türen auf. Kulturelle Angebote werden rarer. Es schließen Bäder, Museen werden abgewickelt, Stadtbüchereien »optimieren« ihre Öffnungszeiten und Theater reduzieren ihr Programm. Verkehrsbetriebe machen auf Effizienz und frequentieren »verlassene Nester« immer weniger, sodass ältere Menschen ohne Mobilitätsmöglichkeiten zu Gefangene ihrer Ortes werden, Schwierigkeiten haben ihre Einkaufe zu erledigen oder Arztbesuche zu verrichten. Bahnhöfe werden ohne Personal unterhalten und auch hier leiden ältere Menschen darunter.

Das ist nur ein kleiner Überblick über die Schöpfungsgeschichte der schwarzen Null. Beispiele aus dem Alltag gibt es allerhand und für jeden sichtbar. Da schließen dann soziale Einrichtungen, obgleich sie gut liefen und Anlaufpunkt waren, einfach deswegen, weil die Kommunen finanziell am Ende sind und der Bund sie am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Als Exempel aus dem südhessischen Alltag mag beispielhaft das ehemalige Möbelkarussell herhalten. Die Langzeitarbeitslosen und andere arme gesellschaftliche Gruppen haben dort ein Angebot weniger, aber die Regierung ist stolz, dass die schwarze Null steht.

Die sparpolitischen Opfer bleiben namenlos. Wenn diese Kanzlerin in die Annalen dieser Republik als eine der ganz Großen eingehen wird, dann fragt keiner mehr danach, wie sie schwarze Nullen in einer Regierung voller selbiger geschrieben hat. »Wer baute das siebentorige Theben? / In den Büchern stehen die Namen von Königen. / Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? / Und das mehrmals zerstörte Babylon, / Wer baute es so viele Male auf ?«, fragte Bertolt Brecht mal nach dem Ruhm. Wer sparte sich die schwarze Null vom Munde ab?, müsste man sein Gedicht ins Zeitgenössische umschreiben. Wer diese Haushaltsdisziplin bezahlt, steht in den Zeilen oben. Die schwarze Null steht - und die, die darunter leiden, die fallen. Sie ist nicht schwarz, sie ist finster.

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Der Tod ist ein Kassenwart aus Deutschland

Samstag, 28. November 2015

Machen wir uns doch selber was vor. Wie so oft. Ist ja eine Spezialität des Hauses Bundesrepublik. Aufgetragen von den Qualitätsjournalisten. Entwarnung also: Die Waffen, die vor zwei Wochen an die 130 Franzosen getötet haben, waren nun vielleicht doch nicht, wie vormals behauptet, von hier. Das meldeten die Nachrichten in allen Kanälen. Dass sie in Deutschland geordert wurden, war halt doch nur ein Gerücht von bösen Zungen. Was für ein Glück, oder etwa nicht? Wieder ein wenig weniger Schuld auf den Schultern dieses Landes. Dieses Entkräften und Beschwichtigen ist aber nur die Krone der Heuchelei. Gut, diese 130 Toten sind also nicht das Produkt deutscher Waffenkunst. Andere sind es.

Kein Land der Erde exportiert so viele Kurzwaffen und Gewehre wie Deutschland. Etwa zehn Prozent aller Exporte ziviler Schusswaffen stammen von hier. Im gesamten Sektor ziviler Schusswaffen ist man zweitstärkstes Exportland. Militärische Waffen verkauft man als vierte Größe auf dem Weltmarkt (sechs Prozent des Exportmarktes). Anders gesagt: Wenn es auf der Welt Tote oder Verwundete bei Schusswechsel gibt, so ist jeder zehnte Tote oder Verwundete ein Opfer deutscher Waffenschmieden. Jeder zwanzigste Versehrte oder Gefallene in Kriegen und Konflikten ist das Produkt deutscher Waffentechnologie. Man guckt recht häufig auf der Welt in Läufe, die in Deutschland gezogen wurden.

Von fast jährlich 470.000 Morden weltweit (UNODC Homicide Statistics 2011), sind also gut 47.000 mit Waffen aus Deutschland getötet worden. 80.000 von 800.000 Suiziden im Jahr (WHO 2012) sichern den Standort Deutschland. Die Zahlen sind nicht ganz richtig, denn nicht jede Tötung und nicht jede Selbsttötung erfolgt durch Schusswaffen. Aber dafür werden an dieser Stelle auch keine anderen Opfer ziviler Schusswaffen genannt, schlicht weil es an Zahlen fehlt. Das gleicht sich wohl aus. Schusswaffengebrauch mit Todesfolge von Polizei und Sicherheitskräften in etwa - da findet man nichts. Außerdem sind die Verwundeten nicht genannt, die einen Mordversuch oder einen Suizidversuch überlebten. Sie sind die »stille Reserve«. Zu den Kriegsopfern lässt sich noch weniger sagen. Nicht jeder Tote eines Krieges starb durch eine Kugel. Die Mehrzahl von ihnen stirbt an den Folgen von Unterernährung und an mangelnder Hygiene. Aber die Toten und Verwundeten, die direkt mit den Folgen eines Schusswaffeneinsatzes konfrontiert wurden, dürften insgesamt die Hunderttausend übersteigen. Ein Zwanzigstel davon rechnet sich direkt als Profit für deutsche Waffenexporteure. Der Tod ist eben ein Kassenwart aus Deutschland. Allerdings ist es generell schwierig, verifizierbare Zahlen zu Kriegsopfern zu bekommen. Kriege sind unübersichtlich und Kriegsparteien nicht ehrlich bei der Dokumentation ihrer Vorgehensweise. Was bleibt ist Spekulation. Und die Gewissheit, dass an Krieg gut verdient werden kann, wenn man im Waffengeschäft tätig ist. Geschossen wird immer.

Doch nichts von diesen Zahlen und Einsichten spielt momentan eine Rolle. Die 130 toten Franzosen sind nicht unsere Baustelle. Da kann man durchatmen. Wenigstens da ist unsere Weste rein. Zumindest kann man bis dato nicht nachweisen, dass die Tatwaffen aus deutschen Landen kommen. Nur das ist uns wichtig. Die anderen Toten, die so vielen Menschen hier Arbeitsplätze sichern, die kehren wir unter den Teppich, über die reden wir nicht. Die Meldungen gestern zeigen mal wieder, zu welchem Zynismus wir hier fähig sind. Das deutsche Gewissen ist eine Mördergrube.

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Eine deutsche Familienchronik

Freitag, 27. November 2015

Herr Pestinger war erschöpft. Abermals ein abendlicher Gewaltmarsch. Aber diese Protestmärsche durch die Dresdner Innenstadt waren nun mal eben notwendig. Man musste sich doch gegen diese Überfremdung schützen. Das gebot jeder gesunde Patriotismus. Und er war alter Dresdner. Sein Vater war schon einer. Der kam einige Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als junger Mann ins herrliche Elbflorenz. Heute gilt die Familie als alteingesessen. Herrn Pestingers Junior Kinder und Enkel leben ja auch hier. Auch für sie marschierte ihr Opapa mit. Sie sollten es auch mal schön abendländisch haben. Freiheitlich. Demokratisch. Und nicht mit Kopftuch und Rauschebart zur Koranschule müssen. Als Deutscher hat man es beizeiten schwer, sagte sich Herr Pestinger und dachte an seinen Vater, der noch für den Führer schwärmte. Er tat das nicht. Das waren andere Zeiten., das konnte man heute nicht mehr haben. Aber gut täte er uns schon, so ein kleiner … Pestingers Vater lobte noch bis in die Siebzigerjahre hinein die gute alte Zeit, bis er sich zu einem Mittagsschlaf hinlegte, der bis heute anhält. Der Mann war vernünftig und äußerte Lob für die Braunen nur im trauten Familienkreis. Im VEB musste er vorsichtiger sein. Das hätte für den Melker böse Konsequenzen haben können.

Der Vater des Melkers erblickte in einem kleinen schlesischen Kaff das Gesicht seiner Hebamme. Er verlebte eine religiöse Jugend in Naturverbundenheit. Damals hieß er noch so wie sein Vater: Peschtrich. Im Alter von Zwanzig machte er seinen Namen für deutsche Ohren verträglicher. Als Pestinger hatte er es bei weitem einfacher Arbeit zu finden. Das Papier des Geburtenregisters der kleinen Kirche in seinem Dorf war geduldig. Weitaus geduldiger als die deutsche Oberklasse. Mochte dort Peschtrich verzeichnet sein. Er war nun ein Pestinger und unterschrieb künftig so. Die Deutschen erblickten in den Slawen aus unerfindlichen Gründen Faulheit und Verschlagenheit. Dem musste man entgegenwirken. Namensänderung war ein Mittel. Als Peschtrich fiel es einfach schwerer eine Stelle bei einem deutschen Arbeitgeber zu finden. Namhaft geworden erlangte er allerdings einen Platz im Hause eines Gutbesitzers. Fortan sollte er als Gärtner auf Gottes und seines Junkers weiten Fluren wirken. Er stellte sich nicht ungeschickt an und heiratete eine mittellose Deutsche, die ihm drei Söhne gebar, von denen er jedoch kaum etwas hatte. Der Gärtner schnitt gerade eine Hecke, als er in dieselbe fiel, noch einige Sekunden zuckte und dann für alle Zeit erstarrte.

Der Vater des Gärtners kam als unehelicher Sohn eines Polen und einer Deutschen ins Leben. Seine Mutter war eine junge Frau, die ihren bejahrten Gatten, einen pedantischen Junker und Zollinspektor, verabscheute und sich daher mit dem Stallburschen verlustierte. Noch am Abend der Niederkunft drückte der erboste Gatte das kleine Fleischbündel in die Hände des Nebenbuhlers, den er immer für einen welschen Polaken gehalten hatte, und warf ihn sicherheitshalber gleich noch vom Gestüt. So wuchs der Bengel ohne Mutter heran, verdingte sich später als junger Mann als Tagelöhner und bereiste die Welt zwischen Oder, Elbe und Neiße. Irgendwann landete er auf einem zungenbrecherischen Weiler, lernte dort eine zupackende Polin kennen und sie gebar ihm mehrere Kinder. Unter denen war auch jener Sohn, der sich als Gärtner sein täglich Brot verdiente. Er schlug seine Söhne mit dem Lederriemen, wie er es von seinem hilflosen Vater gelernt hatte. Sonst geschah wenig im Hinterland. Und eines Tages legte er sich hin, schloss die Augen und öffnete sie nie mehr.

Sein Vater wiederum war ein Kongresspole, der nach der Vertreibung vom Gestüt drei Orte weiter eine Bleibe fand. Kongresspolen war von Metternich in Wien künstlich ins Leben gerufen worden und stand unter russischer Kontrolle. Es war aus polnischer Sicht ein Fortschritt, den vorher gab es über Jahre gar kein Polen mehr. Aber die Russifizierung des polnischen Lebens ärgerte viele und machte aus ihnen Nationalisten. So auch aus dem alleinerziehenden Vater. Die russische Oberschicht im Osten und die deutschen Junker im Westen beuteten seine Leute aus. Für sie waren Polen Kreaturen, die sich billig verdingten und ihrer Rasse entsprechend gar nicht mehr zu leisten imstande waren. Er war ohne Vater aufgewachsen. Seine Mutter hatte ihn deswegen sein Leben lang unter ihrer Kuratel. Sie empfahl ihm dann eine Base als Weib und er ehelichte sie. Er liebte die Frau nicht, aber sie kümmerte sich um seinen Erstgeborenen fast so, als wäre es ihr eigener Hund. Zum Dank machte er ihr weitere sieben Kinder, von denen drei überlebten. Bis ins hohe Alter von 55 blieb er glühender Nationalist, dann gedachte er Polen zu verlassen, legte sich ins Bett und ging.

Der Vater des Nationalisten war ein russischer Landadeliger, der von Schlacht zu Schlacht ritt, um sein Land vor dem Zugriff des Kaisers der Franzosen zu bewahren. Eines Tages nächtigte er mit seinem kleinen Gefolge auf einem polnischen Hof. Und wie sich der Franzosenkaiser eine polnische Gräfin nahm, so gönnte sich der Landadelige eine polnische Magd. Sie brachte ihm Schafskäse und Brot ins Nachtlager, die Besatzer hatten Kontribution verlangt. Dabei sah sie unbeschreiblich schön aus und der Landadelige griff herzhaft zu. Als die Folge jener Nacht ins Licht der Welt schrie, war der Russe schon längst wieder mit den Kürassieren auf vaterländischer Mission. Er fiel keine zwei Jahre später vor den Toren Leipzigs, ohne je zu wissen, in der polnischen Einöde einen Spross gezeugt zu haben. Die Mutter blieb indes ohne Mann, da befleckt. Man nannte sie eine Russenhure, obgleich man keine Beweise für ein etwaiges internationales Stelldichein hatte. Die Vorwürfe stählten sie, machten sie hart – auch gegenüber ihrem Sohn. Sie drosch ihn härter als es die Pädagogik damals empfohlen haben würde. Im Hause ihres Jungen und seines Weibes, eine Hexe wie sich bald herausstellte, schloss sie ihre Augen für allezeit. Die Enkel tanzten um ihren Leichnam und juchzten. Endlich hatten sie die Alte und ihr zahnloses Geschmatze los.

Ihr Vater war ein polnischer Bauer. Weil er ständig an den Stängeln eines Staudenselleries kaute, sie wie eine Pfeife aus Grünzeug im Mundwinkel mit sich trug, gaben sie ihm den Beinamen Peschtak - nach pest, der polnischen Bezeichnung für Staude. Er sah nur einmal in seinem Leben die große Stadt, verbrachte den Rest seines Lebens auf dem Gut seines Herrn. Er sah dort Menschen kommen und gehen. Doch er blieb wo er war, bis er sich zum Sterben niederlegte.

Auch sein Vater war ein polnischer Bauer. Er sah die große Stadt nie und vermisste nichts. Sein gesamtes Leben verbrachte er auf dem Gut seines Herrn. Er sah dort Menschen kommen und gehen. Doch er blieb wo er war, bis er sich zum Sterben niederlegte.

Auch sein Vater war ein polnischer Bauer. Er sah die große Stadt nie und vermisste nichts. Sein gesamtes Leben verbrachte er auf dem Gut seines Herrn. Er sah Menschen dort kommen und gehen. Doch er blieb wo er war, bis er sich zum Sterben niederlegte.

Und auch sein Vater war ein polnischer Bauer. Er sah die große Stadt nie, glaubte nicht an ihre Existenz und vermisste nichts. Sein gesamtes Leben verbrachte er auf dem Gut seines Herrn. Er sah Menschen dort kommen und gehen. Als ihn sein Weib im Heu mit einem Burschen erwischte, beide mir herabgezogenen Beinkleidern, erschlugen sie ihn und taten so, als habe es ihn nie gegeben.

Der Vater dieses polnischen Bauern kam weit herum. Er sah Kosaken am Don und Jakuten in Sibirien. Als linksufriger Ukrainer handelte er mit urwüchsiger Härte mit seinen Pelzen. Einmal begegnete ihm sogar jener Peter, den sie den Großen nannten und der nominell nicht nur der Zar der Russen war, sondern auch seiner. Er verneigte sich vor ihm und war froh, dass er kürzlich erst seinen Bart geschert hatte. Er hatte von der Ukas des Zaren gehört. Vollbärte wies der annähernd glattrasierte Monarch als rückständig zurück. Irgendwann brachten den Pelzhändler die Geschäfte ins Land der Polen. Er lernte das Töchterlein eines freien Bauern kennen, vernarrte sich Hals über Kopf in sie, heiratete die dreizehnjährige gute Partie, wurde nach kaum einem Jahr erstmals Vater und übernahm die spärliche Scholle, als der Schwiegervater langsam am Wodka verschied. Aber das sesshafte Leben war nicht das, was sich ein leidenschaftlicher Pelzhändler als lebenslängliche Aufgabe vorstellte. Und so türmte er bei Nacht und Nebel und starb Jahre später irgendwo bei den Tungusen kurz vor der Mongolei.

Dessen Vater war ein osmanischer Kaufmann, der den Dnjestr hinaufsegelte und dort mit einer ukrainischen Zofe anbandelte. Die war beileibe nicht schön, aber der Allerbarmer hatte ihr hübsche Wülste und üppige Brüste geschenkt und den Kaufmann segnete er mit einem Auge für Frauen, die genau so aussahen. Wohllüstige Formen hatte der Kaufmann in seiner Heimat eher selten erspäht. Diese Rarität wollte er sich nicht entgehen lassen. Zumal er sich fast kindlich am rötlichen Schimmer ihres Haares erfreute. Und so umgarnte er sie mit allen orientalischen Ehren. Ihr Herr gewährte dem Kaufmann für ein wenig Zimt und noch weniger Safran mehrere Stelldichein. Ihr gemeinsamer Sohn hatte schwarzes Haar und glühende Augen. Er sah aus wie sein Vater, der schon lange wieder seinen Krummsäbel in Istanbul wetzen mochte. Sie verabscheute den Knaben, fand er sähe teuflisch aus und gab ihn in die Obhut ihrer Schwester, der Frau eines dicken Pelzhändlers, der den Bankert behandelte wie sein eigen Fleisch und Blut und ihm später die Geschäfte übertrug.

Der Vater des Osmanen war ein Goldschmied. So wie dessen Vater und der Vaters seines Vaters und eigentlich alle, die davor kamen. Sämtliche Vorfahren hatten Kettchen punziert und Becher genietet, Gravuren gesetzt und Reifchen getrieben. Als die Osmanen vor den Toren Konstantinopels standen, war ein ferner Urahn des osmanischen Kaufmanns gerade dabei, eine Menora zu verzieren. Schon zogen die ersten Türken mit einem lauten »Is tim bolin!« durch die engen Straßen und pflügten Christen nieder. Sie drangen auch in sein Haus ein und sahen den siebenarmigen Leuchter und glaubten irrtümlich, im Haus eines Juden zu sein, den sie als Schutzbefohlenen ansahen. Sie gingen rückwärts zur Türe hinaus und machten entschuldigende Gebärden. Hätte der Goldschmied nicht dem Auftrag des jüdischen Arztes angenommen, Pestinger hätte heute garantiert keine patriotischen Sorgen. Jemand anderes würde seine Stelle auf den Straßen Dresdens einnehmen. Der Zufall hat ihn dort hingestellt und der Zufall hätte ihn gleichwohl ganz woanders hinstellen können.

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Ein Kontingent an unterlassener Hilfeleistung

Donnerstag, 26. November 2015

»Kontingent« ist das neue It-Wort in der Flüchtlingspolitik. Es klingt nicht so herzlos wie eine Obergrenze und sagt dennoch dasselbe aus. Aber neu ist eine solche Regelung nicht. Früher sagte man »Quote« dazu – und die hat Tote toleriert, die so eine Regelung mit sich bringt.

Schon die Vereinigten Staaten hatten ab 1924 eine Kontingentlösung. Sie nannten es nur Quotenverfahren. Auch sie wollten sich seinerzeit vor »Überfremdung« schützen. Besonders die Menschen aus Osteuropa schienen mit dem »weißen Amerika« unvereinbar. Also legte man eine Gesamtzahl, gemessen an der Gesamtbevölkerung von 1890 fest, und zerschnitt das Gesamtkontingent in verschiedene Gruppen, die man quotierte.

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Der Whistleblower und die Schuld

Mittwoch, 25. November 2015

Schon nach dem terroristischen Zwischenfall mit »Charlie Hebdo« - ja, Zwischenfall, denn man vergisst schnell und bald ist Dschungelcamp und die Prioritäten verschieben sich wieder -, gab es »Terrorexperten«, die nachdenklich mit dem Zeigefinger drohten und laut nachdachten: »Uiuiui, ob uns da der Snowden mal nicht einen Bärendienst erwiesen hat?« Denn er hat die Anti-Terror-Überwachung ja publik gemacht und damit einige Überwachungsmethoden unterwandert und verunmöglicht. Alles zu Lasten der Sicherheit. Natürlich kamen solche Meldungen auch aus dem Pentagon. Nur waren die nicht zweiflerisch. Sie sagte es direkt: Edward Snowden trägt Mitschuld und ist terroristischer Helfershelfer. Kaum waren die Pariser Anschläge ausgestanden, gab es erneut solche Wortmeldungen. Wieder soll Snowden eine Teilschuld haben. Wäre er nicht gewesen, hätte vielleicht vielleicht das Blutbad verhindert werden können. Man weiß es nicht genau, keiner hat bislang ein Verfahren eröffnet, um in nicht eingeschlagene Zeitenläufte doch noch hineinzuschauen. Aber wer weiß, was Geheimdienste leisten könnten, gäbe es keine Verräter in ihren Reihen ...

Der »Spiegel« wollte den Vorwurf mal prüfen. Und siehe da, er stimmt nicht. Alles was Edward Snowden an die Öffentlichkeit brachte, hatte keine Auswirkungen auf den Ausgang des Geschehens. Entwarnung also. Snowden ist unschuldig. Ich frage mich indes, ob eine solche Prüfung überhaupt notwendig ist, um den Mann zu entlasten. Etwas anders gefragt: Ist es nicht einerlei, ob Snowdens Aufdeckungen Folgen hatte oder nicht? Ich meine ja, denn sein Whistleblowing wiegt in jedem Falle mehr als die Unterminierung von Bürgerrechten. Und jetzt das Dilemma zwischen Anschlägen und Aufdeckungen in eine kosten-nutzen-analytische Begutachtung zu stecken, geht am Grundsatz vorbei, dass bürgerrechtliche Freiheiten nicht diversen Sicherheitsaspekten geopfert werden dürfen.

Es ist doch ein Hohn, wenn westliche Politiker sich nach terroristischen Akten hinstellen und ihre Bürger beschwören, sie mögen sich nicht in ihrem Tagesablauf stören lassen. »Lasst euch nicht unterkriegen, macht weiter, geht arbeiten und tut, was ihr immer getan habt.« Dann drehen sie sich um und geben ein Interview, in dem sie Zweifel äußern, ob denn Snowdens Offenbarungen nicht ein dicker Fehler waren. Hätte er damals den Mund gehalten, wäre es unter Umständen jetzt ganz anders gekommen. Weitermachen also? Aber nicht bei den Bürgerrechten. Die dürfen nicht weitermachen, die dürfen dem Ausnahmezustand überschrieben werden. Ja, Bürgerrechte sollten sogar eher der Ausnahmezustand sein. Das passt doch nicht zu den Durchhalteparolen. Ist Heuchelei!

Faktisch gibt es Dinge, die nicht verhandelbar sind. Privatsphäre ist so eine Sache. Auch wenn wir rein virtuell mal annehmen, dass der Whistleblower Dinge präsentierte, die in direkter Linie zu den Terroranschlägen der letzten Zeit stehen, was rechtfertigt dann die Ansicht, dass er einen Fehler begangen habe? Wäre sein Schweigen dann richtig gewesen? Wenn man jetzt also Analysen betreibt, sagt man zwischen den Zeilen auch, dass er unter Umständen auch schuldig sein könnte. Ist er aber nicht! Denn Sicherheit ist etwas, was keinen Anspruch darauf haben darf, Bürgerrechte unter sich zu begraben. Denn eine Gesellschaft, die ihren Bürgern nach und nach Garantien entzieht, ist keine Gesellschaft, der wir alle Sicherheit der Welt erhoffen wollen. Solche Gesellschaften definieren wir nämlich allgemein als Diktaturen. Und denen wünschen wir alles - nur keine Sicherheit. Wir hoffen ja meist sogar, dass solche Regimes unsicher sind. Ob Snowden jetzt nun Anschläge ermöglicht hat oder nicht, ist keine zu stellende Frage. Mit der Wahrheit verhandelt man nicht. Auch wenn es wehtut.

Wir müssen uns bei solchen einfachen Weltanschauungen, die uns den Verkünder der Abläufe hinter den Kulissen als Terrorist verkaufen wollen, doch eigentlich fragen, was wir wollen. Ein Gemeinwesen, in dem es erhöhte Sicherheiten bei gleichzeitiger Einschränkung bürgerlicher Freiheit gibt? Oder nehmen wir lieber in Kauf, doch nicht ganz sicher zu sein, um wenigstens unsere Rechte als Bürger unserer Länder zu behalten? Aber auch diese Optionen sind ja nicht ganz richtig, denn Durchleuchtung von Bürgern und Sicherheit haben eh kaum etwas miteinander zu tun. Das eine ist nur der Vorwand für das andere. So wie jener Ausnahmezustand in Frankreich, der jetzt ins Endlose gehen soll und der in der allgemeinen Stimmung der Betroffenheit einfach ausgeblendet wird. Ist es die Sicherheit wert, dass die Polizei in alle Wohnungen eindringen kann, ohne vorher einen Richter kontaktiert zu haben? Oder dass Habeas-Corpus-Rechte außer Kraft gesetzt werden? Es wird ja nicht nur die bösen Jungs treffen, sondern allerlei andere auch. Gibt man einer Regierung Mittel, dann wird sie sie nutzen. Das ist menschlicher Erfahrungschatz, der ja eben zur Ratifizierung von Bürgerrechten führte. Journalisten, Blogger, kritische Stimmen. Alle können sie fällig werden.

Was genau heißt es eigentlich, wenn der Staatspräsident sagt, die Menschen sollen weitermachen und sich nicht beirren lassen, wenn sie im gleichen Zuge in einem abgeschalteten Rechtsstaat auf Monatsfrist leben müssen? Und was sollen wir Bürger des Westens denn noch verteidigen, wenn uns unser Sicherheitsbedürfnis dazu verleitet, schwer erkämpfte Rechte völlig kampflos aufzugeben? Hätte Snowden Wirkung auf die Sicherheit gehabt, er hätte dennoch richtig gehandelt. Sicherheit schafft man nicht mit Überwachung, sondern damit, die Gefährder zu deeskalieren und die Welt fairer zu machen, damit jeder zu seinem Recht kommen kann.

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#Aufschrei der Dummheit

Dienstag, 24. November 2015

Es sind gute Tage des Anti-Merkelismus und der Kanzlerinnenabneigung. Oberflächlich betrachtet sieht es zumindest so aus. Wenn ich bei Facebook mal gucke, was man mir alles auf meiner Chronik hierzu anbietet und wie viele meiner »Freunde« was zu diesem Thema teilen, dann müsste ich mich eigentlich diebisch freuen. Schließlich kommt die scharfe Kritik, das »Treten Sie zurück, Frau Merkel!« und »Diese Frau ist alternativlos!« ja seit Jahren von links. Merkel war bislang der feuchte Traum von Damen und Herren, deren erogene Zonen eher politisch rechts lagen. Also klickt und gefälltmirt man als jemand, der sich links stimuliert, halt mal auf das Rücktrittsgerede und die Anti-Merkel-Polemik, die man dieser Tage so präsentiert bekommt. Aus Reflex vielleicht. Oder auch, weil man seine Abneigung unter jedes Statement setzen will, das auch nur in jene Richtung tendiert. Sieht man dann aber mal genauer hin, wundert man sich. Denn der jetzt überall aufkeimende Anti-Merkelismus stammt zu großen Teilen aus der rechten Ecke.

Man fällt ja jetzt nicht von Merkel ab, weil sie Großfrauspolitik in Europa betreibt, Sozialabbau begeht, NSU-Aufklärung lahmlegt oder NSA-Aufklärung bagatellisiert. Das ist alles Schnee von gestern. Schnee, mit denen die, die heute kritisieren und zum Rücktritt ermuntern, noch ganz zufrieden waren. Gerade das hat die Frau ja ausgezeichnet, sie entschleunigte überall dort, wo sich das Unrecht beschleunigte. Und dergleichen schätzt man rechts als gutes Brauchtum. Aber dass sie jetzt Flüchtlinge ins Land lässt, Willkommenskultur anrät – das füllt denen das Faß voll. Das war nicht nur der letzte Tropfen zum Überlaufen, es waren ganze Eimer hin zur Flutung. Gut, bei Tageslicht betrachtet, ist ihre Flüchtlingspolitik ein ziemlich oberflächliches Konzept, mehr so was für das deutsche Gemüt und zur europäischen Präsentation. Nach Griechenland im Austeritätskoma braucht das Deutsche wieder ein hübsches Gesicht für den Kontinent. Deutschland hat ja auch schöne Seiten. Wir schaffen das. Also Deutschland aufzuhübschen, den häßlichen Deutschen imagefördernd vergessen zu machen. Die Kommunen müssen dann aber weitestgehend selbst schauen, wie sie es schaffen. Finanzielle Mittel gibt es für sie nur in homöopathischen Dosen. Und genau aus dem Milieu, in dem man Flüchtlinge beleidigt, bespuckt, sie kriminalisiert und pathologisiert, stammen nun die Anti-Merkel-Buttons, die Anti-Merkel-Schautafeln, die Anti-Merkel-Klick-mich-Beiträge.

Neulich hat einer auf einen Artikel verwiesen. Bei Facebook gefiel er vielen. Auch Leuten, denen manchmal das gefällt was ich schreibe. Es ging darum, dass so ein »Experte« nun belegt sah, dass die Bundeskanzlerin durchgeknallt ist. Sie spreche nämlich von sich in der dritten Person. Ein eindeutiges Indiz dafür, dass sie verrückt sei, was er mit halbseidener Medinzinalsprache begründete. In einem Interview habe sie gesagt, dass »die Kanzlerin es im Griff [habe]«. Die Aussage mag eine Lüge sein. Inhaltlich betrachtet. Was hat sie denn im Griff? Der Inhalt ist in jedem Falle verrückter als die Aufmachung der Formulierung. Das müssen die »Linken« doch gut finden, so eine Analyse des geistigen Gesundheitszustandes, oder nicht? Schließlich sind es genau die Stimmen aus jenem politischen Milieu, die mehr oder weniger immer so gegen Merkel geschossen haben. In der dritten Person! Wie ulkig! Und wie irre! Ja definitiv, da muss man geisteskrank sein, wenn man von sich selbst so spricht. Roberto De Lapuente hat jedenfalls im ersten Moment auch sehr gelacht, dann hat er gesehen, um was es eigentlich ging und sich gedacht, dass er mit dieser »Opposition« nicht oppunieren kann. Denn man pathologisierte diese Frau nicht wegen der Form, sondern weil sie Ausländer ins Land lässt und keine Zäune befürwortet. Also suchte man nach Indizien, um sie zu diskreditieren, sie zum Zäuneziehen und Mauerbau zu bewegen. Sie ist für diese Leute bloß irre, weil sie ihr Vaterland verrät. Aber für mich sind Leute irre, die ihr Vaterland abschotten und sich den Weltsorgen verschließen wollen.

Solche Statements kann man natürlich dennoch machen. Jeder hat Senf, den er dazugeben möchte. Meist ist der Senf Käse. Falsch deklarierte Lebensmittel halt. Ein ganz üblicher Betrug in unserer Zeit. Und genau so (be-)trügerisch ist es, solchen Stimmen Likes zu verleihen. Aber letztere kommen tatsächlich häufig auch aus dem Lager derer, die wie die Leute aus meiner »Freundesliste« bevorzugt »Spiegelfechter«, »NachDenkSeiten« oder »ad sinistram« lesen; die »Die Anstalt« gucken und mit Rether, Pispers oder Schramm lachen; die »BILDblog« schätzen und vielleicht schon mal ein Buch von Naomi Klein oder Jean Ziegler gelesen haben. Das irritiert. Nicht alles was gut nach Opposition klingt, ist ja gute Opposition. Mag sein, dass es jetzt Schnittmengen zwischen Rechten und Linken gibt. In der Konsequenz der Sache quasi. Also, dass man die Kanzlerschaft jener Frau beendet sehen will. Aber auch wenn man so konsequent sein möchte, so sind das doch zwei verschiedene Ligen. Nicht jeder Aufschrei, der da draußen verhashtagt wird, ist ja eines Beifalles wert. Das wollte ich gesagt haben, denn nach Social Stalinism ist mir nicht. Ich will die mit mir »befreundeten« Klicker solcher Botschaften nicht entliken und einer großen Säuberung zuführen. Das tun andere dort in meisterschaftlicher Manier. Auch Linke. Unliebsame aus dem Sandkasten werfen: Das mache ich schon seit Jahrzehnten nicht mehr.

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Die Zeiten des Champagners waren mal

Montag, 23. November 2015

Wie Gewalt Gewalt gebiert, lässt sich an der Wirklichkeit gut erkennen. Das heißt, wenn man davon abgeht, hinter dem jeweils aktuellen Terroranschlag nichts weiter als einen Einbruch ins westliche Idyll zu wittern. Der IS ist nicht einfach so auf der Bildfläche erschienen. Er ist das Produkt eines Machtvakuums, das die Amerikaner mit ihren Einsätzen im Irak und in Afghanistan rissen. Das wiederum geschah als Rache nach den Anschlägen auf das World Trade Center, die von einer Terrorbande verübt wurden, deren Chef ein Geschöpf war, das aus dem Kalten Krieg stammte und vom Geheimdienst finanziert wurde. Ein anderes dieser Geschöpfe wurde irakischer Diktator – bis er nicht mehr gebraucht wurde. Man kann die Anschläge von Paris also mindestens bis in jene Zeit zurückverfolgen, da die Vereinigten Staaten ihre Interessen am Hindukusch gegen die Sowjets verteidigten. Es eskalierte seither immer weiter.

Und es wird immer weitereskalieren. Immer brutaler werden. Jetzt bombardieren sie wahllos Stellungen auf dem Territorium, das diese Fanatiker besetzt halten. Dabei sterben Unschuldige. Natürlich auch Kinder. Man wird den Drohneneinsatz forcieren. Auch bei diesem angeblich so zielgenauen Instrument gab es schon unschuldige Opfer. Und was wird geschehen? Erzeugt das Einsicht? Werden die Radikalen Abbitte leisten und es sein lassen? Nein, sie werden es wieder tun. Dann erst recht. Unter Beifall weniger radikaler Muslime, die dann immer mehr finden, dass man sich ja wehren müsse.

Der nächste Anschlag wird kommen. Und es ist ziemlich egal, welche Maßnahmen man ergreifen wird, um dies zu verhindern. Wer mit Todessehnsucht ein Himmelfahrtskommando antritt, der lässt sich nicht aufhalten. Irgendeinen Weg gibt es immer. Was werden »wir« dann tun, nachdem wir neuerlich Anteilnahme und Mitgefühl in die sozialen Netzwerke gepostet haben? Wir werden noch mehr Bombardements anordnen, mehr Drohnen bestellen und das Kriegshandwerk vom Schaltpult aus praktizieren. Wieder werden alte Männer auf Marktplätzen sterben, wieder Kinder ohne Eltern dastehen - oder Eltern ohne Kinder. Die Radikalen werden Zulauf erhalten und sie werden den nächsten Terrorakt in Paris, Brüssel, Washington oder Berlin bejubeln.

»Jetzt ist es Hass! Und morgen?«, titelte vor einigen Wochen die »Zeit«. Sie meinte damit das Verhältnis von Abendlandsern gegenüber Flüchtlingen. Man könnte den Aufmacher durchaus als Leitmotiv des Verhältnisses zwischen Westen und islamischer Welt heranziehen. Der Hass wächst auf allen Seiten. Hier schießen sie Leute in Konzertsälen tot; dort fallen Todbringer vom Himmel auf Krankenhausdächer. Was soll dabei herauskommen? Nichts als Verbitterung und Wut, nichts als Hass und Abneigung bis aufs Blut. Heute ist es noch der Hass. Und morgen?

Wenn man die Spirale der Gewalt mal überdreht hat, dann ist mit moralisch einwandfreien Lösungen eigentlich nicht mehr zu rechnen. Wie soll der Westen nun auf das, was sich Islamischer Staat nennt, reagieren? Intervention führt zu Hass, Bodentruppen zu Krieg – nichts zu tun bedeutet, dass man die dortige Zivilbevölkerung ihren Häschern übergibt, vor allem dann, wenn man parallel dazu die Grenzen für Flüchtlinge schließt. Wahrscheinlich gibt es kein Entrinnen. Wir können nur noch Ergebniskorrektur betreiben, versuchen den gegenseitigen Hass zu kanalisieren, damit nichts noch Schlimmeres daraus erwächst. Aber dazu muss die Kette der Gewalt gesprengt werden. Einer muss damit beginnen. Aber keine Seite wird es tun. Wenn wir aus dieser Geschichte als Menschheit noch irgendwie würdevoll herauskommen wollen, dann nur durch die daraus gezogene Lehre, dass man künftig eben nicht mehr immer noch etwas draufsetzen muss, dass man erlittene Gewalt eben nicht wiedergutmacht, indem man selbst den Todesengel spielt.

Es war vielleicht mal Normalität, dass Interventionen des Westens in bestimmten fernen Weltregionen ohne unmittelbare Folgen blieben. Die Vietnamesen hatten nicht die Mittel, sich über dem Pazifik zu revanchieren. Die Zeiten sind spätestens seit den Neunzigern vorbei. Es kommt auf »uns« zurück. Das muss der Westen aus dieser ekelhaften Situation, in der wir uns aktuell befinden, als Erkenntnis herausfiltern. Westliche Politiker sagen nach solchen Anschlägen ja oft, dass wir uns »unsere Art zu leben« nicht vermiesen lassen dürfen. »Charlie Hebdo« malte dazu ein passendes Cover. Es zeigt einen durchsiebten Franzosen, der trotzdem Champagner trinkt und dem das perlige Gesöff aus den Einschusslöchern plätschert. Das karikiert tatsächlich unsere Haltung. Aber Leute, die Party ist vorbei, die Welt gehört nicht mehr den Konzernen der Industrienationen und den Militärstrategen des Westens. Man folgt einer antiquierten Weltauffassung, wenn man meint, es könne so konsequenzlos weitergehen. Es ist nicht mehr möglich, überall Büchsen der Pandora zu öffnen, Geister zu rufen und dann zu hoffen, dass alles weiterhin gut geht.

Wenn heute afrikanisches Gemüse in Dakar teurer ist als europäisches Gemüse, weil ein Freihandelsabkommen Schutzzölle verbietet, dann kommt das auf uns zurück. Entweder in Form von Menschen, die aus ihrem Elend in den Teil der Erde flüchten wollen, in dem sie sich mehr ausrechnen. Oder eben, weil sich welche radikalisieren und genug haben von diesem Kolonialismus 2.0 und seinen Folgen. Drohneneinsätze stärken nicht das Vertrauen in das, was man hier in Sonntagsreden »westliche Werte« nennt – sie bringen Tod und es klingt zynisch für jemanden, der etwas von westlichen Werten hört und dabei das Foto seiner Schwester im Blick hat, die versehentlich bei einem solchen Manöver in Stücke gerissen wurde.

Die Zeiten des Champagners, um mit »Charlie Hebdo« zu sprechen, sind endgültig vorbei. Diese Einsicht ist notwendig, um die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Man kann nicht annehmen, dass man dann eine friedliche Koexistenz mit dem IS finden wird. Wie gesagt, man hat die Spirale überdreht. So weit, dass man moralisch nicht mehr rausfinden wird. Jeder Lösungsansatz wird unmoralische Aspekte bergen. Diese Radikalen sind ja auch sicher keine Diplomaten. Jetzt bleibt nur, so glimpflich wie möglich aus der Sache zu kommen. Aber das geht nur mit einem Kurswechsel. Der Atlantizismus hat über seinen Verhältnissen gelebt. Erlebte zu lange keine Gegenwehr. Wie wäre es zur Abwechslung mit Respekt gegenüber Völkern, die sich nicht dem westliche Modell unterworfen haben? Sich die Erde untertan machen war eine nette Parole, als es noch Schwerter gab. Selbst im Zeitalter von Schusswaffen war es noch möglich. Aber die globalisierte Welt, die ja sprichwörtlich immer enger zusammenrückt, rückt auch alles, was in der Welt geschieht und was von »uns« getan wird und Folgen zeitigt, näher an uns heran.

Dieses Spiel ist aus. Wir brauchen einen neuen globalen modus vivendi. Keine Rachepolitik, keine neue Gewalt, keine noch bessere Drohnengeneration oder fleißige Bomberpiloten. Nichts was mit dem IS dann geschehen mag - ob Intervention oder Heraushalten -, wird hohen moralischen Ansprüchen genügen. Aber man könnte daraus lernen, dass sich Eskalation nie mehr wiederholen darf. Wenn es denn überhaupt Interesse bei den Eliten gibt, dem Hass etwas entgegenzusetzen, was nicht auch Hass ist. Und exakt da, so kann man meinen, scheitert das hier geäußerte Ansinnen.

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Die Bob-der-Baumeister-Parole und die Klimapolitik

Freitag, 20. November 2015

Das was nun im Kielwasser der VW-Abgasgeschichte ans Licht kommt, nämlich die Erklärungen des Ingenieurs, der für die Aufdeckung verantwortlich ist, belegt gleich mehrerlei. Einerseits sieht man mal wieder, wie sehr Konzernleitungen an der Realität vorbei Belegschaften unter Druck setzen. So sehr, dass die dann zu unlauteren Mitteln greifen, um die Vorgaben erfüllen zu können. Andererseits muss man sich fragen, ob denn die vielen Verkündungen in Sonntagsreden zur Klimapolitik überhaupt realistisch sind. Wenn es nämlich einem Automobilkonzern nicht gelingt, den CO2-Ausstoß um 30 Prozent zu mindern, wie will man dann die mittelfristigen Ziele der Weltklimakonferenzen umsetzen? Können wir die Klimaverträglichkeit innerhalb der herrschenden ökonomischen Regeln überhaupt herstellen oder braucht es nicht eine grundsätzlich neue Ökonomie?

Man wirft Managern und Konzernleitern ja gerne vor, dass sie weltfremd seien. Sie wüssten nicht, wie es unten an der Basis zugehe. Sie wüssten nichts von Armut und gesellschaftlichen Problemen. Oder wollten es nicht wissen. Nur in ihrem Mikrokosmos seien sie Herr ihrer Sinne. Aber auch das ist in den meisten Fällen falsch. Martin Winterkorn kann da nun als Beispiel herhalten. Weil es opportun war, einfach mal eine Reduktion der CO2-Werte bei diversen Volkswagen-Modellen in Aussicht zu stellen, hat er es eben getan. Von den technischen (Un-)Möglichkeiten wusste er nichts. Das ist ja auch nicht seine Baustelle. »Wir schaffen das!« ist eine tolle Devise. Die Bob-der-Baumeister-Parole, die man immer dann hört, wenn Geschäftsleitungen und Staatsführungen über die Köpfe derer, die es dann ausbaden müssen, einfach mal für Stimmung sorgen. Das ist die Aufmunterungsstrategie aus Esoterik-Zirkeln. »Glaubt an euch!«, »Gemeinsam packen wir es!«, »Et hätt noch emmer joot jejange!« Sätze ohne Konkreta eben. Wir schaffen es aber eben nicht, wenn man den Kommunen und Ländern nicht genügend Gelder für die Flüchtlingsversorgung genehmigt. Und wir drosseln den Ausstoß eben nicht einfach mal um 30 Prozent, nur weil es jemanden aus dem Führungspersonal gerade passt und weil er sich in solchen Aussagen im Greenwashing seines Unternehmens sonnen will.

Am Ende steht der Druck. Für die, die sich anhören müssen, dass es geschafft werden muss. Die müssen es eben packen. Das hat was Stalinistisches, hat was von der Erhöhung der Arbeitsnormen. Wie man die Mehrarbeit, dieses Immer-mehr-und-noch-mehr verwirklicht, keine Ahnung. Da waschen die Parolenschwinger ihre Hände in Unschuld. Sie geben nur Losungen aus. Macht ihr mal. Ihr werdet schon einen Weg finden. Wer lange genug unter Druck gesetzt wurde, der findet immer Mittel und Wege.

Beruhen die ohnehin eher zögerlichen Beschlüsse der vielen Klimagipfel eigentlich auf wirkliche Bereitschaft oder sind das auch nur solche Parolen? Das ist es doch, was wir uns nach der VW-Geschichte fragen sollten. Wenn es einem großen Konzern nicht gelingt, seine Ausstöße zu reduzieren, wie will man dann die ganze Weltwirtschaft bekömmlicher für das Weltklima machen? Sind die Weltkonzerne, also diese finanziell mächtigen Kettenglieder der Weltwirtschaft, überhaupt wendig genug, eine Wende hinzukriegen? Oder braucht es dann nicht zwangsläufig Fake-Programme, um eine erhöhte Umweltverträglichkeit vorzugaukeln? Tut man nicht wenigstens so als ob, um sich moralisch schadlos zu halten, um vor Shitstorms und Boykotten geschützt zu werden?

Naomi Klein behauptet in ihrem letzten Buch »Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima«, dass innerhalb der gegebenen ökonomischen Prämissen, dem unregulierten Markt also, kein Wandel gelingen kann. Das Ideal des freien Marktes sei außerdem so präsent in Wirtschaft, Politik und Medien, dass ein ökonomischer Schwenk hin zu einem gezielten Ökologismus, der Ressourcen eben nicht wild ausbeutet, sondern mit ihnen verantwortungsvoll umgeht, überhaupt nicht denkbar ist. Ein solcher Wandel würde die herrschenden Eliten gefährden. Also gäbe es Greenwashing, ein Blendwerk, das mal mehr mal weniger mit dem grünen Gedanken kokettiert. Und genügend Vertreter der Eliten, die dieses Konzept in der Öffentlichkeit hochhalten, während global gesehen weiterhin die Perversität eines entfesselten Wettbewerbs eigentlich gar keinen Spielraum lässt, um sich um Nebensächlichkeiten wie den Zustand unserer Erde zu kümmern.

In den Zeitungen liest man jetzt viel über den inneren Zustand von Volkswagen. Aber der äußere Umstand, der diesen Betrug erzeugte, ist eher ein rares Thema. Und wie es um den Klimaschutz steht, ob die Forderungen in dieser Wirtschaft überhaupt umsetzbar sind, fragt sich nach der Affäre auch kaum ein Medium. Für die Mehrzahl der Medien gilt auch Bob, der Baumeister. Wir schaffen das. Eine Affäre ist doch nur eine Affäre. Ein bedauerlicher Einzelfall. Das Versagen von einigen Ingenieuren und von Winterkorn. Wir schaffen das. Wenn wir die faulen Äpfel aussortiert haben. Dann volle Kraft voraus. Die Klimakanzlerin wird demnächst wieder sagen, dass wir es schaffen. Ob das dann stimmt, ist nicht mehr ihr Problem.

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Der verschwiegene Wirtschaftsweise

Donnerstag, 19. November 2015

Die meisten Wirtschaftsweisen arbeiten ein gemeinsames Jahresgutachten aus. Und dann gibt es da noch einen Sachverständigen, der zwar auch Teil dieser illustren Runde ist, aber nur Minderheitenvoten streut. Obgleich er das Jahr für Jahr tut, kommt er öffentlich so gut wie gar nicht vor.

Ich wollte mal wieder wissen, was es Neues da draußen gibt und klickte, wie ich es meist tue, wenn mir danach ist, auf die NachDenkSeiten. Dort war zu lesen, dass wieder das Jahresgutachten der so genannten Wirtschaftsweisen veröffentlicht wurde. Und als Anmerkung stand dabei: »Peter Bofinger - auch Wirtschaftsweiser - hält in seinem Minderheitsvotum, das ebenfalls Teil des Jahresgutachtens ist, dagegen. Leider versäumt es die Tagesschau, darauf entsprechend hinzuweisen.« Diese Passage ist nicht weniger als der Running Gag jener NachDenkSeiten. Kaum wird es November, so bringen sie ihn. Immer wenn das Gutachten herausgebracht wurde, merkt man auf jener Website explizit an, dass es ja noch ein Minderheitsvotum gibt, das der herrschenden Lehrmeinung nicht entspricht. Sie tun das, weil es in der Öffentlichkeit unter den Teppich gekehrt wird.

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Das journalistische Jahrhundert ist vorbei

Mittwoch, 18. November 2015

Es liegt an den persönlichen Eigenschaften, wenn man arbeitslos wird, nicht wahr? Bezwecken niedrige Steuern für Millionäre wirklich ein Hausse des allgemeinen Wohlstandes? Überwachung ist doch gleich Sicherheit? Bedingt die »Jahrhundertreform« Hartz IV nicht folgerichtig einen hohen DAX? Ist Homosexualität denn etwa nicht die Ursache für Geburtenrückgang und den demographischen Wandel? Oder liegt es am Rückgang der Störchepopulation? Ist blond gleich blöd? Was A und B eigentlich jeweils miteinander zu tun haben? Wenig bis gar nichts. So wenig wie die Anschläge von Paris am vergangenen Wochenende mit den Flüchtlingen, die nach Europa strömen. Aber dass man A sagt und B meint oder schlussfolgert, obgleich beide Buchstaben nichts miteinander zu tun haben, obwohl das eine ein Vokal und das andere ein Konsonant ist, ist in diesem Land schon lange zu einer Regelmäßigkeit geworden. Konklusion bedeutet hierzulande, dass man wild Dinge miteinander vermischt, die nur recht dürftig in Relation stehen.

Man konkludiert und deduziert, leitet her und ab, kombiniert und folgert, zieht Schlüsse und Quintessenzen, präsentiert Resultate und Ergebnisse und verbandelt dabei Prämissen, die gar nichts miteinander zu tun haben. Das ist die traurige Wirklichkeit, in der sich die Logik dieser Tage befindet. So haben also Terroristen, die sich vermutlich auf den Islam beziehen, einen Massenmord verwirklicht. Prompt zieht man den Schluss, dass das die bitteren Folgen der Flüchtlingspolitik seien. Damit müsse es nun ein Ende haben, damit Europas Städte sicherer werden. Weil man sie hereinlässt und nicht mit Waffengewalt raushält, kam es also zu diesen Anschlägen in Paris. Logik ist eine kühle Angelegenheit, man sondiert die Prämissen, prüft ihren Gehalt. Taugen sie zum Syllogismus? Oder sind sie eher was für Stochastik? Kann man die Voraussetzungen und Annahmen in Relation setzen oder kollidieren zwei Sachverhalte, weil sie sich nicht auf einen Wesenskern reduzieren lassen? Da muss man schon Analyst sein, cool bleiben. Am Wochenende war mal wieder keiner cool. Alle waren sie aufgeschreckt, emotional durch und durch, voller Betroffenheitsrhetorik. Ob Zeitungen und TV-Sender: Gefühle allerorten. Dabei gilt: Gefühle zu ihrer Zeit, die Logik braucht aber ein anderes Zeitempfinden, ein anderes Milieu.

Und dann kommen eben »logische Schlüsse« heraus, die nichts Logisches in sich bergen. Was haben Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten müssen, weil ihnen Elend oder gar der Tod droht, mit den Terroristen zu tun, die den Tod bringen? Oder anders gesagt: Diese IS-Soldaten sind ein Grund, wieso Menschen aus Syrien fliehen. Wer A und B in einem Satz nennt, kommt nicht automatisch auf das gesamte Alphabet. Er zeigt letztlich nur, dass er die ersten Buchstaben beherrscht. Den Rest aber offenbar nicht. Denn unter den vielen anderen Buchstaben, unter die man allerlei Vordersätze zur logischen Ableitung ordnet, die dann zu Vollendung eines Schlusses benötigt werden, steht eben geschrieben, dass die Flüchtlinge nicht die Terroristen bewirken, sondern vor eben jenen getürmt sind. Aber wer eben nicht kühl an die Logik geht, wer in Wallung ist, der übersieht eben Dinge. Dieses philosophische Fach sollte eben nicht mit Tränen in den Augen praktiziert werden. Und auch nicht mit Speichel in den Mundwinkeln. Journalisten sollten daher die Tränendrüse nicht drücken und sich mit einem Taschentuch die Lippen abtupfen. Damit sie logisch bleiben können.

Aber wir kennen das ja. Es ist ja nichts Neues. Jetzt eben die Anschläge von Paris. Im Kleinen und im Großen kennen wir aber emotionalisierte Logik, die Prämissen verbindet, die sich gar nicht logisch ergründen lassen. Dass beispielsweise nicht angetastete Millionenvermögen uns allen zu Gute kommen, ist eine beliebte Sentenz unserer Zeit. Wenn A reich bleibt, geht es auch B gut. Das ist die einfache Induktion. Ob das logisch haltbar ist, kann allerdings nur der kühle Kopf ergründen. Aber da Medien und Politik dauernd überhitzt sind, nie cooldownen, wie man das heute nennt, kommen eben verquere Theorien dabei heraus. Auch dass Hartz IV der Schlüssel zur niedrigen Arbeitslosigkeit ist und demnach dem DAX nutze, stimmt so ja nicht. Aber die Logiker des Systems sagen es genau so.

Natürlich haben Flüchtlinge und Terroristen schon etwas, was sie verbindet. Wie oben beschrieben. Flüchtlinge sind nicht die Ursache, sie sind die Wirkung, die die Gewaltbereitschaft erzeugt. Man ist in einem Verhältnis aus Furcht verbunden. Nicht aus Überzeugung und Komplizenschaft. So ist es ja mit Hartz IV und dem DAX auch. Deutsche Exportunternehmen wachsen und gedeihen, weil die Löhne stagnieren und daran hat auch Hartz IV mitgewirkt. Hartz IV ist nicht die Ursache. Sie erzielt Wirkung auf dem Rücken derer, die sich nicht wehren können. Überwachung und Sicherheit haben auch was miteinander zu tun. Nur nicht das, was man allgemein als logische Beschaffenheit behauptet. Man überwacht nicht und flugs ist alles sicherer. Man überwacht und prüft die Sicherheit, damit man noch mehr überwacht, weil man immer noch ein Loch, noch eine durchlässige Stelle findet. Es ist eine Tautologie großer Bruderschaft.

Wir sind es in dieser Mediokratie so gewohnt, einfach mal A und B in einen Satz zu vermengen und dies schon als die logische Schlussformel zu verwenden, dass wir nach Paris als Gesellschaft gar nicht mehr fähig sind, die Prämissen zu prüfen. Man hat uns das Prüfen abgewöhnt. Die Medien und die Politik sind Stichwortgeber und Prämissensetzer. Sie werden es schon geprüft haben. Man muss ja zugeben, der Mensch war nie anders. Schon vorher war er ein schlechter Logiker in seinem Alltag. Dass der Jude schuld sei, dass Deutschland den ersten großen Krieg verloren habe, war so ein Beispiel undurchdachter Logik. Dass die Frau, die gut mit Kräutern heilen konnte, ja irgendwie teuflische Mächte im Bund hatte, war ein Vorläufer dieser Unlogik. Aber mit den Massenmedien innerhalb einer Demokratie und den professionellen Journalismus meinte man irgendwann mal, dass man diese Haltung abschaffen oder wenigstens eindämmen könnte. Wenn jemand kühlen Kopf bewahrt, wo die Masse mit Wut, Hass und Tränen aufwartet und die Politik mit Machtwillen, dann musste doch die Vernunft und die Logik zu ihrem Recht kommen. Der Journalist sollte diese Aufgabe übernehmen. Die vierte Gewalt im Staate sein. Die Puplikative. Die entemotionalisierte Instanz, die sich philosophischer Mittel bedient und der Ratio zur Durchsetzungskraft verhilft. Aber irgendwie kam alles anders.

Der heutige Journalismus ist fast nur eine emotionale Angelegenheit. Kühl schreibt keiner mehr. Man macht sich mit der Betroffenheit gemein, weil man so die Auflage steigert. Und weil man keinen Shitstorm auslösen will. Zwischen den Zeilen gibt es sicher Kommentatoren, die es geraderücken wollen, die Kolumnen schreiben und wie Pluralismus wirken innerhalb des Chores der Unlogiker. Aber was Logiker in einer Meute von Gefühlsmenschen sind, weiß man gemeinhin: Sie werden als kalte Mitmenschen deklariert, die nicht weinen, wo man weinen sollte. Die nur konkludieren und induzieren und dabei so unterkühlt wirken, dass es einem fröstelt. Man will es aber schön warm haben. Dass Coolness die eigentliche Aufgabe des journalistischen Metiers wäre, haben wir verdrängt. Wir wollen so sein wie die Hexenverfolger. A und B sagen und im Recht sein. Auf die Logik sei geschissen. Das hier ist das postjournalistische Zeitalter, indem es unlogisch zugeht.

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Aus fremder Feder

Dienstag, 17. November 2015

»Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.«
- Antonio Gramsci, »Gefängnishefte« -

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Der Seehofer hat seine Familie doch auch nicht nachgeholt

Montag, 16. November 2015

Vor zwei Wochen saß die Schauspielerin Natalie Wörner im Studio von hr3 und gab den »Sonntagstalk«. Das Gespräch mit ihr war nicht sonderlich interessant. Ich bestrich mein Brot mit Butter und lauschte nur halbherzig hin. Es ging um ein Buch, das sie geschrieben habe. Irgend ein Befindlichkeitsding über Heimat. Nichts was von Bedeutung ist. Und dann ging es um Flüchtlinge. Jeder hat eine Meinung dazu in diesen Tagen. Man fragt sie ja auch alle. Egal ob Maffay oder Wörner. Und die Wörner engagiert sich. Das ist gut. Weniger gut ist, wenn sie so tut, als sei Hilfe ganz einfach zu leisten. Sie schaffe es schließlich auch. Dieser Umstand ist leider nicht jedem beschert. Zwischen Job und Kind ist Charity manchmal einfach nicht drin. Dazu sagte sie aber nichts. Und sie lobte Merkel und die Regierung. Sie lobte sie, obgleich de Maizière keine 48 Stunden vorher erklärt hatte, dass syrische Flüchtlinge keine Familiennachzug erleben würden. Diese Äußerung bestätigte eines: Dieser Regierung geht es nicht um Hilfe, es geht ihr um den Kampf gegen Flüchtlinge. Aber genug Menschen gehen dem Geschwätz Merkels auf dem Leim. Eben auch die Wörner.

Neulich schrieb ich ja von der symbolischen Regierung, also von einer Staatsführung, die sich besonders auf Symbolpolitik versteht. Man konnte es ja ahnen, jetzt weiß man es: Die merkelistische Flüchtlingspolitik war auch nur so ein symbolischer Akt. Dass man nämlich jetzt ausgerechnet jene Flüchtlingsgruppe »in den Griff« kriegen will, die man bis kürzlich noch als besonders schützenswert kategorisierte, zeigt auf, wie man den Kurs dieser Regierung verstehen darf. Bis neulich sagte man, dass die Syrer ja mit drei Fronten zu tun hätten. Quasi eingekesselt seien. Die Welt schaue schon viel zu lange weg. Das gehe nun nicht mehr. Man sah die Kanzlerin, wie sie in Camps poste, wie sie Flüchtlingen Selfies mit ihr erlaubte und aussah wie eine, die diese Menschen nicht im Stich lasse. Nun hangelt sich ihre Regierung von Vorschlag zu Vorschlag. Zäune und Mauern wurden zunächst abgeschmettert – Fortsetzung folgt sicherlich. Innenminister de Maziéres Einwurf wurde jedoch nur leise entkräftet und gleichzeitig sprach Merkel dem Herrn ihr Vertrauen aus. Warum auch nicht? Man munkelt ja ohnedies, dass der Mann nur sagte, was auf der To-do-Liste der Regierung auf alle Fälle noch stehe: Keine Familien für Syrer.

Und wenn Frau und Kind auch weiterhin im Bürgerkrieg verweilen: Kein Zuzug. Abwarten. Tee trinken. Und fürchten sie auch täglich um Leib und Leben, vermissen den Vater, leiden an den Ängsten, die ein Krieg mit sich bringt und gleichzeitig am Verlust eines geliebten Menschen: Nur die Ruhe. Gemach. Ihr kommt hier nicht rein. Weil die Botschaft einerseits nur mit Eintrittsgeld zu betreten ist. Und weil man nun ganz generell ein Zeichen setzen will: Wer die Flucht schafft, der kommt fürs Erste rein. Wer sie nicht antritt, sollte sich von seinem Partner oder Vater verabschieden. Sucht euch neue Lebensgefährten und Erziehungsberechtigte! Wäre der Herr Gemahl und Papa mal daheim geblieben und nicht getürmt. Das ist Darwinismus pur. Die Starken kommen durch und haben eine Mini-Chance, die dann als Asylantrag abgewiesen werden wir. Die Schwachen bleiben zurück und sind der Not ausgeliefert. Wer nicht selbst den Parcour meistert, bei dem man um Leib und Leben fürchten muss, der wird halt im Bürgerkrieg ausgemerzt.

In Wirklichkeit sind die Zurückgelassenen ja auch Flüchlinge. Wenn auch verhinderte. Es sind eben Leute, die aus welchen Gründen auch immer, eine Flucht nicht antreten konnten. Wie gefährlich eine Flucht zum Beispiel für Kinder sein kann, sah man vor einigen Wochen, als das Bild von dem toten Jungen am Strand um die Welt ging. Wenn man nun den Menschen aus Syrien erklärt, dass der Familiennachzug ausgesetzt wird, man also schon selbst flüchten muss, um mit seinen Lieben wiedervereinigt zu werden, dann nimmt man in Kauf, dass es weitere tote Kinder, Frauen und Männer gibt. Vor einigen Wochen stand diese Politik noch da und vergoss Tränen ob solch tragischer Folgen und Bilder. Sie wollte den Schlepperbanden ans Leder oder – und das sagte man wohl, weil das Bild des toten Kindes drastische Worte des Trostes forderten – deren Markt trockenlegen und irgendwie sichere Routen schaffen. Heute ist das halbwegs vergessen und man sagt den Familienangehörigen unumwunden: »Wenn ihr kommen wollt, geht es nicht offiziell, ihr müsst flüchten wie eure Lieben, die schon da sind. Fragt sie doch mal, wie der Schlepper ihres Vertrauens hießen und handelt einen Massenrabatt aus.«

Gut, fairerweise muss man ja sagen, dass das noch nicht die Agenda ist. Merkel behauptet ja immer noch, nichts von etwaigen Vorschlägen gewusst zu haben. Das kann schon sein. Oder aber auch nicht. Dass sie gestern das sagte um heute etwas völlig anderes zu machen, ist bei ihr ja ständig vorgekommen. Warum also nicht auch jetzt? Sobald sie innerhalb der eigenen Partei ins Schwimmen gerät, wird sie »umdenken«. Und in der eigenen Partei sind es ja nicht wenige, die einen Kurs wie den des de Maizière befürworten. Schäuble. Seehofer. Letzterer sagt sich wohl, er habe seine Familie ja auch nie nach Berlin nachgeholt und es überstanden. Er suchte sich halt eine Übergangsfrau und hat so diese schwere Zeit überbrückt. Man muss eben ein ganzer Mann sein und seine Einsamkeit so gestalten, dass Mann es aushält. Auch ohne Kind und Kegel. Aber das wollen sie ja auch nicht. Vielleicht war de Maizières Äußerung aber auch nur ein Testballon, der einfach mal abchecken und ankündigen soll, was einer der nächsten Schritte sein wird.

Familienpolitik war der Union ja immer wichtig. »Die Familie, in allen ihren möglichen Ausgestaltungen, gilt als fundamentaler Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens und bedarf Schutz und Förderung«, schreibt die Junge Union Bayern auf ihrer Webpräsenz. Vater, Mutter, Kind hält man unter Neocons für die Traumkonstellation. Daher ja die Ablehnung gegenüber Mann und Mann, die im Regelfall ja nicht mal ein Kind haben. Aber die Traumkonstellation ist halt auch nur traumhaft, wenn die Leute aus guten Verhältnissen kommen und nicht aus dem Bürgerkrieg. An solchen Vorschlägen zeigt sich, wie ernst solche Leitmotive gemeint sind. Auf Familie kann nun also verzichtet werden. Das hat dann auch den Vorteil, dass man weiterhin predigen kann, dass die Fremden »unsere Frauen« lüstern ansehen. Und das, liebe Deutsche, darf in Deutschland nur der Seehofer.

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Ein Saftladen namens Demokratie

Freitag, 13. November 2015

Die zwei Frauen stiegen irgendwo auf Höhe der »Frankfurter Allgemeinen« ein. Speyrer Straße oder Güterplatz. Ich weiß es nicht mehr. Sie unterhielten sich angeregt. Klangen aber sehr pikiert, wie Leute, über deren Wichtigtuerei man lacht, wenn man gerade nichts Wichtigeres zu tun hat. Aus deren Gespräch war zu vernehmen, dass es sich um Frauen handelte, die irgendwie in einer Redaktion zu tun hatten. Eben bei der FAZ oder bei der »Rundschau« gegenüber - ich weiß es nicht. Vielleicht liege ich ja auch völlig falsch. Sie sprachen von Redaktionssitzungen und von »einer Frage der Demokratie«, die »uns in Zukunft immer mehr beschäftigen« würde. Oh, sie klangen wirklich wichtig und ich spitzte die Ohren. »Das Thema wird bald ganz groß sein«, sagte die eine. Die andere lispelte und sagte: »Das-s müss-sen wir auf die Agenda bringen. Am Donners-s-tag is-st es-s aber vielleicht noch z-su früh.« Es klang bedeutend, ja schwerwiegend, ich dachte an Grundsatzdebatten und dann sagte die Lispelnde: »Ich habe letz-s-tens-s einen Beitrag bei S-sat 1 ges-s-ehen. Das-s pass-s-t ganz-s gut. Da ging es um S-s-äfte und um die Ents-scheidung von Verbrauchern beim Einkauf.« Die andere nickte und bestätigte, dass das perfekt zum Thema passe.

Tja, da ging mir die Kinnlade runter. Demokratie und der Saftkauf. Das sind also heutzutage Dinge, die nicht mehr ohneeinander denkbar sind. Anders gesagt: Da sind zwei Menschen, die bei den Berichterstattern und Meinungsmachern arbeiten und die tatsächlich in diesen Zeiten denken, es sei eine Frage elementarer Demokratie, dass man als Verbraucher eine konsumstrategische Entscheidung treffen kann. Und nochmals anders gesagt: Dort wo es keine Saftauswahl gibt, geht es der Demokratie ganz beschissen. Ich würde hingegen sagen: Dort wo die öffentliche Meinung von Leuten beeinflusst wird, die derlei für demokratierelevant erklären, geht es der Demokratie wirklich ganz mies.

Während ein Teil des politischen Establishments plant, dieses Land hinter einer Zaun oder eine Mauer zu verstecken, während allerorten Demokratiedefizite und -abbau betrieben werden, während die Aushöhlung des Sozialstaatsgedankens Demokratieverlierer entstehen lässt, während ein Freihandelsabkommen in Lauerstellung auf Machtübernahme wartet, sorgen sich andere um den »demokratischen Konsum«. Das ist nicht einfach nur ein zufällig in der Straßenbahn aufgeschnapptes Gespräch. Es ist die Quintessenz dieser Demokratie, in der wir leben. Sie ist eine Konsumokratie, eine marktkonforme Vertreterin ihrer Art. Manche Leute glauben anscheinend wirklich, dass der mündige Verbraucher gleichzeitig auch ein Mensch sei, der in einer intakten Demokratie lebe. Wer Auswahl habe, der habe auch die Wahl. Dass das auch noch Menschen als These vertreten wird, die sicher nicht zu den dümmsten gehören, macht die Sache umso dramatischer. Und es zeigt, dass man in den »besseren Segmenten der Gesellschaft« irgendwie Prioritäten verloren hat oder schlimmer noch: Sie durch neue ersetzt hat. Die Ökonomie hat die Demokratie beerbt. Oder anders gesagt: Das Politische ist eine Spielart der Ökonomie geworden.

Der Markt regelt eben alles. Nicht nur Arbeitsplätze und Arbeitslosigkeit, sondern auch das demokratische Grundverständnis. Mochten vorherige Generationen von Denkern noch darüber sinnieren, wie Demokratie als ihr Selbstzweck die Strukturen des aristokratischen Staates für sich vereinnahmen könnte, so philosophieren unsere heutigen sozialen Aristokraten nur noch darüber, wie der Konsum demokratisiere. Die zwei Frauen jagten keinem Spleen nach. Sie fühlten nur dem Zeitgeist nach. »Is-s muss-s hier aus-s-teigen, mus-s noch in den S-supermarkt, will noch vergane Bratwur-s-st kaufen«, sagte sie zu ihrer Kollegin. Dann stieg sie aus. Als die Straßenbahn anfuhr, schaute ich ihr nach und dachte mir, dass vegane Bratwurst eben auch nur so ein bisschen Demokratie sei. Man könne sich ja bewusst gegen sie entscheiden und sich das eklige Teil sparen. Aber was genau das hilft, wenn sie uns TTIP überstülpen, wusste ich nicht. Die beiden Frauen hätten es wahrscheinlich gewusst und gesagt, dass das Abkommen ein Demokratiegewinn sei, weil man dann mehr kaufen könne. Auch mehr Saft. Wie solche Leute Demokratie definieren ist klar: Als Saftladen.

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Bitte lasst die AfD nicht vom Verfassungsschutz beschützen!

Donnerstag, 12. November 2015

Nun mehren sich die Stimmen, die die AfD vom Verfassungsschutz beobachtet wissen wollen. Weil sie immer stärker zur neuen NPD wird. Um Himmels Willen, ihr Verfassungsschützer, lasst bloß eure Finger aus dem Spiel. Sonst kriegen wir diese Gesellen nie los.

Die Äußerungen aus dem AfD-Lager waren ja immer schon irgendwie gefährlich. Die neuesten »Ideen« von denen, die eine Alternative dieses Landes sein wollen, sind sogar gemeingefährlich. So in etwa stellt sich einer aus der AfD die Welt vor: Menschen, denen das Schicksal böse mitgespielt hat, bewegen Himmel und Erde, um sich von Schleppern für teuer Geld in Sicherheit verbringen zu lassen, lassen Familien zurück, kämpfen auf der Überfahrt mit ihren Dämonen und psychischen Problemen und werden dann an Deutschlands Grenzen mit Gewehrsalven begrüßt. Das also ist die Alternative, die im Namen dieser Partei schlummert. Man kann einen solchen Vorschlag gar nicht genug verurteilen. Er ist nicht das Hirngespinst eines Politikers, sondern hat verbrecherische Züge. Und mit freier Meinung hat es eben nichts mehr zu tun, wenn jemand Menschen zum Abschuss freigeben will.

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Urvater der Agenda 2010

Mittwoch, 11. November 2015

oder Kein Nachruf, nur eine Richtigstellung.

Heute vor exakt 40 Jahren begann der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Mannheim. Es war der 17. seiner Art seit Kriegsende. Und es sollte um eine Richtigstellung gehen. Man wollte den Linken die Deutungshoheit aus den Händen reißen. Die Seeheimer, die damals noch gar nicht so hießen, weil sie noch nicht im Schulungszentrum der Lufthansa über den Dächern von Seeheim-Jugenheim an der Bergstraße getagt hatten (das geschah erstmals 1978), wollten die Sozialdemokratie wieder ins »rechte Licht« rücken. Sie wollten weg vom Linksruck in den Brandt-Jahren, der dann auf dem Parteitag in Hannover 1973 auch noch programmatisch vereinbart wurde. Die SPD-Rechten wollten ans Ruder. Beobachter schrieben nach Mannheim, dass es den Seeheimern, die wie gesagt noch gar nicht so hießen, durchaus gelang, den neuerlichen Anlauf linker Impulse abzuwenden. Man lobte die Partei für ihren Realitätssinn und war froh, dass nach dem Parteitag von '73 nun einer folgte, in dem der hellrote Konservatismus wieder das Sagen hatte.

Der amtierende Bundeskanzler hatte einige Seeheimer, die also noch gar nicht so hießen, schon im Jahr zuvor in sein Kabinett berufen. Das erzeugte Aufbruchstimmung bei den Parteirechten. Der Kanzler machte sie salonfähig. Selbst war er ja auch ein konservativer Sozi. Immer gewesen. Seine Biographie glich jener von Willy Brandt in so gut wie keinem Punkt. Er sprach viel von Pflicht, aber eher wenig von Wagnissen, die die Demokratie angehen sollte. Später focht er seinen Kampf mit dem Volk aus, das mehr und mehr weg wollte von der Atomenergie und den NATO-Doppelbeschluss ablehnte. Er tat halt seine Pflicht. Auch gegen die Mehrheiten im Volk. Na jedenfalls holte er die Konservativen seiner Partei an die Schalthebel der Macht. Die Seeheimer, die dann bald auch so hießen, legten hier ihren Grundstein als innerparteiliche Torquemadas. Von nun an waren sie der Thinktank, der mehr und mehr die Richtung vorgab. Die Agenda 2010 war Jahrzehnte später ihr Meisterstück. Heute sind ja so gut wie alle Sozialdemokraten Seeheimer. Auf alle Fälle diejenigen, die irgendwas in der Partei zu sagen haben.

Warum ich das ausgerechnet heute zur Sprache bringe? Weil der Kanzler damals Helmut Schmidt hieß. Und weil ich finde, dass der Spruch, man dürfe Toten nichts Schlechtes nachsagen, überhaupt keine Berechtigung hat. Man sollte nicht unfair werden. Da stimme ich zu. Beleidigung in ein frisch ausgehobenes Grab hinab zu schreien, ist nun wirklich keine Art. Aber man darf halt auch nicht unrealistisch werden und Dinge schönen. (Was die alte Junkerin mit Twitter-Anschluss über ihn postete, hat aber mit realistischer Begutachtung nichts zu tun.) Der Mann war nun mal nicht der, den die Zeitungen nun beschreiben. Kein Weltstaatsmann, wie sie »Süddeutsche« heute tut. Kein Lotse, der von Bord ging. Wohin hat er uns denn gelotst? Unter anderem zur Agendapolitik. Indirekt und vielleicht nicht so drastisch gewollt. Er war aber im Grunde auch derjenige, der dem sozialdemokratischen Konservatismus, dieses kuriose Gemisch aus Fortschrittsgläubigkeit bei anhaltender Beibehaltung der Herrschaftsverhältnisse, in die Schuhe half. Man sagt ihm nun in einem Nachruf nach, dass er der Urvater der Währungsunion gewesen sei. Das mag schon stimmen. Aber er war auch der Urvater der Agenda 2010 und von Hartz IV. Er entfesselte die Geister, die später von Seeheim aus die Geschicke der Partei dominierten. Und Hartz IV hat er mehrfach gelobt. Lafontaine, der als Linker gegen dieses Reformpaket war, verglich er gleich mal mit dem Adolf. Das war sicher keine Sternstunde dieses nun über den Klee gelobten Altkanzlers.

Natürlich ist es verständlich, dass man ihm nicht zu knapp gedenkt. Und auch aus gegebenen Anlass Nachrufe schreibt, die auch seine Leistungen betonen. Schmidt war ja ein nicht zu unterschätzender Teil der Bonner Republik, aus der diese Berliner Version hervorging. Er war ein Stück Geschichte. Zum Heiligen taugt er allerdings nicht. Das tut keiner. Nicht mal die Heiligen. Er hatte durchaus Haltung, was man in der Schleyer-Sache gut erkennen konnte. Wie hätte die Wendehälsin, die heute aus dem Bundeskanzleramt heraus waltet, in einer derart schwierigen Lage reagiert? Sie erlebt insofern ihre Gnade der späten Geburt. Nein, sicherlich war Schmidts Zeit als Kanzler schwierig und man mochte nicht mit ihm tauschen. Das muss man anerkennen. Aber unter ihm ging es eben auch los mit dem Abbau von Leistungen und mit Sparmaßnahmen. Der Anspruch, die Ausgestoßenen dieser Gesellschaft nicht zu Parias werden zu lassen, schwand nicht erst im mit Schröder. Schon damals wollte die Sozialdemokratie verstärkt zu einer Partei des Mittelstandsbauches werden. Und die Seeheimer, die erst nach und nach so hießen, mischten munter mit. Damals verlor die SPD ihre linken Ambitionen. Fortan war man als Parteilinker ein Exot, der in einer dunklen Ecke saß und als alter Meckerer verunglimpft wurde. Als dann ein Parteilinker nach langen Jahren der Parteirechten fast Kanzler wurde, kam die Wiedervereinigung dazwischen und man musste sich wieder neu erfinden und erfand, als man die Macht Jahre später doch hatte: Die Agenda 2010 und machte die Seeheimer, die jetzt schon lange so hießen, zum Zentralorgan der Partei.

Vierzig Jahre ist jener Parteitag nun her. Jener Kanzler von damals hatte noch einige Jahre im Amt vor sich. Und etliche mehr als a.D. Ich mag keinen Schmutz nachwerfen. Aber Flitter werfen will ich ganz sicher auch nicht. Seine Altersweisheiten waren manchmal wertvoll. Hin und wieder auch unsinnig. Die Legendenbildung fing schon zu Lebzeiten statt. Daher sollte man ihn gerade in der Stunde, da sein Wirken hienieden beendet ist, mit allen Facetten würdigen. Ich sage nicht, dass ich das eben getan habe. Aber das ist auch kein Nachruf, sondern nur eine Richtigstellung: Der Mann mit den besten Attributen, von dem man nun in den Medien erfährt, war auch nur ein Mensch. Manchmal einer, den man nicht leiden mochte. Wer Heilige will, sollte nicht Zeitung lesen müssen, sondern in die Kirche gehen. Alles an seinem Platz bitte.

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Warum flirtest du, Zaid?

Die Übergriffe auf Frauen, ja die Vergewaltigungen, die nehmen nun massiv zu. Wegen der Flüchtlinge natürlich. Das hört man jetzt oft in diesen Zeiten. Und es stimmt wohl. Sie werden mehr. Wenn plötzlich eine Million Menschen mehr im Lande sind, dann werden alle Fälle mehr. Es gibt mehr Herzkranke und mehr Fälle von Magenbeschwerden, Homosexualität, Schwarzfahren oder Liebesbeziehungen. Und eben auch etwaige Übergriffe. Je mehr Menschen, desto mehr »Fälle« und »Vorfälle«. Das vorherzusehen ist wahrlich keine Kunst. Aber machen wir uns doch nichts vor: Auch deutsche Männer vergewaltigen. Sie vergewaltigen deutsche Frauen. Ausländische Frauen. Ganz egal. Frauen eben. Vergewaltiger sind da ziemlich wahllos. Sie brauchen bloß eine günstige Gelegenheit. Es ist vor allem keine Kulturfrage. Solche Übergriffe geschehen überall dort der Welt, wo die Gelegenheit günstig ist.

Das Fremde mit sexuellen Attributen auszustatten, gehört zur ganz alten Rassistenschule. Den Schwarzen sagte man nach, dass sie alles und jeden vergewaltigen würden, wenn man sie nicht domestiziere. Schwarze Frauen hingegen galten als Luder und Flittchen. Beide Geschlechter schwarzer Hautfarbe seien triebhaft und sexuell gewaltorientiert. Noch vor einigen Jahren sagte eine deutsche Fürstin, dass »der Neger [gerne] schnackselt«. Damit stand sie auf dem Boden althergebrachter White Pride. Juden sagte man perverse Sexualpraktiken nach. Und Russen seien auch nur so Gewaltbumser. Südländer wollten möglichst viele Frauen ins Bett befördern und hätten kein Interesse an Monogamie. Außerdem gingen sie ins Bordell, weil man als richtiger Südländer auch Huren vögeln möchte. Ich wurde in jungen Jahren gefragt, ob mein spanischer Vater denn schon meine Volljährigkeit mit einem Puffbesuch gekrönt hätte. Das waren und sind alles so Ansichten aus der Sexualkunde der Rassisten. Nur sie sind anständig, holen sich den Sex brav bei der Ehefrau oder der rechten Hand und finden es unmöglich, dass der Gesetzgeber nun auch zwischen Ehepartner Vergewaltigungsdelikte ahndet. Die Philologen aus Sachsen-Anhalt folgen letztlich nur uralten Ansichten und gestrigen Klischees gegen das Fremde. Und weil sie so antiquierte Parolen an die Schülerinnen weiterreichen wollen, nennt man sie zuweilen auch Altphilologen.

Genug Polemik, denn es trifft schon zu, dass die flüchtigen Männer aus diesem Kulturkreis, nennen wir ihn mal der Einfachheit halber »arabischer Raum«- auch wenn das arg vergröbert ist -, eine andere Haltung zu Frauen haben. Sie pflegen trotzdem wohl Respekt, auch wenn der ganz anders definiert ist als im Westen. Man respektiert Frauen als inoffizielles Familienoberhaupt. Andererseits kann man eben nicht einfach mal zur Tochter eines Arbeitskollegen sagen, dass sie ein »sauberes Mädel« ist, das man »nicht von der Bettkante stossen« würde. Ich hatte einen Kollegen, der genau das gemacht hat. Dummerweise war der Adressat dieser Botschaft ein türkischer Vater und der ging ihm an die Gurgel. Am Ende war der Türke natürlich der böse Mann, der keinen Spaß verstand. Aber es gibt wohl einen Respekt gegenüber der Frau, wie man sieht. Auch wenn junge Männer aus dem »arabischen Raum«, wenn sie denn in der Gruppe auftreten, nicht immer so wirken, als hätten sie Respekt vor Frauen. Aber junge Männer in Gruppen sind immer Vollidioten. Egal woher sie stammen. Wir alten Säcke, die wir als junge Männer auch im Rudel aufgingen, wissen das heute sehr wohl und wollen das Thema nicht allzu vertiefen. Das könnte peinlich werden.

Letztens beobachtete ich in der Nähe einer Flüchtlingsunterkunft zwei junge Männer, mit ziemlicher Sicherheit zwei Personen aus dem Camp. Sie mögen so zwischen 20 und 22 Jahre alt gewesen sein. Sie trafen auf der Straße auf zwei Mädchen, die vielleicht 17 oder 18 gewesen sind. Die jungen Frauen unterhielten sich. Und die beiden Kerle unterbrachen ihren Marsch und blieben kurz auf Höhe der weiblichen Wesen stehen. »Hallo! Wie geht es?«, sagte einer. Die Mädchen guckten leicht irritiert. Sie unterbrachen ihr Gespräch. Die eine sagte »Hallo. Gut.« Sie hielt sich kurz und klang verunsichert. »Was machen ihr zwei?«, fragte der eine der Kerle daraufhin. Die Mädchen schauten einen Moment noch irritierter als vorher und vertieften sich schnell wieder in ein Gespräch, das wie ein Alibi klang. Außerdem gingen sie langsam weiter und entflohen so aus dieser Situation. Der eine Mann sagte zum anderen etwas. Vermutlich auf Arabisch. Beide lächelten ein wenig dumm. Dann gingen auch sie weiter ihres Weges. Das war es. Mehr geschah nicht. Und ich dachte mir: Ja, natürlich haben diese Männer ein anderes Umgangsgefühl mit Frauen. Das kann man nicht leugnen.

Aber ehrlich, würde es manchem jungen Mann mit deutscher Herkunft den schaden, wenn er genauso mutig auf Frauen zuginge? Das ist es nämlich. Wir sind es gar nicht mehr gewohnt, dass wir das andere Geschlecht einfach mal so anquatschen, wenn es uns gefällt. Heute läuft ja alles über Internet. Ein normaler Flirt einfach so, ist gar nicht mehr üblich. Am Arbeitsplatz kommen sich auch die Geschlechter nahe. Das weiß man ja. Doch da hat man auch einen Bezug zum Gegenüber. Aber so beim Einkauf, auf der Straße im Wartezimmer eines Arztes? Wer fängt da einfach ein Gespräch an, lädt auf einen Kaffee ein oder will einfach nur jemanden näher kennenlernen? Es kommt vor, ist aber schon lange kein Standard mehr. Und wer heute sagt »Hallo. Wie geht’s?«, der gilt ja eh als jemand, der nur eine billige Anmache startet. Aber warum sollte man ein Gespräch mit jemanden, den man nicht kennt, den man aber vielleicht näher kennenlernen will, nicht mit genau so einem oberflächlichen Einstieg beginnen?

Wenn wir aus dieser selbstbewussten Haltung herausfiltern wollen, dass der »arabische Mann« ein potenzieller Vergewaltiger ist, dann ist das nicht nur dumm, es zeigt damit letztlich auch, dass wir es verlernt haben, mit dem anderen Geschlecht einfach ins Gespräch zu kommen und wir dieses Verlernen auch noch rassistisch unterfüttern. Früher hat man das hierzulande doch nicht anders gemacht. Junge Kerle waren offensiv, sprachen für sie interessante Mädel wahllos und keck an - und so lernte man sich kennen. Nicht jede Frau mochte das. Aber einige fanden das in Ordnung und so entstanden im optimalen Fall sogar richtige Liebesbeziehungen. Und sicher, manchmal kam auch eine Vergewaltigung dabei heraus. Ausschließen lässt sich sowas ja leider nie. Aber nicht jeder deutsche Mann, der einst so selbstbewusst auftrat, war deswegen gleich ein Vergewaltiger. Konnte er ja auch nicht sein, denn er war ja stets auf der rassisch richtigen Seite.

Die Optimisten sagen ja nun, dass die vielen Flüchtlinge auch Chancen bergen. Und vielleicht ist auch diese Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem anderen Geschlecht etwas, was wir von den Menschen aus Regionen, in denen der zwischenmenschliche Kontakt von Angesicht zu Angesicht noch wesentlich normaler ist als bei uns, lernen können. Woher kommt denn diese hochkomplexe Verkrampfheit, wenn es darum geht, eine Frau anzuquatschen? Das ist doch eine Entwicklung, die keinen Anspruch darauf hat, menschliche Normalität zu sein. Und es war ja auch bei uns nicht immer schon so. Ich plädiere nicht für Machismo, wohl aber dafür, dass man die Normalität des Anquatschens, Anbaggerns oder Flirtens, wie auch immer man das bezeichnen mag, nicht mit Vergewaltigungsphantasien verwechselt.

Noch so eine Geschichte. Ich bin gerade in Laune. Ein junger Italiener, der im Zuge der Krise an Europas Peripherie nach Deutschland kam, verrichtet jetzt einen (Handlanger-)Job in der Firma, in der ich arbeite. Eines Tages setzt er sich in seiner Pause zu einer jungen Angestellten, die in einem anderen Bereich des Ladens arbeitet. Er redet mir ihr, sie finden sich offenbar gegenseitig sympathisch. Er lädt sie ohne viel Gedruckse zum Kaffee ein. »Geh mit mir aus«, sagt er. »Wenn du magst, auch Freitagabend in ein Lokal.« Sie fühlt sich brüskiert. Sowas mache man nicht, beklagte sie sich bei mir hernach. Ich hatte den Verlauf beobachtet und gegrinst und sie fühlte sich vielleicht verpflichtet, mir gegenüber die Szene zu entkräften. »Und warum? Endlich ist da mal ein junger Mann nett und redet nicht um den heißen Brei herum, ohne gleich anzüglich zu werden und dann ist auch nicht richtig«, antwortete ich. Sie nickte als hätte sie mich verstanden und schmachtet nun weiterhin für einen deutschen Kollegen, einen ledigen Jüngling, der sie zwar auch anguckt wie ein Lamm, aber sich offenbar nicht traut, mal Tuchfühlung aufzunehmen. Er hat Glück: Ihm wird man nie nachsagen, er sei ein möglicher Vergewaltiger. Und falls er doch mal einer wird, können es alle nicht glauben, weil er doch so ein anständiger Kerl war und vor allem - kein Moslem.

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Aus fremder Feder

Dienstag, 10. November 2015

»Wir ziehen die Grenzen unserer Persönlichkeit immer viel zu eng! Wir rechnen zu unserer Person immer bloß das, war wir als individuell unterschieden, als abweichend erkennen. Wir bestehen aber aus dem ganzen Bestand der Welt, jeder von uns, und ebenso wie unser Körper die Stammtafeln der Entwicklung bis zum Fisch und noch viel weiter zurück in sich trägt, so haben wir in der Seele alles, was je in Menschenseelen gelebt hat. Alle Götter und Teufel, die je gewesen sind, sei es bei Griechen und Chinesen oder bei Zulukaffern, alle sind mit in uns, sind da, als Möglichkeiten, als Wünsche, als Auswege. Wenn die Menschheit ausstürbe bis auf ein einziges halbwegs begabtes Kind, das keinerlei Unterricht genossen hat, so würde dieses Kind den ganzen Gang der Dinge wiederfinden, es würde Götter, Dämonen, Paradiese, Gebote und Verbote, Alte und Neue Testamente, alles würde es wieder produzieren können.«

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Blähen für TTIP

Montag, 9. November 2015

Die Lebensmittelampel auf Verpackungen von Lebensmitteln würde mir als Laktoseintoleranten wirklich helfen. Seit Jahren ist sie im Gespräch. Und sie wäre für die Lebensmittelerzeuger ja kein Beinbruch. Die sollten ja wissen, was in ihren Sachen drin ist. Hin und wieder fordert jemand dann auch wieder diese Kennzeichnung. Sie soll absolute Transparenz herstellen. Das hätte zur Folge, dass die Verbraucher einerseits wüssten, was sie verzehren und andererseits würden die Konzerne aus Angst vor der Reaktion der Verbraucher, etwaige unpopuläre Inhalte künftig unterlassen und ersetzen. Klingt gut und wäre eigentlich kein großes organisatorisches Ding. Aber leider sind das alles nur Sprüche und ich werde so gesehen auch weiterhin Wurst essen, die undeklariert Milchzucker beinhaltet. Mein daraus resultierendes Bauchgrummeln und der Durchfall sind Erzeugnisse eines vorauseilenden Gehorsams gegenüber dem Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten.

Es gibt gesellschaftlich einen breiten Konsens, TTIP zu vereiteln. Das ist erfreulich. Was weniger Freude bereitet ist der Umstand, dass Freihandelsabkommen dazu verleiten, schon im Vorfeld ihrer Aktivierung auf Linie zu bringen. Und in diesem Sinne ist TTIP schon heute aktiv. Die fehlende Hartnäckigkeit, Lebensmittel ordentlich zu kennzeichnen, dokumentiert das. Man möchte hier amerikanischen Lebensmittelerzeugern einfach nicht auf den Pelz rücken und sie so kurz vor einem Abschluss des Abkommens brüskieren. Es hat außerdem damit zu tun, dass man dem Risiko internationaler Handelsstreitigkeiten aus dem Weg gehen möchte. Daher frieren Regierungen und Behörden Gesetzesinitiativen ein, um etwaigen Folgen aus dem Weg zu gehen. So bleiben Gesetze zum Schutz von Mensch und Umwelt auf der Strecke. Sicher ist sicher. Man nennt dieses Phänomen im Kielwasser solcher internationalen Handelsabkommen »chilling effect«.

Beispiel gefällig? Einige Länder im pazifischen Raum wollen striktere Anti-Raucher-Gesetze einführen, geraten aber, da sie mit den Vereinigten Staaten das Transpazifische Freihandelsabkommen (TPP) aushandeln, an die Tabakindustrie, die zwar faktisch noch keinen Spielraum hat, etwaige Gesetze auszuhebeln, es aber dennoch tut. Man fürchtet sich nämlich, dass nach der Unterzeichnung dasselbe passiert, woran Australien zu knabbern hat. 2012 erließ die australische Regierung ein Gesetz, das Einheitsverpackungen für Zigaretten vorschreibt. Die Marke und die Produktbezeichnung dürfen nicht mehr sichtbar sein. Stattdessen sind auf den einheitlichen Packungen Abbildungen von den Folgen des Rauchens zu sehen. So weit, so gut.

Philip Morris fand das natürlich ungerecht. Und so überlegte man, wie man dieses Gesetz umgehen könnte. Oder wie man wenigstens entschädigt wird. Da fiel der Konzernleitung ein, dass es zwischen Australien und Hongkong seit den Neunzigerjahren ein Investitionsschutzabkommen gibt. Und da der Konzern ja auch eine Niederlassung in Hongkong hat, rettet er sich unter den Schirm dieser Handelsvereinbarung. Denn Philip Morris sieht es so: Man hat in die Verpackung und in die Marke investiert, hat Designer bezahlt und Marketingstrategen eingesetzt. Nun sollen auf dem australischen Markt diese Investitionen umsonst gewesen sein? Wenn man so ein Gesetz will, dann bitteschön. Aber dann stellt man eben die Produktion im Lande ein. Und dafür will man Entschädigungen oder Schadenersatz erhalten. So zog man also vor eines jener privaten Schiedsgerichte, vor denen die TTIP-Kritiker alleweil warnen. Es geht um Milliarden. Mauschelt man dort hinter verschlossenen Türen eine Einigung aus, könnten Milliardensummen auf den australischen Steuerzahler zukommen.

Derselbe Konzern geht auch gegen Uruguay vor und will sich zwei Milliarden Dollar Entschädigung sichern. Für das relativ arme Uruguay wäre eine solche Zahlung eine Katastrophe. Kein Wunder also, wenn Länder, die eigentlich schärfere Anti-Raucher-Gesetze einführen wollen, eher zurückstehen und zunächst mal alle Pläne einfrieren. Bevor es richtig teuer wird, gibt man lieber den politischen Gestaltungsauftrag ab und nickt im vorauseilendem Gehorsam vor sich hin. TTIP wirkt also schon. Und die Nährwertampel bleibt ein frommer Wunsch, damit nachher kein Lebensmittelkonzern einen Hebel hat, wo er ansetzen kann, um sich an den Steuerzahlern des TTIP-Raumes schadlos zu halten. Und so blähen die Laktoseunverträglichen weiter vor sich hin, weil sie keine Ahnung haben, was in der Salami eigentlich genau drin ist und weil kein Warnhinweis deklarierte, dass da Milch verarbeitet wurde. Alles nur, weil das Abkommen schon wirkt, ehe es eigentlich wirken dürfte. Daher bin ich übrigens auch der Meinung, dass TTIP zerstört werden muss.

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§ 140 SGB III, Zumutbare Beschäftigungen

Freitag, 6. November 2015

Sie wollten uns in Bürgerarbeit quetschen. Seit Wochen waren sie in der städtischen Behörde aus dem Häuschen. Bürgerarbeit war ein neues Modell. Bestimmte Kommunen durften sich Hoffnungen machen, dieses neue Konzept als Standort zu erproben. Das gab natürlich Sondergelder vom Bund. Geld erfreut die Herzen. Selbst in Behörden. Also überschlugen sie sich mit Lob, Zuversicht und Aufbruchsstimmung. Die örtliche Tageszeitung machte eifrig mit, druckte ab, was aus den Behördengängen hallte. Mir wurde es indes ganz mulmig, denn ich wusste, das würde nichts Gutes für mich bedeuten. Immer wenn sie einem sagen, dass etwas ganz ausgezeichnet modern und fabelhaft sein wird, und sie nicht selbst davon betroffen sind, dann muss man sich fürchten. Besonders wenn man in die engere Auswahl für diese Wunderbarkeiten kommen könnte. Und genau das war mein Problem. Ich gehörte zum engeren Kreis.

Also ging es auch für mich zur Informationsveranstaltung. Ich wurde dazu eingeladen. Erscheinen war Pflicht, sonst … man weiß es ja. Die Cafeteria des Jobcenters sollte an diesem Abend als Versammlungsort herhalten. Kaffee gab es natürlich keinen für Leute wie mich. Und da waren einige wie ich. Mehr oder weniger. Zwei Referenten nahmen uns in Empfang. Sie sahen weder freundlich aus noch waren sie es. Mit arroganter Miene wiesen sie uns auf die Plätze, nachdem sie die Anwesenheitslisten durchforstet hatten. Dann sollten die Fakten auf den Tisch. Bürgerarbeit halt. Der neuste Coup aus dem Hause »Sozialstaat«. In den Medien las man, dass sie etwas Gutes sei. Eine neue Chance. Der Aufbruch. Die faire Eingliederung und Integration. Die Referenten wussten es besser. Bürgerarbeit hieß etwas ganz anderes.

Im Vorfeld zur Bürgerarbeit, während der so genannten Aktivierungsphase, erklärten sie ruppig ihrem Publikum, müsse sich der Erwerblose rege bewerben. Das war schon mal kein neuer Erkenntnisgewinn. Diverse Eingliederungsvereinbarungen, die ja nicht weniger als der Gegenstand des SGB II sind, regelten das ja bereits.
   »Kunden, die schon seit Jahren nur auf der Couch sitzen und in den Fernseher starren, werden nun also aktiviert werden«, sagte der eine der zwei Typen. Er betonte das Wort »Kunden« schon so zynisch. Der Rest war freilich nicht nur zynisch – es war die klischeebehaftete Sprache der Sozialdarwinisten.
   »Außerdem bieten wir unentgeltliche Praktika an, damit solche Kunden wieder Elan in die müden Knochen bekämen«, erklärte er weiter. Der andere nickte dazu und ergriff dann das Wort:
   »Alleinstehende Erwerbslose haben sich überdies, ganz gleich wie alt sie sind und welchen Familienstand sie aufweisen, fortan bundesweit zu bewerben. Die Region als Arbeitsmarkt alleine reicht nicht mehr aus.«
   Währenddessen deutete der andere auf eine Schautafel, die irgendwas von Flexibilität beschrieb.     
   Wir saßen indes da und waren stutzig, waren sprachlos. Was genau war so neu? Oder anders gefragt: War Bürgerarbeit also genau das, was die ganzen Hardliner eh schon immer forderten? Aber wir hatten es falsch verstanden. Es ging bis dato gar nicht um dieses neue Projekt, sondern um Maßnahmen, die geschehen müssen, bevor man überhaupt die Segnungen dieses neuartigen Konzepts erfahren dürfe.
   »Die allerletzte Option ist dann die Bürgerarbeit, die nur denen zugeteilt werden kann, die nicht im regulären Arbeitsmarkt eingegliedert werden können.«
   Ein Murmeln ging durch die Anwesenden. Wir hatten begriffen, dass Bürgerarbeit bedeutete, den Druck so stark zu erhöhen, dass im Grunde keiner für die Bürgerarbeit in Frage käme.
   »Erstmal in Bürgerarbeit«, sprach einer der beiden Figuren vorne weiter, »werden Sie einer stetigen Begutachtung ausgesetzt sein. Sie erhalten eine für den Arbeitgeber bezuschusste Arbeitsstelle. Es gibt einige Stellen in verschiedenen Branchen. Ihr Arbeitgeber wird aber mit uns rege im Kontakt stehen und Sie begutachten. Wenn Sie sich engagieren, wenn Sie mitwirken, ist es für alle Beteiligten die beste Situation. Fehlt diese Bereitschaft, sollte dem persönlichen Arbeitsvermittler Mitteilungen gemacht werden, drohen selbstverständlich Sanktionen.«
   Er blickte zu seinem Kollegen und nickte ihm zu. Jetzt war er an der Reihe:
   »Überhaupt stehen Sie in dieser Zeit in einem engen Verhältnis zu Ihrem Vermittler. Sie haben sicher in den Zeitungen von Motivationstrainern gelesen. Die gibt es so nicht. Ihr Arbeitsvermittler wird Sie zu motivieren wissen, glauben Sie uns. Sie werden auch weiterhin. Eingliederungsvereinbarungen abschließen, denn auch ein Bürgerarbeiter muss regelmäßig seine Bemühungen vorweisen. Er soll ja einen Job finden, der nicht subventioniert ist.«
   »Die wöchentliche Arbeitszeit beträgt übrigens zwischen 30 und 40 Stunden wöchentlich«, fuhr nun der andere wieder fort. »Man ist da noch nicht ganz sicher. Vermutlich wird das von Einzelfall zu Einzelfall verschieden gehandhabt.«
   »Wie hoch wird denn der Stundenlohn sein?«, fragte einer der Gäste ins Blaue.
   »Auch darüber ist noch nicht entschieden worden. Letztlich ist das auch belanglos, da Sie in jedem Falle nie unter Sozialhilfeniveau fallen werden.«
   Beide sahen nochmal in die Runde und fragten nach, ob denn noch jemand etwas wissen wolle. Als das nicht geschah, beschlossen sie den Abend und gaben uns noch mit auf dem Weg, dass alle Anwesenden bereits am folgenden Tag nochmal zu einem Gespräch zu erscheinen hätten. Das Projekt gehe nämlich jetzt gleich los. Wir würden alle angerufen und sollten uns für ein Treffen mit unseren Arbeitsvermittlern bereithalten.

Ich legte mich kurz nach dem Abendessen auf das Sofa und versuchte zu lesen. Es gelang mir nicht. Da war dieser Druck, den sie mir und allen anderen in Aussicht gestellt hatten. Und ich war wütend, dass keiner aufbegehrt hat, als diese zwei Pinkel anfingen, von Arbeitslosen wie von Schwerenötern zu sprechen. Aber gut, auch ich hielt meinen Mund. Sicher war sicher. Sie hatten einen ja am Wickel. Freie Meinung und Zivilcourage muss man sich leisten können. Ich ging an diesem Abend ins Bett und schlief erst gar nicht, dann schlief ich schlecht. Mir wurde es zu heiß. Arbeit suchen war in Ordnung, wenn auch mittlerweile ein Akt, der nur fatalistische Reaktionen erzeugte. Der Druck war mir hoch genug, ich litt eh daran. Das was jedoch nun drohte, war mir eine Spur zu drastisch.

Am Folgetag ging ich zum Arzt. Er schrieb mich krank. Meine psychische Verfassung erlaubte das. Kaum zurück daheim klingelte das Telefon. Wahrscheinlich der Arbeitsvermittler. Ich ließ es klingeln, steckte meine Krankmeldung ins Kuvert, beschriftete das Ding und warf es in den Briefkasten um die Ecke. Ich war ihnen entkommen. Drei Wochen später scheiterte das große Projekt mehr oder weniger und wurde eingestampft. Wieso? Keine Ahnung. Vielleicht war ihnen etwas noch Gröberes eingefallen. Ich würde es sicherlich erfahren.

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