Jede Zumutung ist Arbeit

Mittwoch, 10. Juli 2013

oder Aus der Gosse des Arbeitsmarktes.

Der Roman Faktotum könnte als Dokument der heutigen Arbeitswelt durchgehen. Könnte. Es gibt nur ein Problem. Er ist schon aus dem Jahr 1975 und beschreibt die Situation der arbeitenden Unterschicht im Amerika der Vierzigerjahre. Na ja, und er stammt zudem vom Dirty Old Man, der ja nicht jedermanns Geschmack ist.

Charles Bukowkis Alter Ego Henry Chinaski hangelt sich von Job zu Job. Meist arbeitet er für einige lausige Mücken. Kündigungsfristen oder gar -schutz gibt es nicht. Dafür Blut, Schweiß und Tränen. Und Bosse, die ihre Belegschaft als Arbeitssklaven verbraten. Chinaski arbeitet in Lagern oder fährt Sachen durch die Gegend, tut das, was keiner machen will - und das ist fast alles. Alles was anstrengend ist, stinkt, entwürdigt oder gefährlich ist. Er ist ein Allestuer, ein Faktotum. Unterbezahlt und desillusioniert.

Dieser Arbeitswelt der US-amerikanischen Vierzigerjahre gleicht sich unsere Zeit und unser Arbeitsmarkt immer mehr an. Man fliegt und kommt schnell wieder unter. Man wird gehiret und gefiret. Einen Scheißjob findet man immer wieder, es wird im unteren Segment des Arbeitsmarktes nur selten im Vorleben bei anderen Arbeitgebern geforscht. Bosse sind froh, wenn sie jemanden finden, die den Mist erledigen, den sonst keiner machen will. Heute fährt man Pakete aus und schleppt sie in den achten Stock, morgen schon zieht man sich ein Lagerregal hoch, um nach irgendwelchen Kunststoffblenden zu sehen.

Der schöne neue Arbeitsmarkt, der in den Niedriglohnsektor expandiert, ist nicht nur eine Sackgasse, sondern eine Reminiszenz an einen Arbeitsmarkt, der schon vor Jahrzehnten direkt in der Gosse seine Zelte aufschlug. So wie für Chinaski, gibt es heute für viele Menschen keine Kontinuität, ständige Umstellung, unstete Arbeitszeiten und häufige Arbeitsplatzwechsel. Auch sie werden geheuert und gefeuert, ja nach Laune - Kündigungsschutz gibt es im Niedriglohnsektor zwar auf dem Papier, nicht aber als tatsächliche Sicherheit.

Bukowski beschreibt in Faktotum eine Schicht urbaner Gelegenheitsarbeiter und Tagelöhner, Kulis und Hilfsarbeiter, die auf Grundlage fast schon feudaler Strukturen im Groß- und Kleinstadtdschungel ausgebeutet werden. Seit einigen Jahren kristallisiert sich auch in Europa und Deutschland eine solche Schicht ungesicherter und sprunghafter Menschen heraus. Sie sind das Opfer eine Ökonomie, die diese Masse an zu kurz gehaltenem Proletariat benötigt, um die Nachfragen der Mittel- und Oberschicht zu bedienen - um deren Kinder zu hüten, Straßen zu reinigen oder um für sie Verkaufsregale schnellstmöglich wieder aufzufüllen.

Faktotum kommt aus dem Lateinischen, bedeutet wortwörtlich Tu alles! und meint dabei ein Mädchen für alles. Jede Arbeit ist zumutbar schreibt jenes Konzept der Unterschichtverwaltung vor, die vulgo Hartz IV genannt wird. Die Unterschicht soll dazu verdammt sein, sich als Faktotum zu verdingen. Als Mädchen für alles und somit als Mädchen für nichts. Für die, die man in die Gosse des Arbeitsmarktes stoßen will, ist nicht jede Arbeit zumutbar, sondern so gut wie jede Zumutung nennt sich dort Arbeit. Niemand sonst würde tun, was Chinaski und der Unterschicht zugemutet wird.

Ob Bukowksi wohl an Fuck totum!, Fickt euch doch alle! gedacht hat, als er seinen Roman taufte? Unter dieser Losung firmiert der Gemeinsinn in einer Schicht, die keine pekuniäre Sicherheit, keine Planbarkeit kennt und halb rechtlos gehalten wird. Wieviel mehr sollte man dort unten auch von einer solchen Gesellschaft halten?


12 Kommentare:

Anonym 10. Juli 2013 um 09:04  

Als langjähriger Bukowski-Fan verweise ich in diesem Zusammenhang außerdem noch auf Post Office, dt. "Der Mann mit der Ledertasche", dessen Beschreibung des Arbeitsalltags von Bukowskis Alter Ego Hank Chinaski im U.S. Postdienst ebenfalls diverse Parallelen zu heutigen Gepflogenheiten erkennen lässt.

Außerdem an dieser Stelle ein großes Dankeschön für viele interessante Artikel und Analysen dieses Blogs, das seit mehreren Jahren zu meiner täglichen Lektüre gehört.

Herzliche Grüße
kikujiro

Sledgehammer 10. Juli 2013 um 09:06  

Charles Bukowskis Leben steht darüberhinaus auch für: "Des kleinen Mannes Sonnenschein ist bumsen und besoffen sein".

Dass er, der immer wieder wort- und bildgewaltig die Scheiße seiner gesellschaftlichen Randexistenz und die seiner Kumpane thematisiert hat, vom Feuilleton "okkupiert" wurde, hat aus meiner Sicht eine stark ironische Volte.

Wir, die wir uns in Deutschland mehrheitlich von den existenzbedrohenden Entwicklungen in Lateinamerika, Afrika oder auch Südeuropa noch meilenweit entfernt glauben - wo Terror, Unterdrückung und Niederschlagung von berechtigtem Aufruhr, Ressourcenraub, Ausbeutung von Arbeitskraft, Vertreibung und/oder Existenzvernichtung (von vielen inzwischen als Randnotiz wahrgenommen), von Regierungen, Welt-Organisationen, Banken und Spekulanten, sowie Konzernen in Komplizenschaft weitgehend ungehindert vorangetrieben werden - werden das Elend, das Bukowski und andere eindringlich und illusionslos beschrieben haben, schon bald für relevante Teile unserer eigenen Gesellschaft näherrücken sehen.


Anonym 10. Juli 2013 um 09:08  

... und ich dachte immer, Jede Arbeit ist zumutbar... so heißt es doch seit Schröder und Co

Ich bin mal gespannt auf Joe Bageant, Auf Rehwildjagd mit Jesus, Meldungen aus dem amerikanischen Klassenkampf !

Stephan Ochsenfurt 10. Juli 2013 um 11:29  

+1000 für diesen Beitrag

habe beide Bücher etwa 2008 glaube ich gekauft und seitdem mehrmals gelesen :P
also damals und letzten Monat erst erneut..Charles BukowSki war eben noch ein echtes, unverbogenes Kind seiner Zeit - ein Original.

neben Hunter S. Thompson sicherlich eine der emanzipiersten Lektüren um bohemian-like zu sagen: Ihr könnt mich da draussen alle mal kreuzweise - in eurem gehirngewaschenen, das Menschsein verneinenden Wasteland..!

Anonym 10. Juli 2013 um 11:49  

Wieder eine hervorragende Analyse und gleichzeitig eine schöne Buchempfehlung.

Zitat: "Seit einigen Jahren kristallisiert sich auch in Europa und Deutschland eine solche Schicht ungesicherter und sprunghafter Menschen heraus. Sie sind das Opfer eine Ökonomie, die diese Masse an zu kurz gehaltenem Proletariat benötigt, um die Nachfragen der Mittel- und Oberschicht zu bedienen - um deren Kinder zu hüten, Straßen zu reinigen oder um für sie Verkaufsregale schnellstmöglich wieder aufzufüllen."

Entgegen aller propagandistischen Behauptungen zum "Fordern und Fördern" war genau die Etablierung einer solchen Schicht das Ziel der Hartz-Gesetze sowie der Agenda 2010. Implizit wurde das zuweilen durchaus zugegeben, aber meinem Eindruck nach erreichte die Unredlichkeit der Politik durch die Einführung von Gesetzen, deren behaupteter Zweck sich derart offensichtlich von ihrem tatsächlichen unterschied, eine neue Qualität.

Ja, es wurde gezielt eine neue Schicht "working poor" produziert, über die man ebenso schnell verfügen wie sie wieder loswerden kann. Entgegen aller Lippenbekenntnisse zur "Bildungsrepublik Deutschland" sind Möglichkeiten, aus dieser Gruppe wieder aufzusteigen, auch gar nicht erwünscht. Wer einmal aus dem System gefallen ist, erhält normalerweise keine Chance mehr, den miesen Jobs im Niedriglohnbereich zu entkommen, da wirklich nützliche Weiterbildungen oder gar Neuorientierungen meist nicht mit dem Bezug von Sozialleistungen vereinbar sind. Diese "Sackgasse" ist gezielt als solche intendiert, damit der 'Pool' an unverzüglich disponiblen Billigarbeitern auch groß genug ist.

Anonym 10. Juli 2013 um 15:06  

Das Buch von Ch. Bukowski kenne ich noch nicht. - Doch eins habe ich über dieses traurige Thema vor ca. 2 J. gelesen.... da war ich schon genug schockiert: "Arbeit poor", Barbara Ehrenreich

Anonym 10. Juli 2013 um 15:40  

danke für den Artikel...

Meine Erfahrungen, sowohl in der realen Arbeitswelt als auch mit Menschen, mit denen ich jetzt über dieses Thema sprechen möchte, sind mehr als traurig. Sowohl Menschen, die sehr gut situiert sind als auch "Hartz IV Empfängern" (bitte nicht abwertend sehen) ist meine Erfahrung dahingehend.... sie wollen mit diesem Thema nichts zu tun haben.....leider.... tja, da bleibt mir nur eins...Klappe halten...

Anonym 10. Juli 2013 um 16:07  

"Niemand sonst würde tun, was Chinaski und der Unterschicht zugemutet wird."

Einspruch. Irgend jemand muß nun mal den Müll wegräumen, die Drecksarbeit mnachen.

Es ist nicht das Problem das es niemand (gerne) machen will. Das Problem liegt in der (gesellschaftlichen) Wertung/Anerkennung dieser Jobs, die genug Menschen - sogar gerne - machen würden, wenn nicht die sonst immer angebeteten "Regeln des Marktes" mittels terroristischen Mitteln außer Kraft gesetzt würden.

Nach Regeln eines freien Marktes, müssten diese unzumutbaren Jobs nämlich wesentlich höher vergütet werden, als jeder Managerposten.

Es gibt viel mehr Möchtergern-Manager, als Posten zu besetzen sind. Wobei man davon ausgehen kann, daß die aktuellen Postenbesetzer nach dem Peter Prinzip (aufgestiegen bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit / Nieten in Nadelstreifen) besetzt sind. Es gibt also einen deutlichen Angebotsüberhang - wahrscheinlich wesentlich fähigerer Manager - der zu sinkenden Gehältern führen müßte.

Diametral bei den Drecksjobs, die selbst mittels Terror nur unzureichend besetzt werden können, da eben hier ein deutlicher Nachfrageüberhang vorhanden ist, den man nicht mittels Marktregeln - in dem Fall exorbitante Erhöhung der Gehälter - auszugleichen bereit ist.

Um den Abgebotsüberhang auszugleichen, schuf man eigens die Terrororganisation der Argen. Terrororganisation? Du denkst das sei ein bißchen dick aufgetragen?
Nicht wenn man der Definition Terror aus der Wikipedia folgt.

"Der Terror (lat. terror „Schrecken“) ist die systematische und oftmals willkürlich erscheinende Verbreitung von Angst und Schrecken durch ausgeübte oder angedrohte Gewalt, um Menschen gefügig zu machen. Das Ausüben von Terror zur Erreichung politischer, wirtschaftlicher oder religiöser Ziele nennt man Terrorismus.
Terror war ursprünglich bei den alten Vordenkern des Liberalismus eine dem Staat zugeschriebene legitime Aktion."
https://de.wikipedia.org/wiki/Terror

Peter Prinzip

https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Prinzip

Der Souverän

Hartmut B. 10. Juli 2013 um 17:28  

Ja, der Souverän hat vollkommen Recht: Anfang der 70er war das "Peter Prinzip" eines meiner Lieblingsbücher. Und es ist in der Tat so geblieben, wie dort beschrieben: "Jeder wird bis zur Stufe seiner Unfähigkeit befördert."

Den großen Knackpunkt zu heute sehe ich darin, daß vor gut 40 J. Menschen noch die Chance zum Aufstieg hatten und zwar durch Leistung.
Heute geht das nur noch über Vitamin B (BEZIEHUNGEN)

Art Vanderley 10. Juli 2013 um 20:41  

Guter Artikel.

Ecoli 11. Juli 2013 um 01:23  

Dem kann ich nur zustimmen !!!

flavo 11. Juli 2013 um 16:54  

Man solle die Jugend hierbei nicht vergessen. Sie kennt immer öfter nur dies. In der Tat ist der herrschende Gedanke darin äußerst erfolgreich, die Jugend sich affin zu machen. Man beachte nur die EU-Handlungen zur Jugendarbeitslosigkeit: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes.
Unfähig zur Kollektivität und eingekreist in die Welten der eigenen Stärke und Strebungskraft samt Abstoßungskraft und Beweiswillen, legt sich dieses Alter unversehens weich in die neoliberalen Hände der devastierten Sozialität und eingekapsalten Egoität in einem Marktmeer der völligen Unüberschaubarkeit und bloß fragilen Lebensukzession. In diesem Schein lebt es sich wie ein Wolf, tagelang suchen, um zu finden, herumwandern, um zu suchen, suchen, um zu ergattern, warten und wittern. Völlig bar einer zur Stabilität geronnenen Weltgestaltung auf Basis menschlicher Handlungsgestaltung. In der Kurzsichtigkeit des eigenen Lebensradius vor opaken Dynamiken aus Wettbewerb, groben Hierarchien und intensiven Konsumshots sich befinden.
Für Schöngeistigkeit und Großherzigkeit fehlt die soziale Umwelt. Ältere Generationen hatten in der Tat die Gelegenheit, eine meliorisierende Ausgestaltung der Regulierung menschlicher Nöte mitgehen zu können und darin mehr Raum zu erhalten für nicht notrelative Akte. Aber sie verspielt all dies hilflos.
So fällt menschliche Soziabilität wieder zurück auf einfache, von der Natur ererbte Formen zurück: Die neoliberale Soziabilität ist Degradation dieser Humankompetenz.

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